Nr. 238. 23. ZahrMg. l. KkilNt ixs Lmiirts" lerlinn öollioliliitt. gitn.»)«!!, 8 UovmbttlM. ein Volksurteil gegen den Präiidenten des funkerparlaments. Herr v. K r ö ch e r hat dem Genossen Adolf Hoffmann , als er gegen die Forderung auf Erhöbung der Gehälter der Geist- lichen sprach, das Wort entzogen und die Mehrheit des Dreiklassen- Hauses hat die Mundtotmachung eines sozialdemokratischen Abgeord- ueten gutgeheißen. Am Sonntag trat Genosse H o ff m a n n vor ein anderes Forum. Das Volk, die Wähler, die Anhänger der stärksten Partei Preußens waren es, die zu Tausenden über der Vergewaltigung der Rede- freiheit im preußischen Abgeordnetenhause zu Gericht saßen und unter brausenden Beifallsstürmen die Rede HoffmannS anhörten, deren Beendigung Herr v. Kröcher am Freitag gewaltsam ab- geschnitten hatte. Natürlich war auch— wie das bei unseren großen Protest- Versammlungen zur Gewohnheit geworden ist— die Polizei wieder in außergewöhnlich großer Zahl zur Stelle. Rings um den Feenpalast in der Burgstraße waren nicht nur öffentliche Gebäude, sondern selbst Privathäuser mit starken Schuymannsabteilungen zu Fuß und zu Pferde belegt und auf der Straße wimmelte es von Schußlcuten, rad- fahrenden Polizeiordonnanzen und zahlreichen Polizeioffizieren. Be- reils eine Stunde vor Beginn der Versammlung war der Saal mit den Galerien durch Tausende von Frauen und Männern besetzt. Die Polizei sperrte das Lokal und die St. Wolfgangstraße ab. Taufende kamen nach, die keinen Einlaß mehr fanden und sich meist nach kurzem Aufenthalt in den angrenzenden Straßen wieder entfernten. Als Genosse Hoffmann den Saal betrat, empfing ihn stürmischer Applaus. Eine spontane Kundgebung der Massen gegen die Vergeiualtigung der Rede im preußischen Dreiklassenparlament. Genosse Eugen Ernst eröffnete die Versammlung mit einem Hinweis auf die Ursache und den Zweck derselben. Dann nahm Adolf Hoffmann , wieder von brausendem Beifall begrüßt, das Wort. Hindeutend auf diese gewaltige Protestkundgebung sagte er, wenn Herr v. Kröcher und seine Helfershelfer diesen Erfolg ihrer Gewalttat hätten voraus- sehen löitnen, sie hätten es jedenfalls unterlassen, das freie Wort zu verbieten. Hier, an dieser Stelle, wird das, was ich zu sagen habe, aus einen weit fruchtbareren Boden fallen, wie im preußischen Abgeordnetenhause. Mit großen Hoffnungen— sagte der Redner— sei er nicht ins Abgeordnetenhaus eingezogen, eine rücksichtsvolle Be- Handlung habe er nicht erwartet an jener Stelle, auf die das Wort L e f s i n g ö paßt: „Gerecktigkeit. wie kamst Du hier zu stehn? Haben Dich die Herrn des Hauses schon gesehn?— D ja— Sie haben mich übersehn!" Im Junkerparlament gibt es keine Gerechtigkeit gegenüber den Sozialdemokraten. Obgleich im Seniorenkonvent Vereinbarung über die gleichmäßige Behandlung aller Parteien in Reihenfolge der Redner getroffen waren, kam Genosse L e i n e r t beim Lehrer- besoldungsgesetz nicht mehr zum Wort und als Hoffmann selbst am Freitag zum Wort gemeldet war, wurde es ihm von Anfang an klar, daß man ihn, den.Zehn-Gebote-Hoffmann", nicht hören wollte. Es ist ja dann auch bekauutlich dafür gesorgt worden, daß er feine Rede iücht beenden konnte. Was man im Junkerparlament zu sagen ihn hinderte, das führte Genosse H o i f m a n n vor dem Volke aus. Zunächst zeigte er, daß ihn der Präsident v. K r ö ch e r ohne sachliche Gründe und in völlig unberechtigter Weise zur Ordnung gerufen hatte, denn was er zu der neuen Forderung von 1111/« Millionen zur Aufbesserung der Gehälter der Geistlichen ausführte, gehörte ohne Zweifel zur Sache. Durchaus berechtigt sei sein Vorschlag geweien, den Geist- lichen mit Hoheit Gehältern ihr Einkommen entsprechend zu kürzen kleines feuilleton. Wie schnell kann man lesen? Die komplizierten phhfiologischen and psychologischen Vorgänge beim Lesen, die durch wichtige Experimente und durch eine reiche Literatur in den letzten Jahren aufgehellt worden sind, werden in der.Deutschen Revue"(Deutsche Berlagsanstalt, Stuttgart ) vom Professor Laqueur zusammenfassend dargestellt. Beim Leieakt muß vor allem die ungeheure Gcschwindig- kett auffallen, mit der ein geübter Leier Zeile auf Zeile überfliegt. In einer Minute werden bequem 500, ja sogar 800 Wörter, oder sechzig Zeilen von mittlerer Länge gelesen. Dabei kommt auf den einzelnen Buchstaben nur eine Zeit von 0.03 Sekunden und bei dem sehr schnellen Leser sogar nur von 0,02 Sekunden. Offenbar reicht ein solch kleines Zeltteilchen nicht hur, um die Forni eines Buchstabens genau zu erkennen. Es handelt sich also bei dem ge- wöhnlichen raschen Leset» nicht um ein deutliches Sehen, sondern teilweise um ein Erraten oder Erkennen nach gewissen einfachen Merkmalen. Bei solch schnellem Lesen ist nun eine nicht nur ge- nügende, sondern im Ueberfluß vorhandene Sehschärfe vonnöten. Wenn wir, wie gewöhnlich in der Entfernung von cindrittel Meter lesen, so muß unsere Sehschärfe so gut sein, daß wir die nämliche Schrift noch auf einen Meter Entfernung lesen könnten. W'' dürfen von unserer Sehschärfe eben nicht mehr als den dritten Test.erbrauchen, sonst würden wir zu schnell ermüden. Um die Buchstaben in solcher Hast zu übersehen, bewegt sich unsere Gesichtslinie nicht in gleichmäßiger Geschwindigkeit über die Zeile hin, sondern die Bewegung der Augen geht in ruckweisen Stößen bor sich, zwischen denen Ruhepausen stattfinden. Die Stöße und die Ruhepausen wechseln regelniäßig miteinander ab, doch ist die Zeitdauer der Ruhepausen viel größer als die der Stoßbewegungen. Je langsamer man lieft. desto größer sind die Ruhepausen; sie sind beim gewöhnlichen schnellen Lesen zwölf bis zwanzig Mal so lang wie die Stöße, beim lang- samen sorgfältigen Korrekturlesen hundert Mal. Diese sprunghafte» Bewegungen des AugeS werden sehr rasch ausgeführt� die einzelne Stoß- bewegung nimmt eine Zeitdauer von noch nicht ganz ein fünfzigstel Sekunde in Anspruch. Die Zahl der Augenbewegungen innerhalb einer Zeile hängt in erster Linie von der Zeilcnläuge, in zweiter Linie von der Jndivi- dualirät des Lesers ab, Die Entfernung der Schrift vom Auge ist dabei ohne Eiitfluß. Bei einer schmalen Zeile werden etwa drei Stöße gemacht! bei einer Zeilenlänge von 8,3 Zentimeter und 47 Buchstaben wurden fünf Ruhepausen, bei einer Länge von 12.2 Zentimeter und 63 Buchstaben sieben Ruhepausen verzeichnet. Man hat berechnet, daß in einer Zeit von Vjoo Sekunde mehrere Wörter zugleich ersaßt werden, ja sogar während liMa Sekunde ein siebenbuchslabiges Wort richtig zu lesen ist. Dabei kommt eS denn freilich auf die Forn» an. unter der sich das Wort darstellt. Theater. NeueS Schauspielhaus:„Julius Cäsar " von Shakespeare . Unlängst erst brachte daS Schillerlheater die gleiche Tragödie. Es ist lehrreich, Vergleiche zwischen den beiden Aufführungen aufzustellen. Dort wie hrer das Streben nach deko- raliver Wirkung. Dabei schlägt das Theater am Nollcndorfplatz daL Schillerlheater völlig aus der Reihe der Konkurrenten. Dort iiber- wältigende Raturähnlichleit mit Glanz und Kraft: hier hübsche deko- ralive Ansätze— aber doch nur gemalte Kulissenbilder. Dort das Drama fast ohne Striche; hier Streichung ganzer Zwischenszenen. Dort energische Detaillierung, die in der EntWickelung der voltlichen und davon den niedrig besoldeten Geistlichen Zulagen zu gewähren. Als Illustration hierzu sowie zu der Tatsache, daß die Geistlichen von den Vertretern der herrschenden Klasse doch nur als»hre Werk- zeuge betrachtet werden, verlas Hoffmann einen Brief, der ihm nach seiner abgeschnittenen Rede von katholischen Geistlichen ans eßicr katholischen Gegend Preußens zugegangen ist und der gleichzeitig zeigt, daß die Zentrumspartei , der eS doch am nächsten liegen sollte, für die katholische Geistlichkeit zu sorgen, deren materielle Interessen sehr schlecht vertritt. Der interessante Brief lautet: An die hochansehnliche Fraktion der sozialdemokrattschen Partei Berlin . Wenn die Unterzeichneten auch nicht auf dem Boden der sozialdemokratischen Partei stehen, glauben sie doch, mit Erfolg sich an die Partei wenden zu dürfen, welche sich stets der Reckst- loien und Unterdrückten angenommen hat. Zu diesen Rechtlosen gehört der katholische KleruS, den die Bitchöfe so gern den „niederen Klerus" nennen. Diese Rechtlosigkeit zeigt sich wieder bei der Besoldungsfrage. Mit Spannung sah man dem ersten Austreten des Zentrums entgegen, hieß es doch, daß die Bischöfe bereits hinter den Kulissen gearbeitet. Darauf erschien in der „Kölnischen Volkszeitung" eine Beschwichtigung, es wurde betont, daß das Zentrum eintreten würde. Und jetzt— versteckt sich das Zentrum hinter die Bischöfe. Die„politische" Zentrumspartei hat gebundene Marschroute, gebunden durch die Bischöfe. Wer glaubt da noch an die Lehre von der p o l i t i s ch e n Zentrums- Partei? Das Zenttum hat sich stets aufgespielt als die Partei, welche allen gerecht wird. Die Notlage des Klerus hat es anerkannt. Warum hilft eS jetzt nicht? Jetzt könnte es zeigen, daß eS eine politische Partei ist, wenn es trotz der Bischöfe uns helfen würde. Daß die Bischöfe keine bessere Besoldung des„niederen Klerus" wünschen, ist klar. Sie haben reichliche Pfründen, entsprechend ihrer Stellung als„Kircheufürsten", wie sie sich gegen den Geist des Evangeliums so gern nennen. Ein armer Klerus ist ge- fügiger. Außerdem würde eine Verbesserung desselben so viel beißen wie eine Gleichstellung, Ordnung. Dann fällt aber die Willkür fort. Jetzt hat man in den schlechtest besoldeten Stellen ein Mittel, um selbstdenkende Männer klein zu halten. Angesichts dieser Sachlage bitten die Unterzeichneten namens der Mehrzahl der Geistlichen— die meisten wagen nur zu denken, was wir sagen— die Aufmerksamkeit aller auf uns zu lenken und der ZentrumSpartci ihre Pflicht vorzuhalten, hier zu zeigen, daß es eine politische Partei ist. Die sozialdemokraiische Presse . bitten wir um gütige Aufnahme dieses Notschreies einer großen Klaffe von Rechtlosen im Namen der Humanität. Folgt Unterschrift. i Nachdem Genosse Hoffmann die bekannten Vorgänge im Ab- geordnetenhausewährendseinerNedeunddic unbegründeteWortenziehung treffend gekennzeichnet hatte, legte er unsere Stellung zur Kirche dar und zeigte, warum wir die Forderung erheben: Trennung der Kirche von, Staate und Befreiung der Schule aus den Fesseln der Kirche. — Wir wollen niemandem, der religiöse Bedürfnisse hat, dieselben entziehen, aber wir verlangen mit Recht, daß jeder selbst die Kosten für die Befriedigung seiner religiösen Bedürfnisse trägt. Wir sind entschieden dagegen, daß daS. was die Kirche ihren Gläubigen bietet, aus Staatsmitteln bezahlt werde, wozu doch auch diejenigen bei- tragen müffen, die mit der Kirche in keiner Beziehung stehen, von ihr nichts wissen wollen und auch keine Ansprüche an sie stellen. Aus diesem Grunde müßten wir natürlich im Abgeordnetenhause dagegen auftreten, daß der Kirche zu den 22 Millionen, die sie schon aus der Staatskasse erhält, noch weitere t2>/z Millionen bewilligt werden Unr das zu begründen, mußte selbstverständlich auf die Stellung der Kirche im Staatswesen und ihre Einwirkung auf daS Volk gesprochen werden. Aber das wollte mau im Dreiklassenparlament nicht hören. — Anstatt aus den Mitteln der Steuerzahler denen die Gehälter zu erhöhen, die uns lehren, daß wir nicht Schätze sammeln sollen, die der Rost frißt, sollte man die Gehälter der Lehrer, der kleinen Beamten Straßenbilder AltromS eine staunenswerte naturalistische Turbulenz auf die Beine bringt; hier in guten Anläufen steckengebliebene Regiekunst nach älterem konservativem Zuschnitt. Doch nun die Darstellung! Da hapert der Vergleich schon ein wenig. Denken wir uns nun mal an Stelle des malerischen Bühnenbildes die primitive dekorative Ausstattung früherer, noch hinter der Meiningerzeit zurückliegender Jahre— ob denn damals schlechter gespielt wurde? Ob nicht doch mehr Konzenttation in den Einzelleistungeu zu finden war als heute? Trotz aller realistischen Fechterstückchen der Geste und Sprache kollert doch der alte Jamben- trab hinein. Trotz Verwertung von Drehbühne nebst allen erdenk- lichen Errungenschaften modernster Bühnentechnik die Beibehaltung steriler Theaterei. Adolf K l e i n S Cäsar erschien mir etwas verschwommen, ob- gleich auch Max Pategg nicht recht über den Theaterdonner hinaus- kam. Römerium:— wo blieb eS? War es etwa in Calpurnia lGertrud Arnold) oder in der Portia(Charlotte Maren)? ?5ii keiner von beiden. Aber wie gesagt: Das Drama erlebt seine ehenswürdige Wiedergeburt als Dekorationödrama allermodernsten Stils. Shakespeare würde große Augen machen. e. k. Kleines Theater.„Musik", Sittengemälde in vier Bildern von Frank Wedekind . Das Unvermögen Wedekinds zum Aufbau einer dramattsch gegliederten Handlung, einer anschau- lichen und intim nüancierendcn Charakteristik ist nichts Neues. Seine Anhänger pflegten zu behaupten, daß das gar kein wirklicher Mangel, sondern ein notwendiges Moment seiner spezifisch neuartigen, üver den bloßen„Naturalismus" hinausstrebenden Begabung sei. Freilich wären seine Gestalten keine Individualitäten, freilich schlössen sich die Situattonen bei ihm zu keineni fest verbundenen Ganzen zu- sammen. indessen eben darin, in dieser Annäherung an» Marionetleiihafte. Primitive offenbare sich zugleich die Tiefe seines Blickes, der Menschen und Dinge so zu sagen in einer Art genialischer Verkürzung schaue. Was dem Un- kundigen ein Stolpern scheine, das sei vielmehr ein stolzer Höhen flug. So wurden zum Teil auch noch die schlechtesten Produktionen des Dichters, dem früher einmal in„Frühlings Erwachen " gewiß ein kühner Wurf gelungen war, wurden Dürftigkeiten, wie„Marquis Keith" und„Hidalla" zu höchst bedeutungsvollen geistigen Mani- festationen aufgebügelt. Der potenzierten Armut dieses neuesten Er- zeugniffes gegenüber dürfte doch wohl der Mut zu einem solchen Unternehmen versagen. ES ist da keine Spur einer„Idee", einer„Lebensauffassung", an welche Auslegungen anknüpfen könnten; derf Dialog, der niemals besonders farbigen Reichtum zeigte, zerfließt hier vollends ins breiig Breite; seine Monotonie wird auch kaum noch durch parodoxe Ausfälle Wedekindscher Signattir durchbrochen. Das wenige, was sich in dieser Hinsicht findet, ist matte Kopie aus seinen früheren Werken. Das Stück, heißt es, sei gegen eine bcsiiminte Münchcner Per- sünlichkeit gerichtet. Davon abgesehen, wird man nach einem Zwecke, einer Aufgabe, die sich der Autor stellte, vergebens suchen. Der Titel bringt aus die Vermutung, Wedckiild habe irgend welche Wirkungen der Musik: seelischeZuständc, diesieerzengtoder begünstigt, meiner Hand- lung, einem szenischen Gefüge widerspiegeln wollen. Aber in Wahrheit denkt er gar nicht daran, in dem von ihm geschilderten Schicksal einer verführten Musikschülerin Beziehungen zu Phaittasiereizeii und Stimmungen, die jener Kunst ciitstammen. aufzuzeigen. Das Draina heißt„Musik", ganz einfach, weil der schuftige Verführer, der ge- brandinarlr werden soll. ein Musiker und die Verführte seine Schülerin ist. Ebensowenig lonunr dabei heraus, wenn man das Werk als Tendenzstück betrachtet, das sich gegen den die Abtreibung bestrafen- den Paragraphen des Gesetzbuches wenden will. Auch dazu wäre immer- tmd vor allem der in staatlichen Betrieben beschäftigten Arbeiter auf- bessern. Solange die Schule von der Kirche beherrscht ist, werden unsere Kinder in Muckerei und sklavischer Unterwürfigkeit gegenüber hiinm- tischen und irdischen Autoritäten erzogen. Die Befreiung der Schule aus dem Banne der Kirche ist die Loraussetzung für die Erziehung eines unabhängigen, denkenden Geschlechts. Im künftigen Wettstreit der Nationen werden nicht diejenigen den Borrang gewinnen, welche über die besten Kanonen verfügen, sondern daS intelligenteste, das denkendste, das gebildetste Volk wird an der Spitze der Kultur marschieren. Wenn wir Gegner der Kirche sind, so sind wir es deshalb, weil sie eine Institution ist, die sich in den Dienst der Herrschenden stellt und in deren Interesse die Unterdrückung und Ausbeutung des Volkes begünstigt. Nicht gegen die Religion wenden wir uns. Wer aufrichtig fromm und religiös ist. der mag eS unferetwegen bleiben. Aber die Kirche ist nicht die Stätte, wo wahre Religiosität gepflegt ivird, sie ist nicht der Ort, wo man den Geist deS Stifters der christliche» Religion verbreitet. Die Lehren des Nazareners, von denen sich die Kirche weit entfernt hat, sind de» Armen und Unterdrückten sympathisch und wenden sicki gegen die Reichen und Mächtigen.— Ter Redner belegte diese Ansicht durch eine Fülle von Zitaten anS der Bibel, meist aus einem der sogenannten apokryphiscben Bücher, die in den allgemein verbreiteten BibelauSgaben schon lange nicht mehr zu finden sind. Ii» dem Sinne ivcchren Christentums und aufrichtiger Frömmigkeit dürfen die Geistlichen der Landeskirche natürlich nicht lehren, denn sonst würde der Staat sich hüte», zu ihrer Erhaltung auch nur einen Pfennig bcizuttagen. Von diesen Dingen will auch die Mehrheit des Juiikerparlaments nichts hören, aber sie wird es doch noch zu hören bekommen. Wie einst im Reichstage, als uiisere Zahl noch klein war, so werden wir jetzt im Dreiklasscnparlament be- handelt. Die Herren glauben, wenn sie bei unseren Reden lachen, dann haben sie uns lmdcrlegt. Sie vergessen aber, daß man, wie ein alles Sprichwort sagt, am vielen Lachen den Narren erkennt. Wer so handelt wie unsere Gegner, der verkennt die Kraft der Sozialdemokratie, die nicht aus den paar Abgeordneten beruht, sonder» auf den Massen, die hinter, neben und mit ihnen stehen. Wenn tna» unsere Reden im Abgeordnelenhause nicht hören will, dann appelliere» wir an ein höheres Parlament, an das Volk, und wie wir heute sehen, hat dieser Appell Erfolg. Wer der Kirche innerlich nicht mehr angehört, der soll auch äußerlich mit ihr brechen. Wenn sich erst die Mehrheit des Volkes von der Kirche abgewandt hat, dann zahlt der Staat für sie nichts mehr, weil es für ihn keinen Zweck mehr hat.— Am Schluß feiner Rede, die oft von stürmischem Beifall unterbrochen wurde, forderte Hoffmann zur Stärkung der sozialdemokratischen Organisationen und zur weiteren Verbreitung der sozialdemokratischen Presse auf. Wenn die Massen des Volkes hinter ihren Vertretern stehen, wird eS gelingen, die Macht des Junkertums und des Kapitalismus zu brechen. Zur Diskussion meldete sich ein chxistlich-sozialer Agitator Kluge. Genosse Ernst bezeichnete ihn als einen Mann, der bei unseren Wahlrechtsdemonstrationen auffallend provozierende Reden gehalten har, weshalb ina» annehmen könne,' daß er hier mit der gleichen Absicht hergekommen sei. Trotzdem solle er das Wort haben, damit er nicht sagen könne, man habe ihn hier nicht hören wollen. Die Annahme des Genossen Ernst wurde sogleich durch das Auftreten des Herrn Kluge bestätigt. Zur Sache selbst hatte Kluge nichts weiter zu sagen, alS daß er— was bei einem Jünger Stöckers selbstverständlich ist— mit dem Vorgehen des Herrn von Kröcher gegen Hoffmann einverstanden ist. Im übrigen erregte Herr Kluge die Versammlung durch allerlei nicht zur Sache gehörige Tiraden. Als er gar anfangen wollte, Geschichten aus dem Leben seines Urgroßvaters zu erzählest, gab ihn, die Versammlung unzwei» deutig zu verstehen, daß sie dafür kein Interesse habe. Herr Kluge hatte damit erreicht, das er augenscheinlich beabsichtigte, denn nun konnte er abttetcn mit der Bemerkung:„DaS ist ja hier ebenso wie hin dramatische Konzentration notwendig. Die Szenen hätten dann ein starkes menschliches Interesse für das unglückliche Mädchen wecken, hätten die Einkerkerung als die entscheidende Sckncksalswcndung, welche die Rückkehr in geordnete Verhältnisse unmöglich macht, dar- stellen und die sozialen Hintergründe mindestens andeutungswcis beleuchten müssen. Zu alledem sind auch nicht einmal Ansätze vor- Händen. Das Fräulein Klara Hühnerwadel bleibt ebenso gleich-' gültig, als unsympathisch, sie geht nicht durch die Gefängnisstrafe, die ihr ans dem Gnadenwege ja größtenteils erlassen wird, sondern durch den unverantwortlichen Leichtsinn, mit de«» sie kaum entlaffen daS Verhältnis zu ihrem widerlich gecken- basten, verheirateten Verführer wciterspinnt, zu Grunde, man kann nur immer wieder über sie die Achseln zucken. Von einem Ausblick auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge, auf ein Milieu, das hinter dem Einzelfalle stehend, ihm typische Be- deutung aufdrückt, ist erst recht nicht die Rede. Als diese Heldin sich von dem Gatten ihrer Freundin— derselben, deren unermüdlicher Betriebsamkeit sie die Begnadigung verdankt— zum zweitenmal Mutter fühlt, scheint sie die Lumpenhaftigkeit deS Mannes wie ihre eigene endgültig einzuscheit. Sie will fortan nur ihrem Kinde leben! Grund genug dafür, daß das arme Würmchen im letzten Akte stirbt, damit die Mutter aus Verzweiflung wahnsinnig werde» kann. Noch etwas dümmer als die Lumpen verhalten sich die anständigen Leute in dem Stücke, Frau Else, die Freundin Klaras und der Literat Franz Lindckuh, eine zweite Auf- läge des idiotischen Moralfcxcn anS dem Marquis Keith, der entsprechend angelogei- wird. Trotz alledem gab es energischen Appcans. Klein- Rhoden als Musiklehrer. Ziegel als Lindekuh, Max Marx in der Episodenfigur eines Arzte«, legten sich für ihre nndankbaren Rollen opferfreudig ins Zeug. Sehr gut, so weit eS die verschwommene Unbestimmtheit der Wcdelindschen Umrißzeichnung zuließ, war daS neue Mitglied Fräulein S o m a r y in der Gestalt der Klara, ät. Notizen. — HeijermanS Einakter„Brandstifter" wurde in Köln , wo am Residenz-Theater die Erstauffllhning erfolgen sollte, von der Zensur verboten. Grund: Der Zensor hatte das Stück, das vor etwa drei Monaten bei ihm eingereicht war. noch nicht gelesen. — In Wien ist dieser Tage ein neues nach Johann Strauß benanntes Operettentheater eröffnet worden. Ein Ehorwalzer dieses Komponisten und eine vor längerer Zeit neu bearbeitete Operette„Indigo" wurden als Premiere gegeben. — Die größte Kasseneinnahme, die die Pariser r o ß e Oper jemals zu verzeichnen gehabt hat, wurde kürzlich mit Richard Wagners„Göttcrdäminerung" erzielt. Die Einnahme betrug 23 146 Fr. — Hans Tboina tvird demnächst unter dem Titel„Im Herbste des Lebens" im Vertag der„Süddeutschen Monats- beste" em Buch herausgeben, das Aufsätze, Sieden und bisher Un- gedrucktes von ihm enthalten wird. — Die Kunst bei den Buschmännern. Die oft so merkwürdig entwickelte Stunft bei Völkern auf niedriger Kulturstufe erregt in zunehmendem Maße die Aufmerksamkeit der Forscher. Neuerdings hat die Regierung der Oraiffe-River-Kolonie den Elhno- logen L. T. Johnson ans Johannesburg beauftragt. Bildhauer- arbeiten und Malereien im Gebiete dieser Kolonie, die von Busch- männern herrühren, zu untersuchen und einen eingehenden Bericht über das Resultat seiner Forschungen vorzulegen.
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