Nr. 3. 26. AahrMg.z. Srillize des Lmälls" Kcrlim WksdlMWenstag, Z. Januar 1909.Me Üriie in der hollsnMhen Partei.Von einem holländischen Parteigenossen wird unS geschrieben:In der holländischen Partei baden sich die Gegensätze in derletzten Zeit scharf zugespitzt. Nachdem auf den Kongressen IMäund 1907 die Revisionisten völlig die Oberhand gewonnen hatten,wurde vor gut einem Jahre von einer Gruppe jüngerer Marxistenbegonnen, ein Wochenblatt,„De Tribüne", herauszugeben, da-, sichdie prinzipielle sozialistische Aufklärung der Arbeiter als Zielsetzte. Diese Aufklärung wurde vom Zentralorgan der Partei, dasganz revisionistisch redigiert wird, vernachlässigt. Die Arbeit der„Tribüne" bestand natürlich nicht in abstrakt-theoretischen AbHand-lungen, sondern in der Behandlung der Tagesfragen, wobei ge°legentlich scharfe Kritik an verschiedenen Auswüchsen d-'s Revisio-nismus in Partei- und Gewerkschaftsbewegung geübt werdenmutzte. Auf dem letzten Lsterkongretz 1908 hat dies zu verschiedenenDebatten Anlatz gegeben, doch ging die revisionistische Mehrheit nichtso weit, durch scharfe Maßnahmen die revisionistische Kritik nieder-zuschlagen.Jetzt hat sich da» geändert, seitdem die„Tribüne" bei der-schiedenen Anlässen die Haltung der ParlamcntSfraktion kritisierthat. Die Parlamcntsfraktion steht in Holland ganz auf revisio-nistischem Boden und hat in ihrer Haltung zu den verschiedenstenAngelegenheiten den prinzipiell sozialistischen Standpunkt vermissenlassen. Bei feiner Interpellation über die Krise und die Arbeits-losigkeit z. B. ließ der Führer der Fraktion, Genosse Troclstra, denwissenschaftlichen Sozialismus fallen; der Sozialismus sei, wennnicht sicher, doch wenigstens möglich, führte er aus; und die Frage,ob die Krisen unter dem Kapitalismus periodisch wiederkehren undschlimmer werden, sei für uns nicht entscheidend. Bei einer anderenGelegenheit verneinte derselbe Arbeiterführer das Streikrccht fürStaatsbeamte. AIS ein konservativer Politiker die in einer vomGenossen Gorter geschriebenen Broschüre auseinandergesetztehistorisch-materialistische Auffassung der Ethik angriff— natürlich,indem er die Auffassung, daß cS im Klassenkampf nur eine Klaffenethi!gibt, dahin verdrehte, als empfehlen wir den Arbeitern Treu-losigkeit und UnWahrhaftigkeit— sagte Troclstra sich vomhistorischen Materialismus los und stellte sich auf den Boden derbürgerlichen Moral. Anstatt die Fälschung des Gegners festzunageln und nachzuweisen, datz wir nur eine historische Tatsache feststellen, wenn wir sagen, datz dem Feinde gegenüber im Klassen-kämpf die Gebote der Moral nicht gelten, schlug er sich auf dieSeite de» Gegners, nannte die Darlegungen seines Genossen eine„Karikatur des Marxismus" und versuchte mit einem Satz auSden Statuten der Internationale Mar£ gegen ihn auszuspielen,wobei ihm nur da» Unglück passierte, datz dieser Satz gar nicht vonMarx herrührte. Beim Kricgsetat hatte ein Parlamentsmitgliedmitgeteilt, datz er als Kommandant in einer wichigen militärischenStellung eine Mobilisationsordre erkalten und ausgeführt habegerade zu der Zeit, da Kaiser Wilhelm der Königin Wilhelminaeinen Brief geschrieben haben soll. Der damalige MinisterpräsidentKuypcr gab über die Sache sehr zweideutige Erklärungen ab. Eswar somit wahrscheinlich, daß die Konstitution verletzt worden war.Trotzdem versäumte die Fraktion durch eine Interpellation vollesLicht über die Affäre zu erzwingen.In diesen und mehreren ähnlichen Fällen stellte sich das Be-streben der Fraktion heraus, sich nicht in unversöhnlichen Gegensatzzu dem Bürgertum zu stellen; den großen und prinzipiellen AuS-einandcrsetzungen mit der Bourgeoisie wurde ausgewichen. Datzhier eine Kritik, mitunter eine scharfe Kritik durch die„Tribüne"sehr am Platze war, versteht sich.Der Streit brach dann los, als der Vorstand der RotterdamerPartciabteilung in einer öffentlichen Versammlung, in derTroclstra reden sollte, den Verkauf der„Tribüne" verbot. InHolland gilt in allen sozialistischen Versammlungen stets unbe-schränkte Kolportagefreiheit; alle Richtungen, Anarchisten so gutwie Klerikale, bieten den BersammlungSbesiichern ihre Zeitungenund Broschüren feil; und von unserer Seite wurde die Obskuranten-taktik der Klerikalen und Liberalen, die in ihren Versammlungendie Kolportage sozialistischer Schriften verbieten, i innrer blutigverhöhnt. Danach läßt sich der Charakter der Maßnahme ermessen,den Verkauf eines sozialistischen Blattes in einer sozialdemo-kratischcn Versammlung zu verbieten, bloß weil darin die HaltungTroelstras in der Ärisendcüatte kritissert wurde! AIS Beispiel derrevisionistischen Toleranz, des Respekts bor der Meinungsfreiheitanderer, wo die Revisionisten die Mehrheit besitzen, ist dieser Falläußerst lehrreich.DaS Verbot entfesselte einen, erbitterten Kampf, wobei auchvon den empörten„Tribüne"-Rcdakteuren in allzu heftigen per-fönlichen Angriffen über die Schnur gehauen wurde. Diese An-griffe boten einen gierig aufgegriffenen Vorwand, ein Ausschluß-verfahren gegen die drei Redakteure Wynkoop, Eeton und vanNavesteyn einzuleiten, um so die unbequemen Kritiker loszu-werden. Der Parteiborstand, der in der Mehrheit aus Revisionistenbesteht, nahm zuerst die Sache in die Hand und beriet darüber, obein außerordentlicher Partcikongretz zum Zwecke des Ausschlussesder drei einberufen werden sollte. Die Redakteure der„Tribünne"gaben dann nach einigem Verhandeln die Erklärung ab, datz sie sichweiterhin, namentlich zur Zeit der nächsten Wahlen— die imSommer 1909 stattfinden werden— der Angriffe auf Partei-organe und Parteigenossen enthalten würden, in der Hoffnung,datz ihnen gegenüber ähnlich verfahren wird, und sie erläutertendiese Erklärung dann in einem zweiten Schreiben dahin, datz siesich das Recht der Propaganda ihrer Ansichten nicht nehmen ließen,persönliche Angriffe aber vermeiden würden. Nach dieser Er-klärung beschloß dqr Parteivorstand in seiner Sitzung vom 19. De-geinber, von der Einberufung eines besonderen Kongresses Abstandzu nehmen.Damit war aber die Fraktion nicht zufrieden. Sie zog gegenden Parteivorstand los mit dem Hinweis darauf, datz jetzt dasHebel ausgeschnitten werden müsse, bevor es weiter um sich fresse.Die beiden Vertreter der Fraktion im Parteivorstand, Schaper undHelSdingen, reichten ihre Entlassung ein, da sie für die„schlaffe"Haltung d«S Partcivorstandcs kein« Verantwortung tragen wollten.Dieser hat jetzt den Beschlutz gefaßt, die Frage, ob ein Kongreßeinberufen werden soll, dem Referendum(Abstimmung durch dieParteimitglieder) zu überlasten.Ter Ausgang dieser Aktion wird einen interessanten Beitragdazu liefer», wie die Revisionisten, die in Deutschland immer überdie bedrohte Meinungsfreiheit schreien, dort, wo sie die Mehrheithaben, die Toleranz den Genossen gegenüber verstehen, die füreinen prinzipiellen, klassenbewußten, sozialistischen Kampf desProletariats eintreten.l Haarscharf weiß ein Richter gut und böse zu scheiden. Denner hat viele Semester lang vom Baume der Erkenntnis gegessen,und es ist ihm gut bekommen. Stiehlt einer, so sagt der Richter:Dieser ist ein Dieb. Bettelt einer: Dieser ist ein Bettler. Töteteiner: Dieser ist ein Mörder. Der Mörder gehört aufs Schafott.der Dieb ins Zuchthaus, der Bettler ins Gefängnis. Halt— insGefängnis? Mit nichten: eine Haftstrafe, keine Gefängnisstrafebekommt er.Es ist ja alle» so einfach. Man wägt und mißt die Hand-lungen dar Menschen wie der Krämer ein Pfund Wurst oder eineElle Tuch. Mit gelassener Hand streut man zwischen zweitemFrühstück und Mittagessen ein paar Jahre Haft über einige DutzendMitmenschen aus. Wer darf sich da über jene Aerzte entrüsten,die eine Handvoll Menschen auseinanderschneiden und fröhlichenHerzens hinabsteigen zu ihrem Dämmerschoppen?»All diese Typen von Bettlern, Obdachlosen, Trinkern usw. er-regen ebensosehr das Mitleid des fühlenden Zuhörers, wie derRichter und fein Amtsanwalt psychologisches Interesse erwecken.Besonders der Richter glänzt fast bei jedem Falle durch eincharakteristisches Wort. Er spricht es, um den Vorgeführten damitzu kennzeichnen,— und kennzeichnet viel mehr sich selber. Erfiguriert hier als Typus des Richters, d. h. eines Mannes, dendie Mächtigen einsetzen, um die Schwachen schwach zu erhalten,unter der(meist selbst geglaubten) Vorspiegelung, das Interesseder Machthaber sei gleichbedeutend mit der Gerechtigkeit. DieseRichter sind die Flickschuster der Gesellschaft. Mit den zähen unddehnbaren Pechfäden der Gesetzesparagraphen glauben sie die un-heilbaren Risse und Löcher vernähen zu können. Durchdrungenvon der hohen Sittlichkeit und Nützlichkeit ihres Tuns, glauben sieein gutes und großes Werk zu tun, wenn sie einen hungerndenund frierenden Menschen„unschädlich" machen. Sie sind wieDurchschnittßärzte. Daß immer wieder die Krankheit, an der siehcrunrdoktern, an einer neuen Stelle hervorbricht, beirrt sie nicht.Und der Patient, der nicht leben und nicht sterben kann, zahlt un-crmüdlich das Honorar für diese ärztlichen Bemühungen. Bis derKadaver eines Tages ganz eingeht.Unrecht aber wäre es, den einzelnen Richter dafür berankwortlich zu machen, datz er nicht die sozialen Zusammenhänge derStraftat aufdeckt. Wie soll das ein Richter können, von dem 40,VO, 60, ja gar 100 Fälle an einem Tage abzuurteilen sind? EöKommt hinzu, daß die Gewohnheit hart und unempfindlich machtund daß doch er nicht in der Lage ist, an den sozialen Schädenbessernde Hand anzulegen. Eine wahre Justizrefvrm müßte alserstes Erfordernis auf die Aufdeckung des Zusammenhangs zwischender Straftat und den sozialen Verhältnissen hinarbeiten. Dennnur dann ist Heilung der Schäden möglich. Das Strafgesetz unddie Strafrichter hätten diese Zusammenhänge zu berücksichtigen undsie zum Ausgangspunkt für soziale Besserungen zu betrachten.Das ist aber nur möglich durch eine Reform unserer Prozeßordnungwie unseres Sirafrechts an Haupt und Gliedern. Die Grundlageeiner solchen Reform ist Aburteilung durch aus allen Teilen desVolks vom Volk erwählte Richter. Erst dann ist es niög-lich, der Justiz einen sozialen Charakter zu verleihen und zu einerInstitution zu machen, die nicht die Schäden der Gesellschafts.ordnung zu verhüllen und die Opfer der Gesellschaftsordnung fürdas zu strafen hat, was Schuld der Gesellschaft selbst ist, sondernzu einer Institution, die vielmehr den Ursachen der Straftatennachforscht und die Ursachen durch Aenderung der Gesellschaftsordnung selbst zu beseitigen bestrebt ist.Massenelend vor dem Linaelrichter.iv.Eö tritt ein Alter mit niedrigem, schmutzigem Krägelchen vor,nachdem bereits drei Dutzend abgeurteilt sind, und zum Amts-anwalt neigt sichder Richter: Das ist heute schon der dritte mit'nemKragen!— Sie sind wegen BettelnS und Obdachlosigkeit vor-bestraft?Nummer 10: I.. i.. ich ha.. ha..Richter: Warten Sie. Geben Sie her den Zettel.— Hm.Bescheinigung über ArbcitSnachfrage. Können nach Hause gehen.Tun Sie's njcht wieder!—Sozialed«Die natkrliche Bewegung der BevZlkermig.In der„Zeitschrift für soziale Medizin" bespricht der DresdenerArzt Dr. C RocSle„die natürliche Bewegung der Bevölkerung inden europäischen Staaten" und zieht in den Bereich seiner lescnS-werten Beobachtungen die Ehcschlictzmigrii, Geburten, Sterblichkeitund Gebiirtenübcrichutz. Er betont schon einleiteild, daß alscharakteristisches und einheitliches Moment in dem gegenwärtigenVerhalten der die organische Entwickelung der Völker konstituierendenFaktoren der„allgemeine Rückgang der Sterblichkeit"immer deutlicher in Erscheinung trete. Neben dem fortschreitendenSinken der Sterblichkeit, das wir als„den größten Triumph unsererheutigen Kultur" bezeichnen, mache sich ein„unaufhaltsamesSinken der Fruchtbarkeit" in der Mehrzahl der Staaten bemerkbar. In seine» Betr achtungen über die Eheschließungen meint RoeSle„Die moralische G run dla g e für eine gedeihliche Be-Völker» ngSentfaltung sind die Eheschließungen."Eine Tabelle führt uns die Zahle» aus 29 Ländern auf, die unternormalen Verhältnissen, wie der Verfasser bettachtend meint,„einerelative Höhe von 7— S Proz." ergeben. Diese Norm wird nur vonden slawischen Ländern und von— Sachsen überschritten.AuS den lehrreichen Zahlen des Jahres 1905 geht dies hervor. Aufje 1000 Einwohner der mittleren Bevölkerung treffen Eheschließungenz. B. in Bulgarien 10,0. Serbien 9.9, Sachsen 8,4. Frankreich 7,7,Schweden 5,8, Irland gar nur 5,2. Der Verfasser meint erklärend:„Nach dem letzten allgemeinen Tiefstand der EheschließungSziffernzur Zeit der wirtschaftlichen K r i s i s in den 80er Jahrenvorigen Jahrhunderts hatte sich in den meisten Staaten die Zahlder Eheschließungen langsam, aber ständig, bis gegen Ende desJahrhmidertö wieder gehoben". Die Statistik lehrt unS auch,daß bis zum Jahre 1901 eine Steigerung eintrat, dagegen 1902/1903ein plötzlicher Rückgang einsetzte. Dr. RoeSle meint:„Dieser Plötz-liche, nahezu allgemeine Rückgang nach langjährigem, ununter-brochcncm Aufstieg konnte nur durch tieferliegende Ursachenbedingt sein. Als solche müssen wir hauptsächlich den Rückschlagin der industriellen Konjunktur in den Jahren 1902/1903bezeichnen." Am wenigsten machte sich ein Rückgang der Ehe-schiießnngSziffern in Staaten mit wenig Industrie geltend und meintdeshalb der Verfasser:„Der vorübergehende Niedergang derindustriellen Konjunktur in dem letzten Jahrfünft machte sich natur-gemäß in diesen vorzugsweise agrarischen Staaten wenigeroder gar nicht bemerkbar." Bei den germanischen undromanischen Völkern trete die Abhängigkeit der Ehe-schließungen„von den wirtschaftlichen Verhältnissen"in den Vordergrund,„da die Ehen in diesen Ländern im allgemeinenerst n a ch E r r e i ch u n g eines a u S l ö ni in l i ch e n Erwerbeseingegangen werden". Daher sei die EhesckiließiuigSzistervon volkswirti'chastlicher Aedentung und könne man die ökonomischeEntwickelung eines Landes danach ermessen. Di« geringen Ziffernnordischen Staaten wie Sibweden, Norwegen usw. erklärt Noesle mitdem„geringen wirtschaftlichen Aufschwünge dieser abseits vom Welt-verkehr liegenden Länder"; der Auswanderung eines Teilesder heiratsfähigen Bevölkerung usw. Ein Widerspruch ergibt sichjedoch ans diesen AuSfühmiigen bezüglich der slawischenLänder, welche die höchsten Ziffern haben. Dies fühlt auchRoeSle und meint deshalb:„Die hohen Ziffern der slaioischenLänder dürfen wir dagegen weniger für einen BeloeiS einergünstigen wirtschaftlichen Entwickelung, sondern mehr für einZeichen der dürftigen Lebenshaltung und der geringenLebenSanfprüche dieser Völker ansehen!" Dazu kommenoch, daß das HeiratSalter der slawischen Rasse allgemein sehrniedrig sei.Da die A b w a n d e r u n g vom Lande in die Städtegerade im heiratsfähigen Alter am größten ist, so müsse sich aucheine Differenz der EbeschließungSziffern in Stadt und Land ergeben.Dies bestätigen auch folgende Zahle»(auf IG» Einlvohner):in Stadt in LandPreußen.. 8,9 7,6 EheschließungenBayern... 8,6 7,3„Schweden.. 7,3 5,3„Die Stadt mit 10,2 auf das Land zu 7,5.Eine Ausnahme hiervon machen wieder die Länber Bulgarienund Serbien. In Buigancn kommen auf 1000 Einwohner 7,5 inder Stadt und 9.3 auf das Land, in Serbien je 7,4.Fast gleich ist die Ziffer in Frankreich mit 7,4.Wie bei den EheschließungSziffern ließe» sich auch bei der Zahlder Geburten gemeinsame Grundströmimgen nachweisen, erklärtweiter Dr. RoeSle. Ein Rückgang der Ziffern während einer Krise,eine allgemeine Zunahme nach Beendigung derselben. Noch größersind jedoch die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Wirbeben auS den Tabellen des Gelehrten nur folgende Zahlen hervor:Auf je 1000 Einwohner entfallen Lcbendgeborene im Jahre 1900in Rußland: 48,7: Ungarn: 40,6; Deutschland: 36,1; Schweiz:27,0; Frankreich: 22,4.Nun wird aber niemand behaupten wollen, daß die hohe Ge«biirtenziffer in Rußland ein Zeichen des„Wohlstandes" fei.Man müßte dann den Geburtenrückgang in Deutschland,Frankreich usw. als ein Zeichen der fortschreitenden Verarniung an»sehen! Während in Bulgarien im Jahre 1900 auf 1000 Einwohner39,3 Geburten kamen, steigerte sich diese Zahl im Jahre 1903 ans40,4. In Deutschland sank die Geburtenziffer von 36.1 aus 34.4,in Frankreich von 22,2 auf 21,2. Dr. RoeSle meint deshalb:„Der Fortschritt der Kultur hat die älterenAnschauungen über den Segen des Kinderreichtums in immer weiteren Kreisen erschüttert undzugleich auch dieKenntniS der vorbeugenden Mittelverbreitet!" Uebertriebcn ist jedoch die weitere Behauptung,daß der„zunehmende Wohlstand" der unterenVolksschichten deren Lebenshaltung stark beeinflußt habe, die»selben deshalb dem Beispiele der Wohlhabendenfolgend, zu einer allgemeinen Beschränkung der Nachkommenschaftgeführt habe!!!Interessant sind dagegen folgende Zahlen über„die Abnahmeder ehelichen Fruchtbarkeit und Säuglingssterblichkeit in Preußen":Auf je 100 Frauen kamen Geburtenin Stadt Land1891... 29.7 34.71896... 27.9 34.31901... 26.6 33.7Auf je 100 eheliche Geburtenkamen Sterbefälle im ersten Jahrein Stadt Land1891... 20.3 18,71396... 19,5 18.51901-05.. 18,1 17.8Die Gesamtsterblichkeit wurde beeinflußt durch hohe Säuglings-sterblichkeit und Infektionskrankheiten. Beide Ziffern feien im Rückgänge begriffen, ein Zeichen des Kulturfortschritts. Rußland weisedie höchsten Sterbeziffern in Europa auf, und zwar auf 1000 Ein-wohner 33,8 Todesfälle, wahrend in Deutschland nur 22,2 rcsp.19,9 im Jahre 1905, in Frankreich nur 19,6 entfallen.Dr. RoeSle weist auf den„heilsamen Einfluß derhygienischen Entwickelung der Städte' hin, dem Aufblühen der Heilkunde usw., die an dem Rückgang der Sterblichkeitbeteiligt seien. Fn Deutschland selbst„treffen wir noch immerdie Haupt herbe der Säuglingssterblichkeit inSachsen und Süddeutschland."In weniger kultivierten Ländern und auf dem Lande verhinderedie naturgemäßeErnähriing eine größere Kinderstcrbliclckeit.Dies wird wohl bald auch anders sich gestalten. In demselbenHeft der Zeitschrift finden wir unter der Rubrik:„SäuglingSfllrsorge-bewegung"(Seite 121) folgenden Satz:„Bezüglich der Ernahrimgder Kinder, besonders auf dem Lande, ist neuerdings vonverschiedenen Seiten darauf aufmerksam gemacht, daß sich mit derZunahme der Molkereien ein Rückgang in der Er-n ä h r u n g und in der körperlichen Entwickelung derländlichen Bevölkerung anbahne, da durch den V e r-kauf der verfügbaren Vollmilch das Milchbedürfnis deseigenen Haushaltes nicht mehr ausreichend berück-f i ch t i g t und der Genuß gehaltsarmer Magermilchoder minderwertiger Surrogate gefördert werde." Der Artikeljammert bereits über die dadurch entstehende„Abnahme derWehrkraft" des Volkes! Sind das die Wirkungen der Agrar-Zollpolitik? So wird dem Kleinbauer„geholfen".Dr. RoeSle schließt dagegen seinen Artikel mit dem Hinweis,daß als ursächliche Faktoren der Verminderung der Fruchtbarkeit,sotvie der Sterblichkeit„hauptsächlich der Fortschritt der Kultur unddie Ausbreitung des Wohlstandes" in Bettacht komme.Ob er von der herrschenden Krise, Elend, Hunger und Not derarbeitenden Bevölkerung etwa» Näheres weiß?Unberechtigte Entlassmig.Die Firma Obronski, Impekoven u. Cie, Ateliers fürDekorationS- und Theatermalerei, Köpenicker Str. 55, engagierte aufein Bewerbungsschreiben hin den Schneider H. von Dresden probe-weise auf einen Monat als Zuschneider. G, hatte in seinem Be-werbungSschreiben angegeben, daß er die Zuschneideakademie bestichthabe und gab außerdem nach Referenzen in Leipzig und Dresdenan. Die Firma wandtt sich an die angegebenen Referenzen,die aber G, nicht zu keimen angaben. Darauf fcbrieb dieFirma an G, nach Dresden, daß sie daS Engagement dieserhalbzurückziehe. G, kam aber trotzdem nach Berlin und sagte der Firma,daß sich die aliskunfigebendcn Personen geirrt haben müßte», erhabe sich bereits selbst an die betreffenden gewandt und die Ant-warten müßten bald eintreffen. G. trat daraufhin am 1. Oktoberdie Stellung an. Am 3. Oktober ivurde er, ohne daß ihmLohn gezahlt wurde, wieder entlassen. Er konnte imGeschäft seine Ansprüche nicht geltend machen, weil sick der Prokuristnicht sprechen ließ. Er klagte nun beim Gewerbegcrichtauf Lohnentschädigung für einen Monat iin Bettage von150 M, Am Montag kam die Sache vor der Kammer lunter Vorsitz deS Magistratsassessor Dr, Maguhn zur Verhandlung.Die Beklagte wendete ein, daß zur sofortigen Entlassung folgendeGründe maßgebend gewesen seien: 1. Die von Kläger in Aussichtgestellten AiNwortschretbcn der angegebenen Referenzen seien nichteingegangen; 2, hat Kläger zwei Modellbilder, die als Geschäftsgeheimnis zu betrachten feien, entwendet und 3. fei er den an ihngestellten Anforderungen, denen er zu genügen versprach, nicht ge-wachse» gewesen. Auf Befragen gibt Beklagte zu, daß die Eni-lassung nur mir dem Hinweis auf den zweiten EntlassimgSgnmderfolgi sei. Das Gericht hielt aber, da Kläger dieModellbilder nicht um sie zu entwende», mit nach Hause genommenhat, diesen Grund allein nicht für ausreichend, die sofortigeEntlassmig zn rechlfertigen. Die anderen beiden Gründe kämenschon deshalb nicht in Frage, weil die Entlassnng nicht mit demHinweis auf sie erfolgt sei. Beklagte wurde zur Zahlung der E»t-schädigung im Betrage von 150 M. verurteilt.Die Entscheidung ist zutteffend, weil die nicht geltend gemachtenEntlassungSgründe in der Gewerbeordnniig als solche nicht an-erkannt sind, sondern höchstens als Nücktrittsgninde wegen Irrtumshätten geltend gemacht werden können. Dann hätten sie aber noch§ 121 des Bürgerlichen Gesetzbuches unverzüglich geltend gemachtwerden müssen.