In der Versammlung war etwa ein Drittel der Teilnehmer dem sozialistischen Blatt günstig gesinnt, und zieht man die Zahl seiner täglichen Leser in Betracht, so wird man wohl nicht von der Sorge befallen werden, daß das demagogische Treiben ihm ernstlichen Schaden tun könne. Immerhin, daß es sich so breit machen kann. ist traurig genug— und besonders darum traurig, weil eS einem allgemeinen Zustand entsprungen ist, an dessen Herrschaft leider die „Humanite" selbst nicht unschuldig ist. Unfug. Paris , 28. Juni. In der vergangenen Nacht wurden 29 Drähte der Telegraphen- und Telephonlinien Paris— Bor» deaux zerschnitten und untereinander vollständig verwickelt, um die Wiederherstellung der Leitungen zu erschweren. Aus der Art der„S a b o t a g e" geht hervor, daß die Missetäter sachkundige Leute waren. Neue Konflikte. Marseille , 23. Juni. Als die eingeschriebenen Seeleute sich heute früh zur Wiederaufnahme der Arbeit meldeten, fanden sie auf mehreren Dampfern Besatzungen vor, die während deS Ausstandes angeworben waren und die zu entlassen die Reede- reien sich weigerten. Die Besatzungen von zwei Dampfern erklärten sich mit den eingeschriebenen Seeleuten, die nicht eingestellt wurden, solidarisch und gingen von Bord. Das Syndikat der ein- geschriebenen Seeleute beklagte sich telegraphisch beim Marine- minister darüber, daß die Reedereien die getroffene Verein- barung nicht innehielten, und drohte, den Konflikt zu erneuern; mehrere andere Dampfer verließen ohne Zwischenfall den Hafen.. Italien . Die deutschen Ausweiskarten. Rom , 23. Juni. D e p u t i e r t e n k a m m e r. In Beänt« Wartung einer Anfrage des Sozialisten Turati wegen der kürzlich von der preußischen Regierung erlassenen Ver- ordnung betreffend Ausweiskarten für italienische Arbeiter erklärte der Minister des Aeußeren Tittoni , der italienische Botschafter in Berlin habe im Auftrage der italienischen Regierung eine Erklärung überreicht, in der ausdrücklich Verwahrung gegen die Rechtmäßigkeit dieser Verordnung zum Ausdruck gebracht worden sei. Tittoni bemerkte dazu, die Ver- ordnung sei nur in Preußen, Sachsen und einigen kleineren Staaten in Kraft. Die Forderung einer einfachen AuSweiskarte halte er für gesetzmäßig; aber eine Steuer von zwei Mark für die Ausgabe dieser Karte zu verlangen, sei nicht gesetz- m ä tz i g, und ebenfalls nicht gesetzmäßig sei die Voll- ziehung der Ausweisung, welche denzenigen Arbeitern angedroht ist, die ihren Arbeitsvertrag brechen. Er wolle damit nicht sagen, daß die bundesstaatlichen Regierungen in Deutschland nicht das Recht hätten, diese Maßnahmen zu ergreifen, sondern nur, daß sie, mit Rücksicht auf die allen Arbeitern ver- tragSmäßig zugesicherte gleiche Behandlung, nicht das Recht haben, gegen auslandische Arbeiter diese Maßregeln ohne weitere? in Anwendung zu bringen. Zum Schlüsse erklärte der Minister, die italienische Regierung fordere die Ab- schaffung der Steuer und die Abschaffung dieser Bedingungen des Arbeitsvertrages, sie werde die Antwort der deutschen Regierung abwarten und ihre Verhandlungen mit der erforderlichen Mäßigung und Bestimmtheit führen. Sollte die deutsche Regierung sich durch die Einwände der italienischen nicht überzeugen lassen, so werde diese die Entscheidung des Schiedsgerichts anrufen, allerdings sei außex bei Zoll» ftreitigkeiten das Schiedsgericht nicht obligatorisch Snglancl. Eine dumme Frage. Lenden, 23. Juni. Unterhaus. In der heutigen Sitzung richtete Carlile Konservativ) an den Generalstaatsanwalt Sir W. S. Robfon die Anfrage, ob feine Aufmerksamkeit auf die Artikel gelenkt worden sei, die vor kurzem in einer Zeitung in bezug auf den herannahenden Besuch des russischen Kaisers veröffentlicht wurden und in denen zur Ermordung des Kaisers angereizt wurde. Der Fragesteller bat um Auskunft, welche Schritte in dieser Angelegenheit unter- nommen werden würden. Der General st aatSanwalt er- widerte, er habe die Artikel gesehen, und sie seien von höchst sträflichem Charakter; aber im Hinblick auf den herannahenden Besuch deS russischen Kaisers halte es die britische Regierung nicht für ratsam oder nötig, jetzt oder überhaupt irgend eine Mitteilung über ihre Absichten be- züglich der Schritte zu machen, die gegen die für die betreffenden Artikel verantwortlichen Personen zu unternehmen seien. Schweden . Ermordung eines Generals. Stockholm , 27. Juni. Der Chef der Küstenartillerie, General- major Beckmann, wurde gegen Mitternacht in dem mitten in der Stadt gelegenen KönigSgartsn durch einen Revolverschuß in den Rücken getötet. Der Täter, ein schwedischer Arbeiter. erschoß sich sofort. „DagenS Nyheter " bringt folgende Einzelheiten über den Mord: Einige Offiziere, darunter Generalmajor Beckmann und Kommandeur Dahlgren nebst Damen passierten kurz nach 12 Uhr den Karl XII. -Markt. Plötzlich sprang ein Mann in Arbeiterkleidung hervor und feuerte mehrere Revolverschüsse ab, von denen einer den Generalmajor Beckmann im Rücken, der andere, der gegen den Kommandeur Dahlgren gerichtet war. einen Arzt Levander in der Hüfte traf. Unmittelbar darauf richtete der Mörder drei Schüsse gegen seinen eigenen Kopf und stürzte be- wuhtloS nieder. Er sowohl wie der General , der bewußtlos auf dem Boden lag, wurden in sofort herbeigerufenen Automobilen ins Krankenhaus geschafft. Der General war jedoch bei der Ankunft bereits tot. Wie die Polizei mitteilt, ist der M ö r d e r des GeneralmaiorS Beckmann heute früh um 9 Uhr im Hospital g e st o r b e n. Er ist ein Arbeiter Adolf Hialmar Bang. Man fand bei ihm ein Paket mit Exemplaren der Zeitung„Brand ", und nimmt an, daß er von dem Vertrieb dieses Blattes lebte. Dr. Levander be- findet sich außer Gefahr. perNen. Die Unruhen. London , 23. Juni. Wie ein Morgenblatt auS Teheran meldet, giquvstlzoq rivcuzSsgunazlvzjg z,q q z tp j 3 wg ur tvh aufgehört. Nach dem Gefecht am Freitag hat der Gouver- n e u r sein Amt niedergelegt und im russischen Konsulat Zuflucht gesucht. Er befindet sich gegenwärtig unter dem Schutze von Kosaken und indischen Soldaten in seinem Hause. Die Bachtiaren. Teheran , 27. Juni. Gestern und heute hatten der britische und russische Geschäftsträger durch Vermittelung ihrer Generalkonsuln, die sich in Kum befinden, Unterhandlungen mit S a r d a r A s s a d. Der Kern der Auseinandersetzungen war, daß der Vormarsch der Bachtiaren äußerst ungelegen komme, weil er die Wieder. aufrichtung der Verfassung hindere statt sie zu erleichtern. Sardar Assad soll erklärt haben, er werde bis zum Zusammentritt des MedschliS in Kum bleiben. Inzwischen wächst die Sorge der Royalisten, von denen manche schon um Zuflucht in den Gesandt- schaften nachgesucht haben sollen. Saab ed Dauleh hat auf Wunsch des Schahs seine Demission zurückgezogen, dagegen hat der Kriegs- minister demissioniert.— Die Nationalisten haben in dem Gefecht bei Mesched gegen die Russen 139 Mann verloren._ Thronwechsel? Frankfurt a. M., 28. Juni. Die„Franks. Ztg." meldet aus Teheran : Der Schah hat seinen Harem nach Teheran gesandt und alle Munition nach Sultanabad gezogen. Zill es Sultan wird hier erwartet. Er ist vermutlich von den Bachtiaren für den Thron bestimmt. Gegen das Mimsterinm. Teheran , 23. Juni. (Telegramm der Petersburger Telegraphen» Agentur.) Die Partei Asis el Mulls fordert vom Schah die Entlassung Saad ed Daulehs und des von fremden Gesandtschaften empfohlenen Kabinetts, an dessen Stelle ein Kabinett aus der Mitte derPartei mil diktatorischen Vollmachten zu treten habe. Die Be- wegung nimmt«inen scharf nationalen Charakter an. dozialee* Konkurrenz der Gcfangenenarbeit. Die„Ostdeutsche Rundschau" bringt in ihrer letzten Nummer folgendes Inserat: Gefangenen-Arbeitskräfte. Am 1. Dezember d. I. sollen zirka 30 männliche Gefangene auf 6 Jahre zu Industrie« oder Handarbeiten an Unternehmer vergeben werden. Ausgeschlossen ist die Beschäftigung mit Strumpfstrickerei, Zigarrenmacherei und Tischlerei.— Die zu stellende Kaution beträgt für jeden Gefangenen 49 M.(Folgt Angabe über den Termin zur Einsendung der Angebote usw.). Cron« a. Br., 16. Juni 1999. Königliche Strafanstalt. Noch immer gibt es Arbeitslose genug, denen durch solche Kon. kurrenz. die hier dem freien Arbeiter gemacht wird, die Möglichkeit genommen wird, Beschäftigung zu erhalten. Die Strafanstalten fänden wohl für die Gefangenen andere nutzbringende Beschäftt- gung, ohne diese billigen Arbeitskräfte mit industrieller Tätigkeit zum Schaden des betreffenden Gewerbes zu beschäftigen. LehrlingZverhältnisse. Der Musikdirektor Schulz zu Frankfurt a. O. hat in seiner Musikkapelle eine Anzahl Lehrlinge, die bei ihm in Kost und LogiS sind. Der Lehrling Seidel verließ mit Zustimmung seines Vaters, des Schneidermeisters Seidel, die Lehre be, Schulz vor Ablauf der durch schriftlichen Vertrag festgelegten Lehrzeit und weigerte sich, in die Lehre zurückzukehren. Darauf erließ gemäß einem Antrage deS Direktors Schulz die Polizeiverwaltung auf Grund des§ 1276 der Gewerbeordnung eine Verfügung, durch die sie unter Androhung einer Geldstrafe anordnete, daß Seidol binnen drei Tagen in die Lehre zurückkehren solle. Der Lehrling, ver- treten durch seinen Vater, klagte im Berwaltungsstreiwerfahren auf Aufhebung der Verfügung. Er machte geltend, daß er nach Z l27b Ws. 3 der Gctverbcordnuna zum Verlassen der Lehre be- rechtigt gewesen sei, weil der Lehrherr seine gesetzlichen Verpflich- tungen gegen den Lehrling in einer die Gesundheit und Ausbildung des Lehrlings gefährdenden Weise vernachlässigt habe.— Der Bezirksausschuß erhob Beweis. Der 23 Jahre alte M., der vom November 1996 bis zum März 1993 bei Schulz als Musiker war, hatte die Ueberzeugung. das Seidel ausreichend unterrichtet wurde. Der Zeuge vertrat den Direktor, wenn dieser nicht anwesend war. M. selbst hat jedoch einem als Zeugen ebenfalls vernommenen Malermeister erzählt, daß der Direktor mit ihm. seinem Ver- treter, einmal drei Tage und drei Nächte durchgekneipt habe und daß sich beide wegen der Folgen auch am vierten Tage nicht um die Lehrlinge hätten kümmern können. Der Vorfall wurde von mehreren Lehrlingen bestätigt. Ein Lehrling meinte, daß an Tagen, wo nachmittags Konzerte waren, für gewöhnlich dreimal in der Woche, besondere Ausbildungsstunden nicht abgehalten wurden. Heber Kost und Logis wurde von den vernommenen Lehrlingen ausgesagt: Die Tür zu dem Schlafzimmer, in welchem sechs Betten standen und das nur 2,19 Meter hoch war, sei entzwei gewesen. Die Lehrlinge hätten oft die Füllung, weil sie herausgefallen war, wieder einsetzen müssen. Der Ofen im Schlafzimmer heizte nicht. Vier Wochen lang war die Fensterscheibe entzwei. Wanzen gab es auch. Die Wurst auf den Stullen roch häufig, so daß die Lehrlinge sie herunternehmen mußten. DaS Brot, das im Keller aufbewahrt wurde, hatte Schimmelansatz. Kaffeetöpfe und Teller wurden nicht reinlich gehalten; einer der Zeugen hat deshalb manchmal nicht gegessen. Man konnte vom Brot essen, so viel man wollte, der Di- rektor schimpfte aber, baß so viel gegessen würde. Fleisch gab es nur drei- bis viermal durchschnittlich in der Woche. Kartoffeln spielten eine große Rolle. Es kam vor. daß es dreimal hinterein. ander Pellkartoffeln und Hering gab: mittags, abends und am anderen Mittag. Der Bezirksausschuß wie? trotz dieses Ergeb- niffcS der Beweisaufnahme die Klage ab. Der dritte Senat des Obrrverwaltungsgrrichts hob am Montag vergangener Woche das Urteil auf und setzte die Verfügung der Polizeiverwaltung außer Kraft. Der Seuat nahm an, daß eine Vernachlässigung der Pflichten des Lehrherrn vorliege. ES komme in Frage, daß die Lehrlinge häusig verschimmeltes Brot erhielten und daß der Lehr- Herr mit dem einzigen Aufsicht führenden Musikergesellen drei Tage und drei Nächte durchkneipte und daß sie auch noch am vierten Tage unfähig waren, die Lehrpflicht zu erfüllen. Hinzu komme, daß das Fleisch auf den belegten Butterbroten öfter gestunken habe, daß Wanzen da waren, daß eine Zeitlang die Türfüllung des Schlaf- zimmerL entzwei war und daß das Fenster vier Wochen lang keine Scheiben hatte. Das seien Zustände, die einem für seinen Sohn be- sorgten Vater wohl berechtigen anzunehmen, daß der Sohn dort nicht länger bleiben dürfe. Die polizeiliche Verfügung, zurückzu- kehren, sei deshalb nicht berechtigt. Entgegen der Polizeiverwaltung und dem Bezirksausschuß hat hier das oberste preußische Berwaltungsgericht den Lehrling vor geistiger, körperlicher und moralischer Verwahrlosung geschützt. Wird nun gegen den polizeilich begünstigten Lehrherrn Anklage erhoben werden? Ob eine Anklage Erfolg haben wird, läßt freilich unsere Klassenjustiz wenig wahrscheinlich erscheinen. Das beweist der von uns am Mittwoch aus Kassel gemeldete Freispruch des Bürger- meisters und Lehrherrn eines zu Tode geprügelten Lehrlings, welch letzterer den ihn mißhandelnden Lehrherrn der Wahrheit ent- sprechend erklärt hatte, seine Tochter habe einen Kochtopf zum Urinieren benutzt.___ Der Kampf um den Judaslohn. Der Schriftsetzer Fritz Wenzel. Nordufer 11 wohnhaft, ersucht uns um die Mitteilung, daß nicht er der in dem Artikel„Der Kampf um den Judaslohn" in Nr. 147 des„Vorwärts" vom Sonn- tag, den 27. Juni, erwähnte Schriftsetzer ist. Diesem Wunsch kommen wir gern nach._ Denkschrift über die Arbeitslosenversicherung. Die badische Negierung hat eine Denkschrift veröffentlicht, die in ziemlicher Ausführlichkeit alle Punkte einer weitgehenden Arbeitslosenversicherung erörtert. Ueber den Begriff der Arbeitslosigkeit wird gesagt, daß der als arbeitslos gilt, der als Arbeitswilliger und arbeitsfähiger Arbeitnehmer seine Beschäftigung verloren, eine andere an- gemessene Beschäftigung noch nicht gefunden hat und sie zurzeit nicht finden kann. Die öffentliche Fürsorge habe bann einzutreten, wenn die Arbeitslosigkeit als Massenerscheinung auftritt. Es sind dreierlei Maßnahmen zu treffen, nämlich: Vorbeugung, ve- kampfung und Fürsorge, NotstandSarbeiten kämen nicht in Frage, sie seien teuer und unwirtschaftlich. Freiwilliges Aufgeben und Nichtannahme angebotener Arbeit schließe die Unterstützung aus. Es werden dann von 13 europäischen Ländern die Arbeits- losenunterstützungen der Gewerkschaften vom Jahre 1997 auf. geführt; an der Spitze stehen England mit 8S94 3S7 M. und Deutschland mit 6 729 926 M. Von den 6 729 926 M. deutscher Unterstützungen entfallen auf die freien Gewerkschaften allein 6 527 S77 M. Das Genter System ist in 27 belgischen, 86 französischen, 9 holländischen, 7 luxemburgischen und 2 deutschen Gemeinden und Städten eingeführt, die fakultative Arbeitslosenversicherung besteht in Bern , Bologna , Basel , Genf , Köln , Leipzig und Venedig . — Mit den Gewerkschaften hat man beim Genter System in Strahburg und München gute Erfahrungen gemacht. Mit Bezug auf Straßburg wird gesagt: „Die Gewerkschaften erfüllten die an sie gestellten Anforde- rungen bei der Listenführunsi und Abrechnung durchaus; im formalen Verkehr war nicht die geringste Störung zu verzeichnen. Die Gewerkschaften brachten den Entscheidungen des Arbeits- amtes volles Vertrauen entgegen." ES wird noch hinzugefügt, daß die erzieherische Wirkung deS Genter Systems auf die Arbeitslosen unverkennbar sei. In München wurden unter Assistenz der Gewerkschaftsleiter 59 999 Mark an Arbeitslose verteilt. Die Denkschrift sagt dazu hierüber: „Das Zusammenarbeiten der behördlichen Organe mit den Gewerkschaften hat sich bei dieser Gelegenheit durchaus bewährt." Die Denkschrift erklärt sich rückhaltlos für das Genter System, daS allen anderen Systemen an Umfang und organisatorischer Durchbildung bedeutend überlegen sei und eine immer größere Verbreitung gewinne. Sein Wesenskern sei die Ermunterung der Selbsthilfe, durch Anlehnung an Arbeiterverbände und die Mitkontrolle dieser Verbände. Für die Stadtverwaltungen lägen die Vorzüge des Genter Systems darin, daß die eigenen Ver- waltungskosten auf ein Geringes herabgemindert, die Einziehung der Beiträge, die Kassenführung und ein Teil der Kontrolle von den Verbänden übernommen werden. Die Bedenken gegen die Einführung des Genter Systems, daß es den Verbänden neue Mitglieder zuführe und somit ihre Kampfmittel stärke, träfen nicht zu. Das Genter System habe für die organisierten, das Kölner für die Nichtorganisierten Arbeitslosen Platz zu greifen. Die letzteren sind eventuell durch eine obligatorische Bersichcrung zur Beitragszahlung zu zwingen. Die städtischen Arbeitsnachweise sind tunlichst so zu gestalten, daß sie den gesamten Arbeitsmarkt beherrschen und in Fühlung mit anderen Arbeitsnachweisen, den Gewerbetreibenden, den Ar- beitern und deren Organisationen den Ausgleich zwischen An- gebot und Nachfrage herbeizuführen vermögen. Die Oberleitung des städtischen Arbeitsnachweises, der städtischen Notstandsarbeiten und der Arbeitslosenversicherung ist in einer Hand zu vereinigen. Zu diesem Behufe sind die Arbeitsnachweise zu Arbeitsämtern auszubilden und umzugestalten.— Die aufgestellten Leitsätze sollen im Ministerium unter Hinzuziehung von Vertretern ver- schiedener Körperschaften und gewerkschaftlicher Verbände beraten und auf die Durchführbarkeit geprüft werden. Ein widerlicher Kampf gegen das Arbeitsamt der Stadt Stuttgart erregt zurzeit die Sturr- garter Arbeiterschaft. Dem Arbeitsamt ist eS durch seine vorbildlichen Einrichtungen gelungen, die private Stellenvermittelung fast ganz auszuschalten. Für die verschiedenen Berufe sind besondere Abteilungen gebildet. Um den Arbeitönachloeis zu konzentrieren und so einen klaren Ueberblick über die Arbeitsmarktlage zu ge- Winnen, jedes Bedürfnis nach Arbeitskräften sofort befriedigen zu können, haben eine ganze Anzahl freier Gewerkschaften und auch Unternehmerorganisationen dem Amt die Auszahlung der Unter- stützungen übertragen. Den Scharfmachern im Unternehlertum ist das städtische Arbeitsamt selbstverständlich ein Dorn im Auge, verhindert es doch die Schaffung von Unternehmer-Arbeitsnachweisen und MahregelungSbureaus. Die„Christen" sind nicht gut auf das Arbeitsamt zu sprechen, weil die Auszahlung der großen Unter. stützungssummen an Mitglieder der freien Gewerkschaften in Gegen- wart der unterstützungsbedürftigen„christlichen" Arbeiter nicht eben agitatorisch für die„christlichen Gewerkschaften wirkt. Das gleiche trifft auf die Hirsch-Dunckerschen zu. Diesen beiden Organisationen ist zwar schon wiederholt nahegelegt worden, die von ihnen gewährten Unterstützungen gleichfalls durch das städtische Arbeitsamt auszahlen zu lassen; sie mögen aber ihr bißchen Armut nicht zahlenmäßig fest- stellen lassen und der öffentlichen Kontrolle unterstellen. Sehr un- bequem ist den beiden letztgenannten Organisationen auch, daß das Arbeitsamt so gar nicht danach fragt, ob ein„Roter" oder ein be- scheidener staatscrhaltend gesinnter Arbeitsloser Arbeit wünscht. So haben sich Zentrumschristen, Demokraten, konservative und libe- rale Scharfmacher zusammengetan, um dem städtischen Arbeitsamt das Lebenslicht auszublasen. Sie geben zwar vor, nur gegen eine angeblich„parteiische" Geschäftsführung des Arbeitsamtes zu Felde zu ziehen, in Wirklichkeit gilt aber der Kampf dem Arbeitsamt selbst. ES wurde daS Gerücht verbreitet, ein Beamter des Arbeitsamts habe von den freien Gewerkschaften Geld genommen; so erkläre sich, daß bei der Arbeitsvermittelung die„Roten " bevorzugt würden. Es stellte sich aber bald heraus, daß der betreffende Beamte bei der Auszahlung der Unterstützungssummen ein kleines Manko zu verzeichnen hatte, wie das dem gewissenhaftesten Kassierer passiert. Diese wenigen Mark waren ihm ersetzt worden. Der Zentrums- abgeordnete,„Arbeitersekretär" Andree, der im Landtag schon vor Monaten die schwersten Angriffe gegen das Arbeitsamt gerichtet hat, ist bis heute jeden öffentlich kontrollierbaren Beweis schuldig geblieben. Zur Bekräftigung seiner Beschuldigungen ist von christlich-gelber Seite eine Versammlung arrangiert worden, in der ein paar Mann herzbewegliche Klagen anstimmten, daß das Arbeits- amt ihnen keine Arbeit anweise, sondern andere bevorzuge. Zum Schluß wurde dann dem Zentrumsabgeordneten Andree Dank aus- gesprochen für seine am Arbeitsamt geübte Kritik. Diese Versamm. lung vollendete die Blamage der„Christen" und ihrer Helfershelfer. Unser Stuttgarter Parteiorgan wies nämlich sofort nach, daß der Leiter dieser in der ZentrumSprcsse und im konservativen Organ weidlich ausgeschlachteten Versammlung ein Mann ist, der der Arbeit in weitem Bogen auS dem Wege zu gehen pflegt und es auch fertig. bringt, so drei Viertel des Jahres ohne Arbeit auszukommen. Einem anderen Kronzeugen des Zentrumsabgeordneten Andree hatte das Arbeitsamt schon 34mal Stellen vermittelt, dem dritten gar 33 Stegen. So sehen die„Märtyrer" und Kronzeugen der„Christen" Stellen. So sehen die„Märtyrer" und Kronzeugen der„Christen" und Scharfmacher aus. Das schönste an der ganzen Geschichte war, aufs Korn genommene Beamte des Arbeitsamts auch nicht den leisesten roten Schimmer aufweist, sondern— der christlichen Seite zuneigte und bei der Wahl als früherer Chinakämpfer den Sieg davongetragen hatte über den frewrgani- sierten Kandidaten! Die mit den Verhältnissen nicht rech? ver- trauten Christen hatten in der Eile den eigenen Mann„verköbalt". DaS widerlichste an der ganzen Affäre ist aber die s k a n d a. löse Haltung der Stadtverwaltung mit dem demo- kratischcn" Oberbürgermeister v. G a u ß an der Spitze. Statt die Untersuchung energisch zu fördern, sieht die Stadtverwaltung dem Treiben der Gegner deS städtischen Arbeitsamtes gelassen zu. Wohl ist versprochen worden, bald und energisch Grund zu machen, aber seit Wochen und Monaten hört und sieht man nichts von der ge- lobten energischen Untersuchung, so daß die Vermutung ausgesprochen wurde, die Untersuchung sei noch gar nicht eingeleitet. Eine Jntcr- pellation unserer Genossen in der Sitzung der bürgerlichen Kalle- gien beantwortete der Oberbürgermeister mit Verdächtigungen der sozialdemokratischen Gemeindcvertreter und mit Schimpfereien auf unser Parteiorgan, das die Machenschaften der„Christen" und „Demokraten " aufgedeckt und gebührend gekennzeichnet hatte. Die bürgerliche Mehrheit des Gemeinderats lehnte sodann die Be- sprechuna der Interpellation unserer Genossen ab und erhindert« so. daß dem Oberbürgermeister die verdiente Antwort wurde. In der nächsten Zeit wird wohl die Gesamtarbeiterschaft Stuttgart ? in öffentlicher Versammlung Stellung zu der Sache nehmen.
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