Alima Erleichterung zu verschaffen wähnten. Und in Jnwla ist er gestorben, inmitten einer Bevölkerung, die mit heißer Liebe an ihm hing. Tchnell ist dsr Tod nicht mit dem widerstandsfähigen Organismus unseres Genoffcn fertig geworden: langes Leiden, lange Arbeitsunfähigkeit, ein trauriges Auf und Ab von Hoffen und Verzagen haben Andrea Eostas letzte Jahre getrübt. Der Tod kam ihm als Erlöser, denn Costa war zum Kampfe geschaffen uiid ein Leben, dem die Kraft und Lust des Kampfes geschwunden waren, galt ihm wertlos. Der italienischen Partei verkörperte er ihre eigene Jugend- zeit, ihr mühevolles Bewußtwerden des Sozialismus, ihr Heran- reifen aus dem Traum, der die Menschheitserlösung mit einem Schlage von dem Wunder der revolutionären Gewalt erwartet, zu dem herben Wirklichkeiissinnc, der durch die Arbeit von Genera- tionen an sich selbst und an der Umwelt, in einer Kette unschein» barer Opfer, die neue Zeit vorbereitet. In Andrea Costa sinkt der Mann ins Grab, der ein Menschenalter hindurch der Bannerträger des italienischen Sozialismus war. Am 3Y. November 1SS1 in Jmola geboren, entstammte Costa kleinbürgerlichen Verhältnissen. Er besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt und studierte dann Literatur in Bologna , wo er ein Lieblingöschülec CarducciS war. Als Student kam er unter den Einfluß von Baknnin, der 1867 in Neapel die erste italienische Ab- teilung der International? gegründet batte. Von der rcvolutio- nären Idee gewonnen, gab er sein Studium auf und widmete sich ganz der Agitation. Natürlich blieben die Verfolgungen nicht aus. Im Jahre 1871 wird die Neapolitaner Abteilung aufgelöst und fast gleichzeitig gründet Costa eine neue in Bologna , der Cafiero, Bignami, Malatesta und viele andere beitraten. Auf einer Agi- tationStcmr wird er zum ersten Male verhaftet und einige Monate im Gefängnis behalten, ohne schließlich angeklagt zu werden. Im März 1S73 beruft er alle italienischen Abteilungen der Jnter- nationale zu einem Kongreß nach Mirandola , den die Polizei durch Auflösung der dortigen Sektion vereitelte. Costa bringt nun eine geheime Zusammenkunft in Bologna zustande, die verraten wird und zu seiner Verhaftung wie zu der von Cafiero, Malatestra und acht anderer Internationalisten führt. Stach wenigen Monaten der Freiheit wiedergegeben, wirft fich Costa mit der ganzen Wucht seines revolutionären Temperaments auf di-e Vorbereitung eines bewaffneten AufstandcS. Mit flammenden Manifesten ruft er die Bevölkerung der Romagna zur Revolution auf, läßt Flugblätter unter die Soldaten verteilen, die sie auffordern,»sich mit den Aufständischen zu vereinen und fich gegen jedes Privileg und gegen die bestehende Ordnung zu erheben," schafft Waffcnnieder- lagen für die Rebellen und bereitet alles zu einem gewaltsamen Anschlag vor. Wenige Tag vor dem zur Ausführung angesetzten Zeitpunkt wird er verhaftet, und, während Bakunin , Cafiero , Malatesta und andere die Schweizer Grenze erreichen, werden die Internationalisten von Caftel San Pietro, im Begriff, sich im Einverständnis mit zwei Unteroffizieren deS dortigen Arsenals zu bemächtigen, mit den Waffen in der Hand ergriffen! Weitere Maffenverhastungen in Toskana , Calabrien» Sizilien und Latium erwürgten den Aufstand. Politische Prozesse kamen damals noch vor die Assisen, und vor den Assisen von Bologna wurde Costa nach 22 Monaten Untersuchungshaft mit feinen 73 Mitangeklagten freigesprochen. Mit Freispruch endeten auch die gleichzeitigen Prozesse von Florenz , Livorno , Carrara und Terni ; nur in Rom wurden die Jnter- Nationalisten zu Zuchthausstrafen von 12 bis 13 Jahren verurteilt. Die italienische Internationale wurde dann wieder organisiert, Costa wieder verhaftet und schließlich als«Müßiggänger und Baga- Sund, der im Verdacht steht. Verbrechen gegen Personen und Eigen- zum zu planen", unter Polizeiaufsicht gestellt. Ter letzte be- waffnete Auffiandsversuch, an dem Costa beteiligt war, fällt in den April 1877 und sollte gleichzeitig in Süditalicn. der Romagna und Venetien ausbrechen. Eine Gruppe von Internationalisten, unter denen fich auch Sergio Stepniak befand, wurde in Süditalicn von einer Division Soldaten— ILlXXIMann gegen 106— nach einem blutigen Zusammenstoß mit den Carabinieri, gefangen genommen. Von der Polizei verfolgt, wandte sich Costa nach Frankreich . Hier wird er unter der Anklage, die aufgelöste Internationale wieder organisieren zu wollen, verhaftet und zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt, dann aus der Republik ausgewiesen. Neues Gefängnis und neue Polizeiaufsicht erwarten ihn im Vaierlande, wo er 4 Jahre später in Jmola das sozialistische Wochenblatt„Avanti" herausgibt, dessen erste 13 Nummern bei ihrem Erscheinen konfisziert werden! Die Polizei hatte ihn für die Verschickung ins ZwangSdomizil vorgeschlagen, als er im Jahre 1882 akS erster sozialistischer Abgeordneter in die italienische Kammer gewählt wurde und durch Annahme des Mandats seinen Ucbergang zum Sozialismus kund gab. In der Kammer be- währte er dieselbe Energie und Furchtlosigkeit, die seine inter - nationalistische Periode gekennzeichnet hatte. Die parlamentarische Immunität ersparte ihm nicht eine neue Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis, weil er bei einer Gedächtnisfeier für Oberdan in Rom einen Polizisten mit dem Schirm geschlagen hatte. Die jlammer autorisierte auch Coftas Verhaftung, aber der Kammer- Präsident Biancheri stellte der Staatsanwaltschaft die Autorisation erst zu, als er Costa in Nizza wußte. Zuletzt sahen ihn die italienischen Gefängnisse in den blutigen Maitagen von 18L8, wo er in Mailand verhaftet wurde. Seit 9 Monaten bekleidete Costa die Stelle eines Vizepräsidenten des italienischen Parlaments. Die innere Entwickclmig, die sich unter den Eindrücken eines so wechselreichcn äußeren Lebens vollzog, ist in vieler Hinsicht typisch. Dem jungen Manne mit dem heißblütigen Temperament und dem warmen Herzen schien die soziale Revolution nichts zu erherschcn als Mut und Opfcrfähigkeit: wenn man die auf dem Privateigentum gegründete Gesellschaft stürzte, mußte die kommu- nistische von selbst erstehen» kraft ihrer inneren Wahrheit. Was der Vernunft möglich erschien, mußte wirklich werden durch die Ge. wall.»Laßt uns diese Welt zu Fall bringen, die uns erdrückt, diese Gesellschaft zerstören, die uns entrechtet, laßt uns Rache üben für alle Schmach und alles Unrecht, daS wir erlitten haben und noch leiden. Heute wütet die Tyrannei wider uns: morgen können wir aus ihren, verfluchten Grabe unsere SiegeShymnen singen," schrieb Costa im Jahre 1873. Und vor den Assisen» wo auch Carducci als Entlastungszeuge für ihn aussagte, entwickelte er auf seine Weise daS Ideal jeder sozialen Revolution:„Wir wollen die freie, ungehemmte Entfaltung aller Instinkte, aller FähigKiten, aller Leidenschaften: wir wollen die Menschwerdung des Menschen. Daraus folgt, daß wir nicht allein für die Be- freiung der Arbeiterklasse eintreten: wenn die Arbeiterklasse sich von dem materiellen Elend freimachen muß, so müssen die Be- sitzenden aus viel schwererem moralischen Elend erlöst wcrdin." Die Erfahrung lebete ihn, daß der Weg zu diesem Ideal der Menschwerdung nicht der der Gewalt allein ist und daß er Men- schenalter erfordert. Die Gesellschaftsordnung zeigte sich dauer- haster, alS sie dem jungen Heißkopf erschienen war. WaS in der Weite des» Gehirns möglich erschien, weil es gut war, fand in der „engen Welt" der Wirklichkeit nicht Raum, sondern nur die Mittel, diesen Raum langfcnn und mühevoll dem Granit der Widerstände abzuringen. So entfernte sich Costa allmählich von Baknnin und seiner Schule. Spuren dieser EntWickelung finden sich in den Zeitungen und Aufrufen vom Jahre 1877 an, dessen Aufstand zwar Coftas Mitwirkung, aber nicht seine Billigung hatte. Auf dem Kongreß der Sozialisten der Romagna , der(Jmola 1882) die Aufstellung ferner Kandidatur beschloß, sagte Costa im Gegensatz zu jenen, die die sozialistischen Deputierten mit voller Freiheit ins Parlament schicken wollten:„Vergeßt nicht, Genossen, daß wir vor allen Dingen die Gesellschaft umgestalten müssen und daß die, die Ihr ins Parlament sendet, für Euch fast verloren sind. Wenn im' Parlament überhaupt etwas Nützliches geschieht» so geschieht eS unter dem Druck des Volkswillens. Auch die Energien dieses Willens werden in der heutigen Gesellschaft nur allzu oft ver- trödelt oder von den Gegnern ausgenützt, wenn dem Volke die ersten Wegweiser fehlen. Und Wegweiser müssen die Sozialisten sein. Wir können uns aber wahrlich nicht den Luxus leisten, einen Teil der Unseren für die allzu oft unfruchtbaren parlamentarischen Kämpfe herzugeben!" In Genua war im Jahre 18V2 die Sym- pathie für die ehemaligen Kampfgenossen noch so groß, daß Costa sich gegen die Form der Lossagung der neugegründcten sozia- listischen Partei von den Anarchisten wendete. Im inneren Parteileben war Costa, der seinem Temperament nack revolutionär war, aber durch seine persönlichen Beziehungen sowie sein Bedürfnis nach praktischer Beteiligung dem rcformisti- scheu Flügel zuneigte, ein Element der Versöhnung, selbst in den Zeiten des bittersten Zwistes. Er war der angestammte Vor- sitzende all unserer Parteitage und seine schwungvolle Beredtsam- keit traf immer den rechten Ton, verwies stets auf daS Einigende, das über den abweichenden Meinungen in dem gemeinsamen Ideal des Sozialismus lag. Als der Hader am kleinlichsten und Hätz- lichsten war, wußte Costa immer noch die Augen auf das allen gemeine Ziel zu lenken. Seine große und echte Liebe zur Partei verlieh ihm ein Pathos, das jedem anS Herz griff. In der Kammer genoß er ein Ansehen, das ihm immer Gehör sicherte, auch in den stürmischsten Sitzungen, denen das Prestige von kaum einem Dutzend italienischer Parlamentarier Stand zu halten vermag. Als einziger Sozialist in Zeiten brutalster Reak- tion hat er Beweise großen Mutes gegeben» wie er überhaupt von einer Fuwfstlosigkeit sondergleichen war. Er bekämpfe die Not- wendigkeit der Eidesleistung der Deputierten, forderte während des afrikanischen Krieges die Zurückziehung der italienischen Truppen, bot CriSpi und Pelloux die Stirn. ES war sein letzter parlamen- tarischer Akt, daß er alS Präsident, trotz des Gebrülls der Mehrheit, dem Genossen Mvrgari in der Sitzung vom 23. Juni daS Wort erteilte zu seinem Protest gegen den Besuch„des vom Blute seines Volkes triefenden Zaren". Dies kampfreiche Leben ist nun zu Ende. Auch die Blätter des Bürgertums widmen Costa wohlwollende Nachrufe. Von denen. die in seinen Reihen marschieren, verdient aber sein Andenken mehr als Wohllvollen: Wahrhaftigkeit. Und wir wollen deshalb hier nicht vergessen, daß Costa kein Heiliger war, sondern ein Mensch mit menschlichen Leidenschaften und Fehlern. Vor der Zeit hat Costa seine Leistungsfähigkeit untergraben, er war maß- los im Genietzen wie im Tun. Der Idealist, der sich für seine Sache opfert, rang in ihm mit dem Epikuräer. Und hier liegt eine große Tragik in der Gestalt des Verstorbenen. Denn die Sache hat von seiner ungewöhnlich reichen Natur ein Opfer ge- fordert, für das die Geschichte keinen Kranz kennt: den Verzicht auf die harmonische Vollendung der Persönlichkeit. Von seinem Studium hat sie ihn weggerissen, hat seine starke und fruchtbare Intelligenz zur zerfaserten Produktion des Tages verurteilt, so daß Costa kein Werk hinterläßt, das über die Wirkung seiner Persön- lichkeit hinauSreicht. Die Sache hat seine ganze Jugend in Wirt- schaftlicher Not und persönlicher Unsicherheit verfließen lassen» so daß er keinen Herd gründen, keine Familie sein eigen nennen konnte. Not und Unsicherheit sind ihm bis in das späte Mannes- alter zur Seite gestände»,. Die Partei war arm und hatte keine Aemter zu vergeben: für die Bourgeoisie war er ein Bcrfehmtcr. Wie oft schlief Costa im Eisenbahnzuge, um die Ausgaben für ein Nachtquartier zu sparen, wie oft fehlte ihm das Geld zum Mittagessen! Beruf und Fainilie hat ihm die Partei genommen, ohne es auch nur gewahr zu werden: es schien ihr kein Opfer und ihm kein Opfer, wo es dock) den Verzicht auf viel Befriedigung und Menschenglück einschloß. Surrogate hat ihm das Leben ge- boten und Surrogate hat er genommen. Erst dem Alternden ward ein eigener Herd und Ruhe. Heute, wo man an seiner Bahre der Verfolgungen gedenkt, mit der ihn die Bourgeoisie von Gefängnis zu Gefängnis hetzte, wollen wir dankbar auch jener Verfolgungen eingedenk sein, mit der das Proletariat selbst unter dem Druck seiner Klassenbedürf- nisse ihn gehetzt hat von Agitation zu Agitation» von einer Rednerbühne zur anderen. Liebe und Verehrung hat ihm die Arbeiterklasse als Entgelt geboten, aber oft hatte er nicht das Brot, dessen er bedurfte. Der Dank und die Liebe vieler Tauseirde geleiten ihn zu Grabe: der Tote hat ein heiliges Recht auf beide. Er hätte in eine revolutionäre Epoche hineingepaßt: die Zeit langsamer proletarischer Rüstung, in der er lebte, hat trotzdem alles, was er der Revolution zu geben hatte, mit Beschlag belegt und zu nutzen verstanden. politische(lebersicbt. Berlin , den 24. Fanuar 1310. Preußisches Abgeordnetenhaus. Nicht weniger als sieben Eingemcindungsvorlagen standen am Montag auf der Tagesordnung des Abgeordneteichauses. Es handelte sich um Gesetzentwürfe betr. die Erweiterung der Stadtkreise Essen , Köln , Ratibor , Kiel , Flensburg , Harburg und Frankfurt a. M. Während die Redner der übrigen Parteien sanit und sonders mehr oder weniger Bedenken gegen die Eingemeindungen an sich vorbrachten, vertrat unser Genosse B o r g m a n n prinzipiell den Standpunkt der möglichst umfangreichen Zusammenlegung von Gemeinden in einheitlichen Wirtschaftsgebieten zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben. Besonders zog Borgmann die Verhältnisse Groß-Berlins in den Bereich seiner Betrachtungen und schilderte unter wachsender Aufmerksamkeit des Hauses die widersinnigen Zustände auf steuerlichen und anderen Gebieten in Berlin und seinen Vororten. Stellte sich unser Redner auch grundsätzlich auf den Boden der Regierungsvorlagen, so verabsäumte er doch nicht, dies eigenartige Verhalten der Kreise, die vielfach eine große Verschwendung mit öffentlichen Mitteln betreiben, einer abfälligen Kritik zu unterziehen. Nachdem die Vorlagen an die Gemeindekommission verwiesen waren, begann die zweite Beratung des Etats der landwirtschaftlichen Verwaltung, die der Minister v. Arnim mit der beruhigenden Erklärung ein- leitete, daß Konzessionen auf dem Gebiete des Veterinärschutzes bei künftigen Handelsverträgen nicht zu befürchten seien.?äso es bleibt dabei, daß unter dem Borwand des Schutzes von Leben und Gesundheit der Bevölkerung das Fleisch den Agra- riern zu Liebe verteuert wird. Trotzdem klagen die Herren nach wie vor weidlich über ihre Notlage. Besonders verärgert waren sie diesmal über Herrn Dr. C r ü g e r(frs. Vpt.), der jetzt nach Scheitern des Blocks jede Rücksicht auf seine che- maligen Bundesgenossen fallen ließ und gehörig vom Leder zog. Schade nur, daß aus ihn und seine Parteigenossen so wenig Verlaß ist, daß man nie wissen kann, ob es ihnen mit ihrem Kamps gegen agrarischen Uebermut wirklich ernst ist. Unbewußt verurteilte Dr. C r ü g e r die ganze Vergangenheit seiner Partei, indem er am Schluß die treffende Bemerkung machte, daß die Regierung sich in einer eigenartigen Lage befinde, da sie aus den Kreisen der Rechten hervorgegangen sei, aber die großen 5kulturaufgaben nur durchführen könne mit Hilfe der Linken. Und dieser kulturfeindlichen Rechten leistet der Freisinn Hilfe auS Furcht, daß die einzige wirk- liche Kulturpartei, die Sozialdemokratie, anS Ruder kommen könne! Sonst bot die Debatte, die am Dienstag fortgesetzt wird, nichts Bemerkenswertes._ „Patriotische " Treibereien. $n gewissen höfischen Kreisen wird wieder mit allen er- denklichcn Mitteln intrigiert, nicht nur gegen den Freiherrn von Schoen oder, wie man ihn spöttisch nennt,„le lm-ou de ßehoen", sondern auch gegen den Kanzler, Herrn von Bethmann Hollweg , der sich nie der Sympathien des Hofes erfreut hat. Wie es heißt, soll dem Kaiser sogar der bekannte Berliner Witz über des Reichskanzlers Indolenz:„Hol' man's Bett weg, sonst dusselt Bethmann Hollweg noch länger!" zu- getragen worden sein und S. M. soll sich über dieses Wort- spiel prächtig amüsiert haben. Herr v. Bethmann Hollwcg hat manche Fehler. Die Konservativen sähen an seiner Stelle lieber einen schneidigen Draufgänger, der energisch sich in ihren Dienst stellt, stramm ihre wirtschaftspolitischen Interessen vertritt und in seiner Eigenschaft als preußischer Ministerpräsident mit Geschick das königliche Versprechen einer Wahlresorm so einlöst, daß an dem heutigen Drciklassenwahlrecht eigentlich nichts ge- ändert wird. Jedenfalls wäre den Agrarkonservativen Herr von Rheinbaben als Reichskanzler weit angenehmer. Dem Zentrum ist Herr v. Bethmann Hollweg ein viel zu wenig impulsiver, in altpreußischen Traditionen befangener Bureau- krat; den Linksliberalen steht er zu weit rechts und den eine kräftige aggressive Auslands- und Kolonialpolitik wünschenden großindustriellen und kommerziellen Kreisen gilt er als indolent, schtvächlich, unfähig und vor allem als zn wenig be- kannt mit den auswärtigen Angelegenheiten: eine Unkenntnis. die ihn zwingt, dem Frciherrn von Schoen in seinem Ressort freie Hand zu lassen. Außerdem hat Herr v. Bethmann Hollweg es mit sehr einflußreichen Leuten verdorben: m i t d e n p a t r i ot i s ch e u Journalisten. Während sein Vorgänger, Fürst Bülow . ausgezeichnet verstand, sich eine gewisse Kategorie von �our- nalisten zu Freunden zu halten, sie empfing, mit ihnen plauderte und ihnen allerlei Nachrichten zukommen ließ, die sie dann an ihre Blätter gegen schöne Honorare absetzten, der- steht der neue Reichskanzler es sehr schlecht, sich eine gute Presse zu schaffen und den Prcßregisseur zu spielen. Deutlich spiegelt sich dieses Verhältnis des Herrn v. Beth- mann zu den vorgenannten„reich st reuen" Kreisen in den Auslassungen der sogenannten gutgesinnten Presse Wider. Nachdem neulich schon Herr v. Pappenheim im Parlament den Reichskanzler für übermüdet erklärt und ihm zur Beschaffung eines energischeren Stellvertreters geraten hat. spricht Herr Oertel in der„Deutschen Tageszeitung" dem Kanzler offen seine Mißbilligung über seine Unte.- lassunassünden, besonders über seinen Mangel an Schärfe gegenüber der„wüsten Steuerhetzc" aus und stellt ihm in Aussicht, daß, wenn er nicht„gewillt, entschlossen u n d g e n ü g e n d s e st s e i die deutschen , d. h. agrarischen Interessen kraftvoll zu wahren, die Tage seiner Reichskanzler- schaft gezählt feien. Und noch viel schärfer ziehen gegen ihn die Blätter der scharfmacherischen Großindustriellen los. So schreiben beispielsweise die„Berliner Neuesten Nachrichten" in einem„Am Scheidewege" überschriebenen Artikel: „Man bat dem Kanzler da und dort vorgeworfen, daß er sich zu wenig zeige, womöglich, daß er zu wenig spreche. Es war leicht, nur zu leicht, mit etlichen Sarkasmen zu seiner Rechtfertigung herbeizueilen und bor dem unnützen Reden zu warnen.... Woran es fehlt, ist nicht das Reden, das er mit weisem Maß, noch das Arbeiten, daS der Kanzler fast ohne Dlasz betreibt. Es ist das Handeln und das Leiten, das wir vermissen und dessen das Reich ohne großen Schaden nicht lange mehr entratcn kann. Wir können den mehrmals vernommenen Einwurf in keiner Weise anerkennen, man möge dem Kanzler doch Zeit lassen, sich zu entfalten. Ganz abgesehen davon, daß er immerhin ein halbes Jahr im Amte ist und einen großen Teil der Geschäfte (die gesamten inneren) doch früher schon aufs Genaueste kannte: die Zeit und das Bedürfnis des Landes stehen nicht still; sie warten nicht auf das Ausbcsinnen; sie harren der Hand. Die schwersten handelspolitischen Kämpfe stehen bevor. Politisch wird das gewaltige Anwachsen der imperialistischen Stimmen in England selbst dem leichtesten Herzen zu denlcu geben; und die vorauszusehende Parteigruppicrung(mit den Iren als totem Gewicht der Regierungsmehrheit) verheißt noch dazu baldige Neuwahlen. Die Dinge im nahen und fernen Osten erfordern andauernde Aufmerksamkeit, nein, mehr alz das» sie erfordern gute Politik! Und wenn wir nun diesen handelspolitischen und politischen Schwierigkeiten inS Auge sehen, so erfaßt uns doch der Ernst der Zeit und die geringe, um nicht zu sagen die nichtige Aussicht auf eine entschlossene Verfechtung der deutschen Stcl- hingen mit drückendsten Zweifeln. Die Behörde, die dem Reichskanzler unmittelbar unterstellt ist, das Auswärtige Amt, genießt in großen Kreisen der Nation nicht einen Bruchteil des Ansehens, dessen sie zur Ausfüllung ihres wichtigen Wir- kungskreises auf die Dauer bedarf— neben anderen Dingen, die ihr nicht minder abgehen. Noch steht eS bei ihm, sich zu entscheiden. Gelingt eS ihm nicht, daS tief zerstörte Vertrauen, daß er überhaupt zu leiten verstehe, wiederherzustellen, so wird das Staunen und Bedauern über das Versagen eines so verehrten Mannes doch das Verdilt nicht mehr aufhalten können." Und bereits scheinen diese an eine bestimmte Stelle ge- richteten Ausführungen der„nationale n" Blätter einen teilweisen Erfolg zu haben. Ein Berliner Telegramm der „Rhein . Wests. Ztg." meldet auf Grund einer Information, die von angeblich gut unterrichteter Seite kommt, daß die Tätigkeit des Herrn v. Schoen als Leiter der auswärtigen Politik als abgeschlossen betrachtet werden könne. Die Gründe für das vermutliche Scheiden des Staatssekretärs seien nicht allein in den überaus zahlreichen Angriffen zu suchen, die von den Parteien gegen ihn laut wurden, wegen der Art. wie er deutsche Interessen im Auslande vertrete,
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