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SU. 61. 27. ZahrMg. 1 KnlU des Jutraätlö" Jictlinti PolUIntt. Sünntag, 13. Marz 1910. Hbgeordnetenbaud. 19. Sitzung. Sonnabend, den 12. März 1910, vormittags 11 Uhr. Am Ministertisch: v. Bethmann Hollweg , d. Moltke. Die zweite Lefung der Cdahlrechtororlagc. (Zweiter Tag.) Die zweite Lesung der Wahlrechtsvorlage wird beim 8 S fortgesetzt. Nach diesem Paragraphen ist auf jede Vollzahl von 2S0 Einwohner ein Wahlmann zu wählen, soll jede Gemeinde in der Regel einen Stimmbezirk für sich bilden, sollen Gemeinden und GutSbezirke von weniger als 750 Einwohnern mit einer oder mehreren benachbarten Gemeinden zu einem Stimmbezirk veo einigt werden, sollen Gemeinden von 1750 oder mehr Einwohnern in Stimmbezirke eingeteilt werden und diese Stimmbezirke nicht weniger als 750 und nicht mehr als 174g Enwohner ent- halten dürfen. Die Nationalliberalen(Antrag Hobrecht) beantragen, die ur sprünglich« Regierungsvorlage wiederherzustellen, wonach erst Ge> meinden mit mehr als 3500 Einwohnern in Stimmbezirke ein- zuteilen sind. Ministerpräsident v. Bethmann Holl weg: Mehrere der Herren Redner haben gestern mit größerer oder geringerer Ausführlichkeit die Frage erörtert, welche Stellung die Regierung zu den vorliegenden Anträgen und Beschlüssen ein» nimmt. Für die Herren, welche bei dieser Frage besonders lange und freundlich verweilten, für die Herren von der fortschrittlichen Volkspartci und die Herren Sozialdemokraten ist die Antwort sehr einfach: Das einfache oder das potenzierte Rcichstagswahlrecht, das sie anstreben, werden wir ihnen nicht gewähren, und über diese Antwort konnten die Herren eigentlich in keinem Stadium der Verhandlungen im Zweifel sein. Im übrigen haben die Vor- schlage der Kommission für die Wahlreform eine neue Basis ge- schassen, aber diese Beschlüsse sind von der Kommission unter allem Vorbehalt gefaßt worden, und auch aus den gestrigen Verhand- lungen ist hervorgegangen, daß große Parteien dieses Hauses ihre endgültige Stellung davon abhängig machen wollen, wie sich das Gesetz im ganzen gestaltet. Gegenüber einer solchen Unbestimmt- heit vinkuliert(bindet) sich die Regierung nicht; sie hat in dem der Beschlußfassung unterbreiteten Gesetzentwurfe gezeigt, welche Stellung sie zu der Wahlresorm ennimmt; sie erwartet, daß nun- mehr das Haus der Abgeordneten seine Stellung zu diesen Re- oierungsvorschlägen durch bestimmte Beschlüsse präzisiert. Wir haben deshalb die Beschlüsse der Kommission, welche von den Re- gierungsvorschlägen grundsätzlich abweichen und in vielen Punkten auch zu Bedenken Anlaß geben, nicht zurückgewiesen, aber wir behalten uns unsere Stellungnahme zu den einzelnen Bestim- mungen vor, bis sich übersehen läßt, wie diese Bestimmungen in- einandergreifen und welche Gcsamtwirkung sie erzielen. Wir tragen damit dem Ernste der Situation, in der es uns wie der grogen Mehrheit des Hauses darauf ankommt, zu einein positiven Ergebnis zu gelangen, am besten Rechnung und besorgen des- halb auf diese Weise am zweckmäßigsten die Geschäfte des Landes. Abg. Schiffer(natl.) begründet den Antrag Hobrecht: Durch die Ausdehnung der Größe der Stimmbezirke erleichtern wir die Auswahl der Wahlmänner. Deshalb hat unser Antrag eine große prinzipielle Bedeutung. Wir sind schon an und für sich gegen die indirekte Wahl. Unsere Gegnerschaft wird aber noch verstärkt dadurch, daß der Kreis für die Entnahme der Wahlmänner so klein gezogen ist. Die Er- regung im VolkDist schon groß genug, eS bedurfte gar nicht der Aufpeltschung durch den Abg. Hirsch.(Sehr richtig! links.) Selbst von konservativer Seite aus hat man sich einmal gegen die indirekte Wahl ausgesprochen, weil bei dieser die Gevatterschaft zu sehr mitspricht!(Hört! hört! links.) Ein konservativer Wahl- aufruf hat 1905 zugegeben, daß die indirekte Wahl mehr an den Anfang des vorigen Jahrhunderts paßte und daß der Widerstand Sie pariser Meiler vor dem ßaftilldturm. Die reaktionäre Behandlung der französischen Revolution, die in Frankreich vornehmlich an den Namen von Tain« anknüpft und in Deutschland immer noch Verkünder wie auch Gläubige findet, hat die Legende aufgebracht, daß die großen Pariser Erhebungen der Jahre 1789 93 von dem Gesindel der Hauptstadt ausgegangen wären. Wenn man Taine glauben wollte, so war es das Lumpen- Proletariat, daS die Bastille gestürmt und dem alten Regime den Todesstoß versetzt hätte. Er erzählt von den vorbestraften Leuten, Bettlern, Vagabunden, Schmugglern usw., die in Paris zusammen- ?cströmt seien und den Gcwalthaufen der Revolution gebildet ätten. Was der reaktionäre Historiker- und seine Nachtreter uns da glauben machen wollen, ist gegen alle geschichtliche Erfahrung. die vielmehr dartut, daß das Lumpenproletariat durchweg dazu geneigt ist, als schwarze Hunderte in den Dienst der Reaktion zu treten. Faktisch hat in Frankreich die Sache ganz anders gelegen, als Taine sie darstellt. Wenn man die geschichtliche Wahrheit über die Frage feststellen will, wer das Menschcnmaterial für die Volks- erhebung von 1789 geliefert hat, so muß man von der ökonomischen Lage dieser und der unmittelbar vorhergehenden Zeit ausgehen, und dabei kommt man dann dem wirklichen Sachverhalt aus die Spur, allerdings einem ganz anderen Sachoerhalt als Taine ihn darstellt. Seit dem Jahre 1737, besonders aber 1788, war eine schwere Absatzkrisis über die französische Industrie hereingebrochen. Die Textilindustrie lag zuerst schwer darnieder. In Trohes z. B., wo 1786 noch 3000 Webstühle in Tätigkeit waren, gingen am Ende des Jahres 1737 nur noch 1157. In Sedan waren von 1000 Web- stühlcn bloß noch 200 beschäftigt, von den zugehörigen 15 000 Ar- beitern 9000 ohne Arbeit. In Amiens und Abbeville zählte man 46 000 Arbeitslose, davon 86 000 in der Tuchmacherei. 10 000 in der Strumpfwirkerei. Im Mittelpunkt der Scidenindustrie, in Lyon standen 1788 5400 Stühle still, 40 000- Arbeiter waren brot- loS und grenzenlosem Elend preisgegeben, das viele zum Selbst- mord trieb. In Paris lagen Anfang 1789 10 000 Manufaktur» arbeiter aus dem Pflaster, von der Arbeitslosigkeit in den übrigen Berufen, besonders unter den Bauarbeitern zu schweigen. Der Handelsintendant Tolozan sprach in einer Rede von der zahllosen Menge unglücklicher Arbeiter, die aller Hilfsmittel für sich und die ihrigen entblößt wären, und bezifferte die Zahl der Arbeits- losen im Königreich auf 200 000/ Um das Maß des Unglücks voll zu machen, trat auch noch seit dem Herbst des JahreS 1783 eine schwere Teuerung ein. Der Sommer dieses Jahres war fortgesetzt sehr trocken gewesen, und waS trotzdem aufgekommen war, ver- hagelte in einem großen Teil Frankreichs bei einem furchtbaren Unwetter am 13. Juli 1788. Bei schon großer Arbeitslosigkeit und raschsteigenden Lebensmittelpreisen brachte der Winter von 1783 auf 89 strenge Kälte, die die Leiden des Volkes noch steigerte. In Paris mutzten die Bauarbeiten monatelang ganz eingestellt werden. So war die Notlage hier und anderswo, als das Früh- jähr 1789 herankam, eine ganz außerordentlich schwere. In Paris »u»d einigen anderen Großstädten wurden Notstandsarbeiten einge» dagegen an sich gut zu verstehen sei.(Hört! hört! links.) Wie verhält es sich nun mit der von der Rechten unterstrichenenSelbst- losigkeit" und ihremEntgegenkommen", wenn sie trotzdem an der indirekten Wahl festhält, aber dafür die öffentliche Wahl preis- geben will! Es ist immer recht fragwürdig und seltsam, wenn eine große politische Partei ihreSelbstlosigkeit" zur Schau trägt. (Sehr richtig! links.) Das geheime Wahlrecht, das uns diese Vor- läge in Verbindung mit der indirekten Wahl bringt, ist ein Messer ohne Klinge, dem das Heft fehlt Durch die öffentliche Wahl der Abgeordneten können wir in weiten Gebieten des Landes vom geheimen Stimmrecht überhaupt nicht Gebrauch machen, weil wir die Wahlmänner, die öffentlich wählen müssen, nicht bekommen können.(Sehr richtig! links.) Es ist mehr als verwunderlich, daß das Zentrum, das angeblich das Reichstagswahlrecht für Preußen haben will, sich auf das Kompromiß eingelassen hat. Aber wer überhaupt noch fragt, weshalb das Zentrum politisch etwas tut oder läßt, der ist ein politischer Neuling.(Heiterkeit und Zustimmung links.) Diese Partei besitzt eine so wunderbare Anpassungsfähig- keit, daß wir darin mit ihr den Wettbewerb nicht ausnehmen können.(Heiterkeit links.) Nun hat der Abg. Herold gestern gesagt, wir hätten mit unse- rem Verhalten uns in das Fahrwasser der sozialdemokratischen Obstruktion begeben.(Sehr richtig! rechts und im Zentrum.) Ich habe bisher unter Obstruktion immer nur ein Verhalten verstanden, durch das die Geschäfte des Hauses aus unsachlichen Gründen er- schwert und verhindert werden.(Sehr richtig! rechts und im Zentrum.) Also wir sind einig! Nun werden Sie mir zugeben, daß durch den bloßen Antrag, namentlich abzustimmen, die Geschäfte des Hauses unmöglich verhindert werden.(Zuruf rechts: Durch das Hinausgehen!) Ich wüßte auch nicht, daß durch das Hinausgehen die Geschäfte des Hauses aufgehalten worden wären. Wenn man den AusdruckObstruktion" schon gebrauchen will, dann könnte man ihn viel eher gebrauchen gegen den konser- vativen Antrag auf öffentliche Stimmabgabe!(Sehr richtig! links.) Machen wir uns doch nichts vor. Der Antrag war lcdig- lich bestimmt für eine gewisse Wirkung draußen im Lande.(Sehr richtig! links.) Hunderte von Malen hat gerade die Rechte dagegen protestiert, daß hier Anträge gestellt werden, die lediglich im Lande Eindruck machen sollen.(Sehr richtig! links.) Gerade der Sozial- demokratie hat die Rechte es immer zum Vorwurf gemacht, daß sie hier zum Fenster hinaus verhandelt. Die Rechte wollte gar nicht, daß ihr Antrag angenommen würde.(Sehr richtig! links.) Der Antrag war unsachlich, er förderte unsere Geschäfte nicht, er war lediglich eine Demonstration.(Sehr richtig! links, Unruhe rechts.) Dagegen haben wir uns gewehrt� nicht um die Geschäfte des Hauses aufzuhalten, sondern um den Charakter dieses Antrages vor dem Lande klarzustellen.(Lebhafte Zustimmung links.) Und das ist uns gelungen.(Beifall links, Unruhe rechts.) Wenn der Abg. Herold seinen Schild über der Rechten gehalten hat, so mag der Rechten das ja hilfreich und gut gewesen sein. Aber wenn er uns vorwirft, daß wir die Bahnen der Sozialdemo- kratie wandeln und Obstruktion treiben, so haben diese Aus- führungen nur Helles Lachen bei uns ausgelöst.(Unruhe im Zen- trum.) Und wenn der Abg. Herold erklärte, er würde uns da» nicht vergessen, so akzeptieren wir das. Auch wir werden au den gestrige» Tag mit Freude und Genugtuung zurückdenken.(Leb- hafter Beifall links.) Der Abg. Herold verwahrte sich gestern sehr energisch da- gegen, daß man Erklärungen seiner Partei nicht glauben wolle. In demselben Atemzuge zweifelte er aber unsere Erklärung an, daß wir ehrlich und redlich an der Vorlage mitarbeiten wollten. <Sehr gut!, links.) Das Zentrum hat unsere Anträge, die die Einer- und Zweier-Bezirke, die Exzesse des plutokratischen Systems, beseitigen sollten, nicht angenommen.(Hört! hört! links.) Dazu gehört eine robuste politische Ueberzeugung! (Stürmische Zustimmung links. Lärm im Zentrum.) Die Koope- ratio» von Zentrum und Konservativen läuft darauf hinaus objektiv, subjektiv will ich das nicht sagen: Die Konservativen garantieren dem Zentrum den Westen, und das Zentrum garan- tiert den Konservativen den Osten. Auf Grund dieser Wirkung könnten sich die Herren unter der Firma von Heydcbrand«. Herold" führt. Aber es war für die große Mehrzahl der sich dazu Herbei- drängenden nicht möglich, dabei unterzukommen. In Paris lang- tcn Massen von auswärtigen Arbeitslosen an, die hier Lebens- unterhalt zu finden hofften, und diese Unglücklichen sind die an- geblichenBanditen", die nach den reaktionären Historikern in Paris einzogen. Nicht nur sie trieb die äußerste Not vielfach zum Betteln, sondern auch zahlreiche Pariser Arbeitslose, die nicht mehr aus noch ein wußten. Die Bettelei nahm in den Frühjahrs- monaten des JahreS 1789 in Paris einen erschreckenden Umfang an, und wir haben nun offizielles Aktenmaterial zur Verfügung, das dartut, daß es sich dabei im ganzen nicht um Lumpenprole- tarier handelt, sondern um verhungernde Arbeiter ohne Beschäfti- gung, die ihr und der ihrigen Elend dahin brachte, um ein Stück- che» Brot anzusprechen. Darüber gibt reiche Belehrung die intör- essante Veröffentlichung unbestreitbarer Dokumente durch Marcel Rouff im letzten Band derRevolution franeaise". Roufs hat die Aktenbündcl nutzbar gemacht, die mit Proto- kollen über die Vernehmung wegen Bettelei Verhafteter gefüllt sind. Bis jene Jahre sehr gering an Zahl, werden diese Protokolle seit dem Monat Januar 1789 ganz außerordentlich zahlreich. In einem einzigen Kommissariatsbezirk von Paris zählt Rouff für den Monat Januar 1789 nicht weniger als 104 Verhaftungen wegen Bettelei. Er gibt dann aus diesem und den folgenden Monaten aus an- deren Pariser Bezirken eine Menge von Auszügen aus den Akten, die bei all ihrer Trockenheit ein erschütterndes Bild entrollen von dem Elend der Arbeitslosigkeit, die über große Massen von Prole- tarier» beiderlei Geschlechts gekommen war. Da erscheint z. B. ein 25 Jahre alter Weber mit bekanntem Domizil, arbeitslos seit 15 Tagen. Ebenso lang erst sind eine 49 Jahre alte Tapeten- arbeiterin und eine 48 Jahre alte Wäschearbeiterin ohne Beschäfti- gung. Louise Helene Cessicux, 34 Jahre alt. bekannten Domizils, ist die Frau des Stellmachcrgehilfen Charles Franeois Nicolas Gervaix, der seit sechs Wochen arbeitslos ist. Sie selber ist Näherin und hat seit 7 Wochen keine Arbeit. Sie gibt zu, daß sie letzthin gebettelt hat, um einem kranken Gatten und ihren drei Kindern den Lebensunterhalt zu verschaffen: von diesen hat sie eins an der Brust. Seit sechs Wochen arbeitslos ist die 81jährige Spinnerin Marie Godard. Sie gibt zu, daß sie seit zwei Monaten bettelt, erklärt aber, daß ihr die Umstände nicht erlaubt haben, auf andere Weise zu existieren. In buntem Gemisch erscheinen Nutzhändlerinnen, Hosenmacherinnen, Gärtner, Maurergesellen. Ver- silbcrer, kurz, Leute von allen möglichen, durchweg proletarischen Be- rufen. Die L2jährige Obsthändlerin Jeanne Genevieve Sophie Tourte ist seit 15 Tagen ohne Arbeit, Zuflucht und Unterhalts- quellen und sagt aus,daß sie bettelt, daß sie sich im äußersten Elend befindet und weiter nichts verlangt, als ins Depot<d. h. ins Gefängnis) zu gehen". Die 26jährige Köchin Philiberte Merle erkennt es als wahr an, daß sie gebettelt hat, hebt aber hervor, daß eS geschehen ist, um ihr 2 Jahre altes Kind am Leben zu er- halten. So erklärt auch eine 56jährige Strumpfflickerin, daß sie seit 2 Tagen bettelt, um den Unterhalt für sich und ihre Tochter zu erlangen, die seit einem Monat krank ist. Der 26jährige Maurergeselle Silvain Bellon. bekannten Ausenthalts, wie fast alle Verbafteten, weist eS von sich, etwa als berufsmäßiger Bettler angesehen zu werden. Er erklärt,daß er nicht bettelt und nur um eine Gabe gebeten hat, wofür er sich einen Spaten und eine Hacke kaufen könnte, da er morgen beim EiSaufmachen arbeiten als Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit ins Handels- register eintragen lassen.(Große Heiterkeit und stürmische Zu- stimmung links. Rufe rechts: Au!) Das Kompromiß leidet an innerer Zwiespältigkeit; es gibt nur den Schein des geheimen Stimmrechts. Die geheime Stimmabgabe ist ohne die direkte Wahl nicht lebensfähig. Deshalb schlagen wir als Notbehels vor, wenigstens die Wahlmänner aus einem größeren Kreise zu nehmen. Eine gesunde Lösung der schweren Krisis, die jetzt auf Preußen ruht, ist nur möglich, wenn wir das geheime und direkte Stimmrecht ohne jede Einschränkung erhalten. Geben Sie(nach rechts) sich keiner Täuschung hin, die indirekte Wahl ist dem lintergange verfallen, nachdem die Re- gierung selbst der indirekten Wahl den Todesstoß versetzt hat. (Sehr richtig! links.) Es ist genau so wie mit der öffentlichen Wahl. Die öffentliche Wahl ist nicht mehr zu halten. Sie(nach rechts) haben ihr die moralische Unterlage weggenommen. Bei dem Kompromiß werden Sie und die großen Kreise des Bürger- tums keine innere Zufriedenheit empfinden, und ohne innere Zufriedenheit werden Sie diesem Werke keine Dauer verleihen, sondern nur eine Halbheit schaffen, die neue Stürme und neue Krisen heraufbeschwört.(Lebhafte Zustimmung links.) Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Kompromiß sowohl vom Herrenhaus wie von der Regierung angenommen wird. Wir sehen dem mit Sorge entgegen; das leugnen wir nicht. Aber ein endgültiger Sieg ist das nicht. Die Natur der Dinge, die Vernunft und die Gerechtigkeit können auch Sie nicht aushalten!(Stürmischer Bei- fall links.) Die Vernunft geht mit innerer Notwendigkeit ihren Weg, und sie geht über die indirekte Wahl und geht über die öffentliche Wahl hinweg, und wenn dem entgegengetreten wird, wird ein Widerstand entstehen, der manches unt wegschwemmen wird, was uns allen hoch und heilig ist.(Langanhaltenoer Beifall links. Zischen und Lärm rechts und im Zentrum, darauf erneut einsetzender Beifall links.) Abg. von Heydtbrand(kons.): Die Rede des Herrn Vorredners war ein Brillantfeuerwerk von Geist und Witz. Ich kann es ja begreifen, daß es Ihnen wünschenswert ist. wenn Einiges in Vergessenheit kommt.(Oho!- Rufe bei den Nationalliberalen.) Sie haben gestern durch Ihr herrliches Verhalten, dadurch� daß Sie eine namentliche Ab- stimmung beantragten und gleichzeitig den Saal verließen, sich dem Vorwurf ausgesetzt, ein taktisches Manöver ausgeführt zu haben, das ich bis jetzt von Ihrer Partei noch nicht gkwöhnt war. (Sehr richtig! rechts und im Zentrum.) Hat denn das Land nicht ein Recht, zu verlangen, daß über diese Frage nicht nur in der Kommission abgestimmt wird, sondern daß auch jeder eiw- zelne Abgeordnete hier im Plenum nach Pflicht und Gewissen diese Frage entscheidet?(Lebhafte Zustimmung rechts und im Zentrum.) Aber das hat die Linke durch Ihre Taktik verhindert. Ob das der Weg ist, zu einer Verständigung zu kommen, von der auch noch der Abg. Schiffer gesprochen hat, ist mir sehr zweifelhaft. (Sehr richtig! rechts und im Zentrum.) Wie ist es denn überhaupt gekommen, daß wir vor die Frage gestellt worden sind: geheime Wahl oder öffentliche Wahl? Ledig- lich die Haltung der nationalliberalen Partei hat dazu geführt, die ursprünglich mit uns für die öffentliche Wahl war und ich weiß nicht aus welchem Grunde sich jetzt für die geheim« Wahl entschieden hat Wenn wir einer solchen Situation gegen- über den Sachverhalt unzweideutig feststellen wollen, dann ist da? keine Demonstration, sondern dann leitet uns auch da der Wille. etwas zustande zu bringen, etwas zustande zu bringen auch gegen» über einem Votum, das sich gegen uns richtet. Wir wollen aus der Vorlage wenigstens das machen, was wir vor dem Lande und vor unserem Gewisien vertreten können.(Sehr richtig! rechts.) Ich wiederhole nochmals, daß durch das Vorgehen der Linken am gestrigen Tage es uns sehr schwer werden wird, weiter den Weg des Entgegenkommens zu gehen.(Lebhafte Zustimmung rechts; Zuruf des Abg. Dr. Frieders(natl.): Sie sind uns nicht entgegenkommen!) Das muß festgenagelt werden! Ist die geheime Wahl nicht ein Zugeständnis?(Stürmische Rufe links: Nein! nein!) Ist es nicht ein Zugeständnis gerade gegenüber Ihrer Partei?(Lebhafte Zurufe bei den Nationalliberalen: Nein! nein!) Wir haben trotz Ihrer gestrigen Taktik tatsächlich das zuwege ge« soll". Ein 22jährige Näherin gibt an, daß der Mangel an Arbeit sie gezwungen habe, seit 3 Tagen zu betteln. Die nämliche Aufeinanderfolge von Arbeitslosen weisen die Protokolle für den Monat Februar auf. Wäscherinnen, Vergolder, Maurer , Schlossergeselle». Fuhrleute usw. erscheinen vor dem ver- nehmenden Beamten und berufen sich auf ihre Arbeitslosigkeit. Eine 59jährige Wäscherin, die seit 7 Wochen arbeitslos ist, be- streitet gebettelt zu haben; sie will sich vor der Markthalle auf- gehalten haben, um dort Gemüfeblätter aufzulesen. Im März erscheint ein Obdachloser, der 72)ährige Winzer Bachelier: er ist vielleicht zum Lumpenproletarier heruntergesunken, einer der wenigen dieses Zeichens, die überhaupt in dieser ganzen Masse von Opfern der Gesellschaft zu finden sind. Ein b3jShriger Strumpfarbeiter mit bekanntem Aufenthalt sagt aus, daß er heute gebettelt hat, weil er sich im alleräußersten Elend befindet und nichts mehr hat um zu existieren. Und so geht die lang« Liste der beschäftigungslosen Arbeiter und Arbeiterinnen weiter im April, Mai, Juni, in diesem wie in den anderen Kommissariaten, deren Akten Rouff durchgemustert hat. Die 59jährige Hosenmacherin Louise Rousseau, bekannten Aufenthalts, rechtfertigt sich mit den lakonischen Worten, daß Armut kein Laster ist. Ein 57jähriger Gärtner bekannten Aufenthalts sagt aus, daß er bettelt, weil er keine Beschäftigung mehr hat. Eine 57jährlge Wäscherin, seit mehreren Tagen arbeitslos, bettelt, weil sie kein Brot mehr hat. Ein 51jähriger Seiler erklärt:Keine Arbeit, nichts mehr zu leben." Eine 69jährige Wäschearlieiterinbettelt, um zu leben, keine Arbeit". Ein 56jähriger Tischlergesellehat nichts mehr zu leben finden können". Die Bevölkerung wollte von diesen Ver- Haftungen nichts wissen, sondern sah es offenbar als blutige? Unrecht an, wenn diese ausgehungerten Arbeitslosen, diese Opfer der Gesellschaft auch obendrein noch wie Verbrecher behandelt wer- den sollten. Eines Tages, im Mai 1789, gab es einen lebhaften Ausbruch des Unwillens über dieses Verfahren. Am Nachmittag des 25. Mai hatten sogenannteBeobachter' von der Polizei, wie in Hardys handschriftlichem Tagebuch über diese Zeit mitgeteilt wird, mehrere Frauen, die vom Lande hereingekommen waren, um sich das Brot zu erbetteln, das sie zu Hause nicht bezahlen konnten, in Haft genommen und wollten sie unter einer Bedeckung von mehreren Pariser Wachsoldaten zum Kommissar Odent nach der rue St. Andre deS arts schaffen. Da scharte sich eine Volks- menge zusammen, unwillig darüber, daß man diese Aermsten hindern wollte, sich das Brot zu verschaffen, dessen sie entbehrten, und machte Miene, über dieBeobachter" herzufallen. Diese Herr- schaften verspürten keinen Appetit, es auf einen Zusammenstoß ankommen zu lassen, sondern machten sich schleunigst aus dem Staube und ließen ihre Gefangenen im Stich. Die erbitterte Stimmung der Arbeitslosen bedarf weiter keiner Ausmalung. Aber auch die noch nicht aufs Pflaster ge- worfenen Arbeiter waren voll Grimm; denn auch sie nagten bei den niedrigen Löhnen und hohen Lebensmittelpreisen am Hunger- tuch und mußten jeden Augenblick gewärtig sein, ganz aus dem Brot zu kommen. Notleidende Arbeiter waren es denn auch, von denen der erste gewaltsame Ausbruch des Jahres 1789 in Paris ausging, jene Vorgänge vom 27. und 28. April, die mit Dcmon- stralionen gegen den Tapetenfabrikanten Reveillon. nebenher auch gegen den Salpeterfabrikanten Henriot begannen und mit einem Kampf zwischen Militär und Volksmassen endigten. Such