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St. 134. 27. Zchrg. KtilW des Lmiilts"- AlWk« fm Kßki, ZUkli, Ueßtli ll. Iltm 1910. Untersuchungshaft unä Legalitäts- pr!n3ip. Aus der Justizkommission. Im weiteren Verlauf der Debatte über den§ 148 der Straf- Prozeßordnung rückten in der Justizkommission selbst die Auti- suniten von den Nationalliberalen ab. Die Nationalliberalen wollten die den Verkehr des Verteidigers mit dem verhafteten Be- schuldigten bor der Eröffnung des Hauptverfahrens hemmenden Bestimmungen des Absatz 2 des§ 148 im Interesse der Staats- anwaltschaft noch weiter ausdehnen. Ein Antrag Spahn, der diese Kontrollbcstimmungcn zugunsten des Verteidigers ein wenig eindämmen wollte, forderte auch für den Verteidiger ein Be- schwerderecht, wenn ihm im Verkehr mit dem Verhafteten Er- schwerungen bereitet werden. Die Regierungsvertretcr bestritten wiederholt, daß in den Bestimmungen der Rc- gicrungsvorlage ein Mißtrauen gegen die Rechtsanwälte liege; nian müsse sich aber auch gegen eventuelle Mißbräuche sichern. Unter Ablehnung aller Anträge wurden die Bestimmungen der Regierungsvorlage mit knapper Mehrheit angenommen. ' Für diese Krontrollmaßregeln gegen die Rechtsanwälte stimmte mit den Parteien der Rechten auch derfreisinnige" Abgeordnete Müller-Jserlohn. Mit der dcbattelosen Annahme der ZZ 149 und 150 war das erste Buch:Allgemeine Vorschriften" der Strafprozeßordnung er- ledigt. Sodann trat die Kommission in die Beratung eines Antrages des Zentrums ein, der um st a t i st i s ch e Mitteilungen über die Anwendung der Untersuchungshaft für das erste Halbjahr 1908 ersucht. Diese Statistik sollte einen lieber- blick geben über die Zahl der Fälle der Untersuchungshaft, der Gründe(Flucht- oder Kollusionsgefahr), der Art des Abschlusses der Untersuchungshaft und der Dauer. Ferner soll die Statistik erkennen lassen, in welchem Verhältnis die Dauer der Unter- suchungshaft zum Inhalt des Urteils stand, wie die Untersuchungs- Haft auf die Strafe angerechnet und wie oft Entschädigung wegen unschuldig erlittener Untersuchungshaft gezahlt wurde. Die Zahlen sollten nach den einzelnen Oberlandesgerichten gegliedert werden. Die Regierungsvertreter erklärten, eine solche Statt st ik nicht vorlegen zu können. Einmal seien die ersten über das Reich sich erstreckenden Erhebungen nicht nach diesem sorgfältig gegliederten System, sondern nur allgemein vorgenommen worden, zum anderen werde die Untersuchungshaft in den verschiedenen Oberlandesgerichten derart verschieden ange- wendet, daß sich schon daraus jede vergleichbaren Gegenüber- stellungen unmöglich machten. Die Ausführungen stießen auf leb- haften Widerspruch, insbesondere kritisierten unsere Genossen die Antwort der Regierungskommissare in scharfer Weise. Vor allem wies Genosse Stadthagen auf die Notwendigkeit einer der- artigen Statistik, die er im Reichstag schon seit Jahrzehnten ge° fordert hat, hin. Wenn die Regierung eine solche Statistik bis zur zweiten Lesung der Kommission nicht vorlegen kann, dann müßten die Anträge zur Einschränkung der Untersuchngshaft an- genommen werden; denn die Antwort der Regierung beweise, daß keine Notwendigkeit bestehe, die Untersuchungshaft in dem beab- sichtigten Umfang zu ermöglichen. Der Antrag wurde mit starker Mehrheit angenommen. Das zweite Buch der Strafprozeßordnung behandelt das Ver- fahren in erster Instanz und der erste Abschnitt betrifft die öffentliche Klage. Da kam es beim z 152 zu einer lebhaften Auseinandersetzung. Nach dem dritten Absatz des Paragraphen kann eine Klage nach Eröffnung der Untersuchung nicht zurückgenommen werden. Die Nationalliberalen beantragten, daß die Klage unter Zustimmung des Beschuldigten zurückgezogen werden kann. Gegen den Antrag wendeten sich unsere Genossen; ihnen schlössen sich einige freisinnige und Zentrumsredner an. Der Antrag wurde gegen die Stimmen der Nationalliberalen, Konservativen und Reichsparteiler abgelehnt. Damit war der Kampf um das L e g a l i t ä t s p r i n z i p, die Verpflichtung des Staatsanwalts, öffentliche Klage zu erheben, er- öffnet. Im Gegensatz zu diesem will die Vorlage das Willkür- recht der Staatsanwaltschaft erweitern und das Opportunitätsprinzip einführen. Sie schlägt im Z 153 vor: In Sachen, die vor den Amtsgerichten ohne Schöffen zu verhandeln sind, k a n n die Staatsmiwaltschaft von der Erhebung der Klage absehen;, wenn die Verfolgung des Verdächtigen wegen Geringfügigkeit der Verfehlung nicht geboten erscheint." Unsere Genossen und Abg. Groeber boantragdm, den Para- g-raphen zu st r e i ch e n. Abg. Traoger eröffnete die Diskussion, indem er sich in scharfer Weise gegen die Erweiterung der staatsanwaltlichen Dill« kür bei der Erhebung von Anklagen wendete. Genosse Stadt- Hagen begründete darauf in längeren gründlichen Ausführungen den sozialdemokratischen Antrag. In den Bestimmungen des ss 153 komme in unverblümtester Weise der Klassencharakter unserer Justiz zum Ausdruck. Stellt mau die Erhebung von Anklagen in Bagatellsachen" in das Belieben der Staatsanwaltschaft, dann wird darunter in erster Linie die Arbeiterschaft zu leiden haben. Die Verstöße gegen die Arbeiterschutzbestimmungen(vor allen Dingen kommen hierbei die Bestimmungen über die Sonntagsruhe. Ladenschluß, Maximalarbeitszeit der Arbeiterinnen und das Ver- einsrecht der Arbeiter in Betracht) würden darnach künftig voll- ständig straffrei bleiben. Für politische Schikanierungen würden neue Handhaben geschaffen, die Strafrechtspflege noch weiter ge- schädigt und die Staatsanwaltschaft mit mehr Vorrechten ausgc- stattet. Das Messen mit zweierlei Maß werde legalisiert, statt den Wust vexatori scher Strafvorschriften zu beseitigen�, werde dieser konserviert. Groeber schloß sich den Bedenken zum größten Teil an. Er hob hervor, daß selbst der Verein sächsischer Staatsanwälte sich für die völlige Streichung des§153 erklärt hätte. Der Z 153 bringe eine unheilvolle Unsicherheit in das Strafverfahren. Von der Regierung verteidigte zuerst der Oberlandesgerichts- rat Schulz den Entlvurf. Er bestritt, daß mit der neuen Be- stimmung die Stellung der Staatsanwaltschaft gestärkt werden solle. Auch entbehre die Neuerung jeder politischen Tendenz. Ein unbeschränktes Legalitätsprinzip lasse sich nicht empfehlen; über den Kreis der Einschränkung könne man streiten. Verfehlungen gegen Arbeiterschutzbestimmungen seien keine geringfügigen Ver, gehen, sondern solche erheblicher Natur. Hier müsse auch, da dabei wesentlich öffentliche Interessen mitspielten, künftig die Staats- anwaltschaft eingreifen und die Aufsichtsbehörden der letzteren würden dafür sorgen, daß die Uebertretungen der Arbeiterschutz- bcstimmungen durch den neuen§ 153 nicht erleichtert würden. Die Neuerung entspreche den Wünschen der Mehrheit des Volkes. Abg. H e i n z e(natl.) erkannte einige der vorgebrachten Be- denken an; er isr aber für den Antrag. Abg. Graes spricht gegen den§ 153 in seiner jetzigen Fassung. Er will aber das Be- lieben der Staatsanwaltschaft zur Anilageerhebung walten lassen; diese solle entscheiden, ob ein öffentliches Interesse an der Straf- Verfolgung vorliege. Der Abg. Müller- Iserlohn(Fortschr. Vp.) erklärte, daß er als früherer Freund dieser Neuerung durch die dagegen geltend gemachten Bedenken zu einem Gegner der Einschränkung des Legalitätsprinzips geworden sei. Zu wieder- holten Malen ergriffen die Regierungsvertreter das Wort zur Ver- teidigung der Regierungsvorlage. Einer der Regierungs- kommissare gab zu, daß durch die neue Bestimmung im§ 153 theoretisch die Möglichkeit einer ungleichen Anwendung des Strafgesetzes bestehe, aber die öffentliche Kritik und insbesondere die Kontrolle des Reichstags werde für die Praxis derart mög- Itche Ungleichheiten korrigieren. Diesem starken Optimismus traten Abg. Gröber und unsere Genoffen entgegen. Sie ver- wiesen darauf, wie man bisher aus formalen Gründen dem Reichstag jede Kritik der Rechtsprechungspraxis unmöglich habe 1 machen wollen. Von den Konservativen trat der Abg G i e s e 'für die Regierungsvorlage ein, der im Z 153 einengesunden Fortschritt" erblickte. Zugleich gab Giese seiner Verwunderung über die ablehnende Haltung der Sozialdemokraten Ausdruck. Den Ausführungen der Regierungsvertreter gegenüber wies Stadthagcn darauf hin, daß, wenn man gegen die zu er- wartende Milde der Staatsanwaltschaft auf die öffentliche Kritik hofft, die Folge davon nur neue Klagen wegen Beleidigungen der Staatsanwaltschaft sein würden. Will man kleine und kleinliche Bestrafungen beseitigen, dann müsse man das Strafgesetzbuch ändern und eine große Fülle von ganz unnötigen Strafen streichen. Vor allen Tingen müßten auch die vielen Polizeistrafen revidiert und vermindert werden. Zugunsten der Jugendgerichte könnten die Bestimmungen des Z 153 nicht angeführt werden; denn für die Jugendgerichte seien besondere Bestimmungen zu treffen. Auch Abg Spahn sprach gegen den§ 153, und zwar in erster Linie, um die mit vieler Mühe geschaffenen Arbeiterschutzgesetze aufrecht zu erhalten. Es gäbe nichts Unsozialeres als den Ge- danken, der dem§ 153 zugrunde liege. Aber auch aus Erwägungen kriminaler Natur sei er gegen den§ 153. Von den National- l i b e l a l e n und Konservativen ging ein Antrag ein, der die Erhebung resp. Einstellung der Klage von der Uebereinstimmung der Staatsanwaltschaft und des zuständigen Gerichts abhängig machen will. Die Abstimmung über den H 153 und die dazu ge- stellten Anträge werden auf die Dienstagssitzung vertagt. Die Debatte hatte fast zwei volle Sitzungen in Anspruch genommen. Nach dem H lo4 kann die Staatsanwaltschaft von der Er- Hebung einer Klage auch dann in anderen Sachen abstehen, wenn der Beschuldigte wegen einer anderen Tat eine erheblich größere Strafe zu erwarten hat. Ist die Klage bereits erhoben, so kann sie eingestellt, doch nach der Rechtskraft des Urteils in der anderen Sache binnen drei Monaten auf Antrag des Staatsanwalts fort- geführt werden. Dazu lagen von unseren Genossen und dem Abg. Gröber lediglich redaktionelle Anträge vor, während die Nationalliberalen beantragten, während der Dauer der Erledi- gung der anderen, Sache für das Klageverfahren die Verjährung zu unterbrechen. Auch hierüber wird, da der§ 154 mit dem § 153 in Verbindung steht, die Abstimmung ausgesetzt. Hiiö Induftnc und Handel Industrie und Bürgersinn. t�ei der letzten Stadtverorduetenwahl in Dortmund eroberten unsere Genossen zum erstenmal einige Sitze. Alsbald enthüllten sie im Stadtparlament eine unglaubliche Liebesgaben- Politik zugunsten der Großindustrie. Diese Politik wiesen sie nach beim Eleltrizitätswerk, beim Tarif für Kanalanschlüsse. hauptsächlich aber beim Wasserwerk. Beim Etat des Wasscriverks konstatierte der sozialdemokratische Redner, daß die Industrie das Wasser zu Preisen geliefert bekomme, die unter die Selbstkosten hinabgehen. Die Industrie zahle 56 Pf. pro Kubikmeter, der Selbstkostenpreis betrage aber 6 Pf. Die Bürger mußten bisher 10 Pf. zahlen. Der niedrige Preis, den die Industrie zahlt, läßt befürchten, daß demnächst das Wasieriverk mit Unterbilanz arbeitet. Um das zu ver- hindern, beschloß daS Stadtverordnetenkollegium, noch vor dem Ein tritt unserer Genossen, eine Erhöhung des Wasserpreises, nicht für die Industrie, die zu wenig zahlt, sondern für die Bürger, die nun statt bisher 10 Pf. 11 Pf. zahlen müssen. Manche Hausagrarier benutzten die Preiserhöhung alS will- kommenen Anlaß, den Arbeitern die WohnungSmieten zu st e i g e r n. Die industriellen Werke, die den Hauptvorteil von einer solchen Politik haben, sind selbstverständlich durch ihre Direk toren in, Stadtverordnetenkollegium vertreten und üben dadurch maßgebenden Einfluß ans Diese LiebeSgabenpolitik, erspart dem Eisenwerk Hösch allein beim Wasserverbrauch eine Summe, die nicht viel niedriger ist als der Betrag, den das Werk an Ein kommensteuer zahlt. Unser Redner verlangte eine Aenderung des Tarifs für die Industrie, die mindestens 7 bis 8 Pf. zahlen müsse. Dagegen protestierten Vertreter der Großindustrie; solche Opfer dürfe man der Industrie nicht zumuten. Der Stadtv. Haar mann meinte, der Vorschlag des sozialdemo- kratischen Redner? sei ganz nett, aber nicht durchführbar, denn die Industrie besitze nun einmal keinen Bürgersinn! Der Oberbürgernieister Schmieding stimmte natürlich den AuSsührungen der Vertreter der Industrie zu. Ein neueres Vorkommnis ist geeignet, die Meinung zu erwecken, daß die Herren es nun bereuen, ihre tiefinnerste Gesinnung zum Ausdruck gebracht zu haben. Die Zeche Glückauf-Segen ist nach durchgeführtem Konkurs int andere Hände übergegangen, die Stadt Dortmund erklärte den bisherigen Wasser- liefern ngsvertrag für erloschen und erhöhte den Preis des Wassers von 6 auf 8 Pf. Die Zeche machte zunächst Schwierigkeiten, sie mußte sich aber dazu bequemen, den Preis zu zahlen. Die großen Werke haben meist noch langfristige Verträge zu niedrigsten Preise» abgeschlossen. Viehmangel. Im März d. I. ist die höchste Zahl der jemals geschlachteten Kälber mit 542 000 Stück erreicht worden, also weit über Ve Million Kälber in einem einzigen Monat. Hierbei kann naturgemäß für die Aufzucht absolut nichts übrig bleiben, denn bei einem Kuhbestand von knapp 11 Millionen dürften kaum mehr als 7.6 bis 7,7 Mill. Kälber geboren werden. Das ergibt sich nach den Erhebungen im Jahre 1899/1900. Bei der Viehzählung 1907 wurden 10 967 000 Kühe gezählt, während der Gcsaintrinderbestand am 1. Dezember 1909 in Preußen und Sachsen erheblich kleiner war als 1907 und infolgedessen auch anzunehmen ist, daß der Kuhbestand im Reich eine Verminderung erfahren habe. Im abgelaufenen Jahre find 4 121 550 Rinder und 5 136 770 Kälber, zusammen 9 268 320 Stück Rindvieh geschlachtet worden, so daß trotz der Einfuhr von 209 540 Stück Rindvieh 9 048 780 Kälber geboren werden müßten, um den statu« quo zu erhalten. Es liegt mithin ein offenbares Manko um l'/o Millionen Kälber vor, denn die Kälberschlachtungen sind im ersten Vierteljahre 1910 wieder um 165 000 Stück größer gewesen, als im Jahre vorher._ Weitere MonopolisiernngSdestrebnuge« des amerikanischen StahltrusteS. Infolge von Preisdifferenzen mit den Eisenhändlern, die daraufhin mit unabhängigen Werken in Verbindung traten, hat der Trust, wie berichtet wird, begonnen, den W a r e n a b s a tz in die eigene Hand zu nehmen. Nachdem bereits vor zwei Jahren in New Jersey ein Lager mit Erfolg eingerichtet worden ist, sind nun weitere in Pittsburg , St. Louis und New Orleans gefolgt. Eine Reihe von Verkaufsstellen sollen längs des Mississippistromes errichtet werden. Der Trust gewährt seinen Abnehmern den Vorteil, daß er die Waren zum Original-Pittsburger Preise, ohne Berechnung der Frachtkosten, liefert. Wieder ein Spatenstich zum Grabe des Rittelstandes. Neue Zündholzfabrik. Obwohl seit mehreren Monaten der Be- darf an Zündhölzern infolge der Steuerbelastung abgenommen hat, werden im Ausland, besonders in Ungarn , fortgesetzt neue Zündholz- fabriken eröffnet, die in der Hauptsache Ausfuhr betreiben. Vor einiger Zeit ist nun wiederum in Budapest ein größeres Unternehmen ins Leben gerufen worden, welches in wenigen Wochen mit der Fabrikation beginnen wird. Preisermäßigung. Der belgische Stahlwerksverband beschloß nach einer Meldung desB. T." eine Ermäßigung der Halbzeug- preise aller Sorten um 5,50 Fr. pro Tonne vom 1. Juli ab eintreten zu lassen._ Gericbt9-Zeitung. Ein sich beleidigt fühlender Gendarm. Vor dem Amtsgericht Lichterfelde wurde am Freitag gegen den Genossen Göhre aus Zchlcndorf der Prozeß wegen Gendarmen- bcleidigung verhandelt, der vor vier Wochen vertagt worden war, weil neben dem Zehlendorfer Gendarmeriewachtmcister Weiß noch einige von ihm benannte Personen über die ihm angeblich zugefügte Beleidigung gehört werden sollten. Göhre wurde beschuldigt, in einer Gemeindewählerversammlung für Zehlcndorf am 12. März gegen den überwachenden Gcndarmeriewachtmeister Weiß mit einer auf ihn hinweisenden Handbcwegung geäußert zu haben:Auch die Gendarmen haben, wie vor Gericht festgestellt ist, die Unwahrheit gesagt." Die Anklagebehörde und der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Heinemann, hatten«inen großen Zeugenapparat aufgeboten; im ganzen waren 12 Personen geladen. Der Angeklagte erklärte, daß er allerdings auch über Weiß, aber in ganz anderen Worten sich geäußert habe. In jene, von bürgerlichen Vereinen einberufene allgemeine Wählerversammlung seien nach ortsüblichem Brauch die Wahlkandidaten aller Parteien gegangen, und neben den anderen sei auch er zum Worte gekommen. Auf die Behauptung eines Redners, daß in Zchlcndorf die Sozial- demokratcn doch wirklich über nichts zu klagen hätten, habe er er- widert, der Herr kenne offenbar die Zehlendorfer Zustände nicht. Er, Göhre, habe dann der Versammlung erzählt, was er selber in gesellschaftlicher Hinsicht und auch mit Behörden durchzumachen gehabt habe, seit er zur Sozialdemokratie übergetreten war. Seine Klagen habe er zusammengefaßt in einen humoristischen Satz, der etwa lautete:Als ich noch Pastor war, war jeder Gendarm geneigt, vor mir stramm zu stehen; seit ich Sozialdemokrat bin, möchte jeder Gendarm sozusagen verlangen, daß ich vor ihm stramm stehe." Weiter habe er ausgeführt, daß auch in Zehlendorf Sozialdemo- kraten anscheinend sehr scharf angefaßt würden, und daß man ihn selber schon wegen Dinge angezeigt habe, an denen er gar nicht beteiligt gewesen sei. Diese Aeußerung habe sich gegen Weiß ge« richtet, und auf den habe er dabei auch direkt mit der Hand hin- gewiesen. Dem Gericht gab der Angeklagte auch Auskunft darüber. welchen Vorgang er dabei im Sinne gehabt hatte. Für die Boy- kottierung des LokalsFürstenhof" durch die Zehlendorfer Arbeiter- bevölkerung sei wunderlicherweise er als vermeintlicherFührer" verantwortlich gemacht worden, obwohl er dabei gar keineleitende" Rolle gespielt habe. Gelegentlich habe man ihm sogar ein Straf- Mandat besorgt, weil er in der Nähe des Lokals unbefugt verweilt haben sollte. Auch sei er beschuldigt worden, vor demFürsten- Hof" mit einem Sclterwasserkutscher gezankt zu haben, um diesen zu bewegen, daß er an das boykottierte Lokal keine Ware abliefere. In einem vom Lokalinhaber angestrengten Schadenersatzprozch habe das gegen Göhre der Gendarmericwachtmeister Weiß bekundet, es sei aber durch den Kutscher und einen anderen Zeugen nachgewiesen worden, daß das unzutreffend war. Tatsächlich sei Göhre, als ein Fremder mit dem Kutscher zankte, zufällig nur vorübergegangen; der Kutscher selber habe vor Gericht versichert, Göhre gar nicht zu kennen. Diesen'Vorgang habe er, Göhre, mit jener gegen Weiß gerichteben Aeußerung gemeint. Sei sie eine Beleidigung, so wolle er dafür büßen. Aber das, was die Anklage behaupte, habe er nicht gesagt. In der Beweiserhebung bekundete Gcndarmeriewachtmeister Weiß, er habe genau gehört und auch sofort erklärt, daß Göhre die inkriminierte Aeußerung getan hatte. Zeuge wurde gefragt, was er denn in jenem Schadcnersahprozcß ausgesagt habe.Na. alles, was ich beobachtet hatte!" antwortete er dem Verteidiger. Auf die Frage:Um welche Vorgänge handelte es sich denn?" erklärte er: Das kann ich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen." Von den übrigen Zeugen bekundeten die einen, auch sie hätten jene Acuße« rung so gehört, andere konnten nur sagen, daß sie sich nicht mehr rinnertcn, noch andere versicherten, Göhre habe bestimmt nicht so sich geäußert. Zeugen, deren Aussagen zugunsten des Angeklagten lauteten, wurden vom Vorsitzenden gefragt, ob sie der Sozialdemo- kratie angehören. Der Amtsanwalt hielt den Angeklagten für überführt und be- antragt« 199 M. Geldstrafe. Der angebotene Beweis der Wahr- heit der gegen Weiß erhobenen Beschuldigung sei als unerheblich abzulehnen, denn selbst wenn die Wahrheit zu beweisen wäre, so sei jene Aeußerung eine strafbare Beleidigung. Der Verteidiger Dr. Hcinemann führte aus, der Angeklagte müsse freigesprochen werden, weil der Sachverhalt nicht geklärt sei. Kein Versamm» lungsteilnehmer vermöge über solche Aeußerungen hinterher etwas Zuverlässiges zu bekunden, der Gendarm aber werde geradezu durch seinen Beruf dazu verführt, seine vermeintlichen Wahr» nehmungen für zutreffend zu halten. Im übrigen sei«S sehr gleichgültig, ob der Angeklagte so oder so sich geäußert habe. Frei- sprcchung sei schon deshalb geboten, weil unter allen Umständen Wahrnehmung berechtigter Interessen ihm zuzubilligen sei. Er habe als Gemeindemitglied wie als Wahlkandidat zeigen wollen, wie sehr ein Sozialdemokrat auch in Zehlendorf Anlaß haben könne, sich zu beklagen. Der Fall Weiß, für den der Wahrheitsbeweis geführt werden könne, sei ein Beispiel gewesen, das er mit andern Worten gar nicht darstellen konnte, wenn er nicht etwas ganz anderes sagen wollte, als er meinte. Das Reichsgerichtz habe in einem Verfahren gegen einen Gemeindewahlkandidaten von Friedrichshagen diesen Grundsatz aufgestellt und seine Kritik der von ihm als horrend und himmelschreiend bezeichneten©chulzuständq Friedrichshagens für straffrei erklärt. Das Gericht sah die inkriminierte Aeußerung als erwiesen an, fällte aber das Urteil: der Angeklagte ist freizusprechen. Die Be- gründung schloß sich den Darlegungen des Verteidigers an, daß G. in Wahrnehmung berechtigter Interessen handelte, als er den Fall Weiß jenem Redner entgegenhielt, der Zehlendorf als Dorado für Sozialdemokraten schilderte. Vermischtes. Die Leiche im Koffer. Im Comer See haben Fischer mit ihren Netzen einen Koffer aufgefischt der die Leiche einer Frau enthielt. In der Tote»: