nur mgglich, wenn nicht einzelnen Gemeinden, sondern leistungsfähigengroßen Verbänden, wie es heute sei, die Ausführung übertragen Wird.Wünschenswert sei, daß recht srüh überwiesen und nicht„durchHalde Maßregeln, durch Jugendgerichte usw. die Sache der-schleppt" wird. Ihm gegenüber hob Amtsrichter W i e m a n n-Pankow hervor, daß es Pflicht sei, die Anordnung derFürsorgeerziehung möglichst nicht zu übereilen. Gegen die berufs-mätzige Sammelvornmndschaft machte er geltend, daß gerade beigefährdeten Kindern sie oft schlechter als Einzelvormundschaft sei,weil sie.am grünen Tische sitze". In einem Schlußwort er-widerte Dr. Alexander. Unter anderem bemerlte er zu SeiffertSAusführungen, dieser habe ihn mißverstanden, wenn er annehme.daß er, der Referent, über Mißerfolge der Fürsorgeerziehung klage.Ueber»Kinderschutzämter in Oesterreich" referierteDr. Kraus, Leiter des Brünner Kinderschutzamtes. Weit aus-holend. rollte er die ganze Geschichte deö KinderschuyeS inOesterreich auf, der namentlich in der allerletzten Zeit im Zusammen-hang mit den Bestrebungen aus Einsührung der Berufsvormundichafteine starke Förderung erfahre» habe. Die wirtschaftlich ungenügendfundierte proletarische Familie, wie sie im IS. Jahrhundert auf-gekommen sei, habe die Beewnhrlosiing eine Massenerscheinung werdenlassen. Zunächst habe die freie Liebestüngkeit eingegriffen, jetztober solle der Kinderschuh aus eine festere Grundlage gestellt werdendurch gesetzliche Regelung, die allerdings bei den gegenwärtigenpolitischen Verhältnissen Oesterreichs einstweilen wenig Aussichtauf Verwirklichung habe. Eingehend schilderte Referent dieKinderschutzämter, die als eine Veranstaltung der Gemeindenins Leben gerufen worden sind. Ihre Aufgabe sei vor allem auchdie. die Mutter zu schützen, denn Muttersürsorge sei die beste Kinder-fürsorge. Den Müttern werde Arbeit beschafft, um ihnen zu er-möglichen, daß sie mit ihren Kindern zusamiiieiibleiben.In der Diskussion sprachen drei Gäste auS Oesterreich,darnnter WienS erster Vizebürgermeister Dr. P o r z e r, der diegeplante Reform des österreichischen VormundschastSwefenS erörterte.Für Wien sei die Einführung der Berufsvormundschaft bereits inVorbereitung, doch werde sie sich zunächst nur auf die der Armen-pflege anheimgefallenen Kinder erstrecken.Vier Referate über BereinSvormundschaften standennoch auf der Tagesordnung, doch wurde auf drei verzichtet, weil dieReihen der Teilnehmer sich bedenklich gelichtet halten. JustizratDr. H e l l r a e t h aus Münster berichtete über den dortigen katholi-scheu Fürsorgeverein, der eine Vormundschsft über uneheliche Kinderausübt. Was er vortrug, ließ erkennen, mit welchem Eifer dabei„konfessionell gearbeitet" und„religiös eingewirkt" wird. Hellraethpries auch die ihm unentbehrlichen dilettiereudcn Damen, die in derMontagssitzung von Prof. Schloßniann- Düsseldorf angegüffe»worden waren. Schloßmann hatte ihn übrigen? ermächtigt, inseinem Namen zu erklären, daß jener Angriff sich nicht gegen dieMitarbeit der Damen überhaupt habe richten sollen.Mit einem Abschiedswort des Vorsitzenden Professor Klumkerwurde diese fünfte Tagung deutscher Berufsvormünder g e«f.ch l o f f e n.*•Druikfehlerberichtlgnng. In unserem Bericht über die Montag-Sitzung findet sich an einer Stelle das Wort.Winkelvormund s ch a f t Gemeint ist, SammelvormundschaftDer itallenifche Parteitag.Mailand, den 22. Oktober.2. Verhandlungstag.Vormittagssitzung.Modigliani, der das Präsidium inne hat, eröffnet dieSitzung durch Verlesung von VegrüßungStelegrammen und erteiltdann gleich dem Genossen Turati das Worte als Referenten überdieAllgemeinen Leitsätze der politischen Aktion.Turati führte n. a. aus: Wie die Revolutionären wollen dieunzufriedenen Reformisten alle Verantwortlichkeit auf die Parla-mentsfraktivn abwälzen, nach dem alten System:„Es regnet, ver-fluchte Regierung". Wahr ist, daß wir keine großen Fragen in dieMassen getragen haben, aber es ist nicht weniger wahr, daß wirdie Massen teilnahmslos und undurchdringlich gefunden haben.Wer trägt die Schuld dafür? Wir olle haben schuld; mit anderenWorten, die Verhältnisse sind es, die Schuld tragen.Wir wollen nicht über eine Gruppe Menschen, über die Partei-fraktion richten, sondern über unsere ganze Bewegung. Das Ge-fühl der Schlaffheit und einer gewissen Zerfaserung unserer Par.tei ergibt sich aus der Vielgestaltigkeit unserer Aktion. Weshalbwill man dafür dem Reformismus schuld geben? Wer das täte,handelt nicht anders als ein Mensch, der durch schweren Blutverlustoder durch Hunger von Kräfte» gekommen ist und dann feststellt,daß es gerade Vollmond ist und darum seine Entkräftung auf denVollmond zurückführt.Was die Parlamentsfraktion betrifft, so bin ich über-zeugt, daß sie schlecht, sehr schlecht funktioniert hat. Wir sind40 und arbeiten tun nur etwa S. Aber wie ist das anders möglich,wo die meisten für ihr Brot arbeiten müssen und eS keine Abgeord-netendiätcn gibt? Was können wir mehr tun? Man sagt unS:tragt die großen Fragen in die Massen; da könnten wir antworten:tragt ihr sie doch. Von den Abgeordneten kann man das nichtverlangen. Die Partei mutz entscheiden, ob sie die parlamentarischeAktion für nützlich hält oder nicht. Tut sie das nicht, so möge mandie Abgeordneten aus der Kammer zurückziehen und für die Pro-paganda verwenden. Was unS not tut, ist eine breite VolkSbil-dung, und für diese ist eS unsere Pflicht zu arbeiten und zukämpfen.Weiter weist Redner die Anschuldigung zurück, daß er sich nurmit der organflierten Arbeiterschaft beschäftige und nur dieserdie Interessen der Partei zuwenden wolle. Allerdings sei die indu-strielle Arbeiterschaft daS wesentlichste Material unserer Bewegung.Wichtig ist, daß wir unS darüber klar lvecden, daß die Revo-lution sich durch die Reformen bollzieht, nicht durch die Barritaden,nicht durch den Generalstreik. Mag sein, daß wir in mancher Hin-ficht einer Kur bedürfen, etwa durch eine Enthaltung von der Block,Politik.Auf die Revolutionären und ihre Forderungen, fahrt Rednerfort, gehe ich nicht ein. Mit ihnen zu diskutieren verlohnt nickst,verstehen können wir uns nicht, bekehren auch nicht: ich achte ihreUeberzeugung. Polemisieren tue ich nur mit den dissidenten Re-formisten. Diese glauben, der Stillstand in der Partei hänge vom.Avn-ä", von ver Fraktion, kurz von den leitenden Organen ab.Wir glauben, daß er viel tiefere Ursachen habe. Wir wollen diesenUrsachen nachforschen und sie aufzuheben versuchen.(Beifall aufder Rechten.)Man einigt sich dahin, daß jetzt abwechselnd ein Redner derdrei verschiedenen Richtungen zum Wort kommen solle: der Revo-lutionären, der dissidenten Reformisten und der Reformisten.Salvelli spricht als dissidenter Reformist. Er weist unter an»Oerem auf die Gefahr hin, daß die organisierten Arbeiter sich auseiner Vorhut der kämpfenden Arbeiterklasse in eine Aristokratievertvandeln könnten, und betont dann die Wichtigkeit desallgemeinen Stimmrechts für die Lösung der süditalienischenFrage.. Wir Norditaliener vergessen zu sehr unsere süditalieni-scheu Brüder. So hat der Kongreß gestern wohl der Opfer derrussischen Revolution gedacht, aber nicht derer, die in Süditalienunter dem Blei italienischer Soldaten gefallen sind. Cs ist einGefühl deS Verfalls unter uns. Der junge Nachwuchs kommt nichtmehr zu unS; unsere Jüngsten haben schon graue Haave. DiePartei hat ihre Werbekraft, ihre» revolutionären Elan eingebüßt.Kehren wir zur Klasse zurück und zu den großen Klaffenidealen,so werden wir unsere Jugendkraft wieder srlangen.(Beifall.)Salvemini(disstdcnter Reformist): Heute, wo die Arbeiter-Gewegung in den festgeschlossenen Organisationen eine starke undkampsfähige Vorhut hat, die sich selbst helfen kann, hätte die Parteidie Pflicht, sich den weiter zurückgebliebenen Schichten zuzuwenden.Früher war ich auch dafür, daß die Parlamentsfraftionineinetwegen für ein Ministerium stimmte, um das Koa-Iriionsrecht zu erlangen oder zu festigen, obwohl dieses den eleu-dcsten Schichten des Proletariats nicht zugute kommen konnte.Damals War dies das Wichtigste, und wir brauchten eine Vorhut,wenn auch in derselben Zeit unsere Landarbeiter in Süditalienniedergeschossen wurden, im Namen desselben Ministeriums, fürdas unsere Fraktion stimmte. Heute ist es aber anders. Heute istdie Vorhut stark, und heute denkt Ihr nicht mehr an uns. Ihrproklamiert einen Generalstreik, weil in Spanien Ferrer ermordetwird, wenn aber in einer einzigen Woche in Süditalien Dutzendevon Landarbeitern getötet und Hundecke verwundet werden, dannschreibt der„Avant i", daß daS süditalienischeProletariat noch wenig Gesittung habe. Auch dieJesuiten, die Ferrer ermordeten, hatten wenig Gesittung. kBei-fall.) Ihr müßt an die zurückgebliebenen Elemente denken. Stattdessen verlangt Ihr die industrielle Arbeiterversicherung als ersteAbschlagszahlung der allgemeinen Versicherung, ohne daran zudenken, daß die elendesten Landarbeiter Süditaliens dam: für dasbessergestellte industrielle Proletariat die Mittel zur Versicherungaufbringen müssen.Die Verhältnisse sind schuld, sagt Turati. Schöne AuSred« IWir sind keine Verhältnisse, wir sind Menschen. Was tun wirhier, wenn wir nichts wollen, als uns in die Verhältnisse ein-ordnen?(Beifall.) Ja, sagt Turati, wir sind eben noch schwachAber warum sind wir schwock? Weil wir keine Propagandatreiben. Turati sagt, die Abgeordneten hätten keine Zeit.Na, die 30, die nach Turati nichts in der Kammer tun, könntendoch wenigstens auf Agitation gehen. Das Wien unsere Abgeord-neten als ihrer nur S waren. Damals wart Ihr stark durch dieMassen, denen Ihr freilich nicht ein Gesetz über die Sonntagsruheoder gegen die Nachtarbeit der Bäcker vorführtet. Heute macht Ihrkeine Propaganda mehr, weil Ihr keine großen Fragen habt, diedie Massen mitreißen. Die kleinen Reformen sind leicht zu er.halten, dazu braucht es keine Agitation im Lande; im Gegenteil,eine Agitation würde vielmehr schaden, weil die Masse dann mehrund anderes fordern würde, als die kleine Reform. Ihrwollt die Regierung unterstützen, wenn sie Euch die Arbeiter-Pensionen gibt. Nein, wenn sie die Klerikalen geben, so dürft Ihrdas nicht: Es gibt ideale Werte, die höher stehen als jeder ma°terielle Wert.(Beifall.) Selbst um das allgemeine Stimmrechtwürde ich nicht für ein Ministerium Giolitti stimmen.Salvemini hebt dann als Beweis für die Entartung der Par-tei hervor, daß Cabrini an einem offiziellen Bankett teilgenommenhätte. Es entsteht große, an Tumult grenzende Unruhe, bis esCabrini gelingt, klar zu machen, daß die Behauptung unwahr ist.Dagegen wird festgestellt, daß der sozialistische Abgeordnete Sa-moggia an einem Bankett für den Unterstaatssekretär Facta teil-genommen hak.Zum Schluß bringt Redner ein« Tagesordnung zur Verlesung,deren erster Abschnitt sich mit der Turatis deckt, und die im übrigen die Leitsätze zusammenfaßt, die Salvemini über die zum Bestendes Ganzen und durch den Druck des gesamten Proletariats er-zwungenen Reformen dargelegt hat.Der Kongreß tritt darauf in seine Mittagspause ein.Nachmittagssitzung.Ms erster Redner nimmt der Abgeordnete Genosse PietroChiesa das Wort, der einzige Arbeiter in der Parteifraktion. AlsWortführer der Reformisten weist er por allem die Anfchuldigun-gen zurück, die Genosse Salvemini seinerzeit im„Avanti" gegendie Genossenschaften erhoben hat. Das wird von der bürgerlichenPresse gegen uns ausgeschlachtet.(Lebhafter Beifall bei den Re-formisten.) Er, Redner, hätte immer dafür gewirkt, die Genossen»schaftsbewegung und die Gewerkschaftsbewegung in sozialistischemGeiste zu leiten. Wenn noch viel zu tun bleibt, so liegt das auchdaran, daß eS sehr an Propagandisten fehlt. Wir müssen Zuzugvon der Jugend erwarten. Die Rede, die sich vorwiegend aus demGebiete der genossenschaftlichen Organisation bewegte, wird vonden Reformisten mit langandauerndem Beifall aufgenommen.Lazzari(Revolutionär): Im Grunde wird hier eine Revisionunseres Parteiprogramms angestrebt. In Deutschland haben dieReformisten den Mut gehabt, die Revision des Programms zu for-der»; auch in Italien sollten sie sich dazu offen entschließen. Turatispricht in seinem Referat von der steigenden Verelendung derMassen als von einer abgetanenen Auffassung. Wie kommt es dannaber, daß trotz des stets wachsenden sozialen Reichtums die Ge-fängnissc und die Irrenanstalten sich immer mehr füllen, und daßes um die körperliche Gesundheit der Jugend so bestellt ist, daß dasMilitärmah herabgesetzt werden muß? L. kritisiert einzelne Sätzeaus dem Referat Turati, so namentlich die folgenden:„Wir allegehen auf Kohlen, wenn eS sich um die Landesverteidigung hau-delt."„Der einzig wirksame Antimilitarismus liegt in der Kraft,wenn eine solche existiert, des reforniatorischen Sozialismus."Der Redner gbt dann seiner Genugtuung darüber Ausdruck, daßdiesmal von den Revolutionären nicht mehr wie früher als vonTobsüchtigen, Unzurechnungsfähigen, Delinquenten oder Idiotendie Rede ist, sondern daß Turati sie freundlich als„Ueberreste"behandelt.„Laßt gut sein," ruft Lazzari aus,„wenn Ihr erstzur Revision des Programms, schreiten werdet, dann werdet Ihrdiese Ueberreste los, denn danngehenwir."(Beifall.) GroßenBeifall ernten seine Worte, als er über die Gleichgültigkeit derFraktion gegen die Bewilligung der neuen Militärausgaben spricht.In bezug auf die Bündnispolitik meint Lazzari, daß man inden Massen sie Illusion erweckt hätte, in den Republikanern undRadikalen verwandte Parteien neben sich zu haben, während derpraktische Kamps lehrt, daß mit dem Sozialismus nur der Sozia-lismiis verwandt ist. Lazzari bringt dann eine Tagesordnungzur Verlesung, die auch die Unterschriften von Lerda, Frau-cesco Eiccotti, Alessandri, Angelina Balabanoffund anderer trägt. Diese Tagesordnung ist ganz nach dem Musterder von Turati vorgelegten verfaßt und enthält wörtlich mehrereihr entlehnte Sätze. Sie verwirft natürlich den MinisterialismuS,zählt den Generalstreik zu den Mitteln, deren sich daS Proletariatin Ausnahmefällen bedienen kann, verwirft die Wahlbündnisse undfordert strenge Disziplin. Die als wichtig geforderten Reformensind dieselben, die auch Turati aufstellt.Lazzari schließt sichtlich erschöpft und übermüdet seine lang«und wuchtige Rede, indem er die Delegierten ermahnt, sich derVerantwortlichkeit gegenüber dem Proletariat bewußt zu sein undder Entartung unserer Partei zu steuern, auf daß die Parteiwieder das Recht gewinne, im Namen jener Bewegung zu sprechen.die die Schaffer allen Reichtums zu den Lenkern der eigenen Ge-schicke und der der Gesellschaft machen will.(LangandauernderBeifall bei den Revolutionären, Unruhe bei den Reformisten.)Der Präsident bringt darauf ein Telegramm des deutschenPartcivorstandes zur Verlesung, das den Arbeiten desParteitages einen glücklicyen Verlauf wünscht. DaS Telegrammwird mit lebhaftem Beifall ausgenommen.Für die Reformisten sprich! dann vor recht unruhigem Hausedie Genossin Giubice, die lebhaft bedauert, noch einmal von Ten-denzen reden zu müssen. Alle echten Sozialisten wollten nichts,als für die gemeinsame Sache arbeiten. Der Schluß der Redewird durch laute Aeußerungen der Ungeduld des Kongresses über-tönt und ist auf der Journalistentribüne nicht zu vernehmen.Der letzte Redner des Tages ist FranreSro Ccccotti, der für dieRevolutionaren spricht.Die Revolutionären sind mit Turati einverstanden, daß dieSchuld für die heutige Depression nicht allein die Parteifraktionträgt, nein, sie ist vielmehr die Konsequenz einer falschen Richtungder ganzen Partei.(Zustimmung.) Nicht die Irrtümer der Re.formisten. ihre normale Taktik hat uns dahin geführt, wo wirstehen.(Beifall.) Vor Florenz konnten die Reformisten sagen,laßt unS arbeiten, laßt uns unsere Taktik erproben. Jetzt habenwir sie erprobt: das Resultat liegt dem Kongreß vor. Gerade inder Zeit des patentierten Reformismus sind viel weniger Refor-men erzielt worden als vordem. Wir wollen keinen Kompromißmit anderen Parteien. Die heutige Taktik hindert die Sozialisten,sie selbst zu sein, und hindert gleickjzeitig die bürgerliche Demokratie in ihrer Entwickelung.Wen?, wir auf diesem Wege fortschreiten, werden wtr vi ekk eichteine Agentur zur allgemeinen Erhöhung der Löhne, aber keineMacht, die die Gesellschaft umgestaltet. Wr hoffen von der Kon-greßmehrheit nichts für unsere Richtung, aber wir fürchten auchnichts für die Partei: die ist mit ihren Gegnern fertig gavordenund wird wahrlich nicht an den Fehlern ihrer Anhänger zugrundegehen.(Beifall bei den Revolutionären.)ES ist L Uhr abends und die Sitzung wird dertogt.Prozeß ßrußo und Genossen.Zweiter Tag.In gestrigen Sitzung führte der Vorsitzende LandgerichtSratLampe aus: Wir kommen nun zu den Behauptungen der Anklage,daß die„Wahrheit"vom SensationSblatt zum Revolverblattübergegangen sei, indem sie Angriffe gegen bestimmte Personenoder Geichätte richtet, diese aber aufhörten, sobald die LeuteAnnoncen aufgaben. Da soll insbesonvere der Zeuge Ptack-Podgorski einen Fall auS dem Ende 1906, Anfang 1907 nähergeschildert hoben; in der einen Nummer soll ein Angriffs-artikel gestanden haben, in der zweiten Nummer eine Ehrenerklärungund in der dritten Nummer soll dann ein Inserat der betreffendenPerson erschienen tei».— Angekl. With. Bruhn: Es handeltsich um den Fall„Primophon". Diese Sache hat sich abgespielt zueiner Zeit, wo ich fast immer auswärt? war und nur ab und zu desSonntags nach Berlin kam. Diese ganze Sache ist eine Behauptungvon dcni verstorbenen Dahsel, das war daS ganze, was Dahsel inseiner Affäre zu lagen wußte.— Vors.: In Journalistenkreisensoll man aber doch der Meinung gewesen sein, �atz dieInserate der„Wahrheit" nicht der Reklame dienen sondern„Angstinscrate" seien, welche die Leute bloß aufgeb-n, da-mit sie von Angriffen verschont bleiben.— Angekl Bruhn:ES sind in der Voruntersuchung 104 Zeugen vernommen worden,von denen keiner gesagt hat. daß er bedroht worden sei.— Vors.:Direkt hat daS allerdings keiner gesagt, aber die SlaoiSanwaltkchaftstellt es so dar. als ob schon in dem Bestehen der„Wahrheit" alleineine Bedrohung zu erblicken sei.— Angekl. Bruhn: Das sagt dieStaatSanwalischaft, eS trifft aber trotzdem nicht zu.— Bors.:Etliche Zeugen— keineswegs alle— haben aber doch auch gesagt:Wir haben aus Angst annonciert.— Angekl. Bruhn: Von 16 In-habern von Nachtlokalen, die vernommen worden sind, haben nurdrei etwas Aehnliches gesagt: An dem Tage, wo das Jnierat in der„Wahrheit" erschien, war ihr Lokal voller als sonst.— Vors.: EsteZeuge hat aber auch gesagt: Die Arlikel hätten schädlich gewirkt, denndie Lebemänner hätten sich gehütet, in das Lokal zu kommen, weil siefürchteten, es säße ein Berickilerstaltcr der„Wahrheit" darin, der allesgcwisscrinaße» photographisch genau schildere. �— Angekl. Bruhn:Die Mehrheit der vernommenen Zeugen ist für mich.-- Vors.:Das ist richtig, aber die Meinungen waren eben geteilt.— Rechtsanwalt Paul Brederek: DaS Moment der„Drohung" ist nichteinmal von dem Staatsanwalt zuerst aufgenommen, sondern vomRechtsanwalt Dr. Werthauer im Prozeß Dahsel behauptet wordenund dann' sind die Zeugen vom Untersuchungsrichter erst gefragtworden, ob sie schon in der Existenz der„Wahrheit" eine Bedrohungerblickt halten.— Vors.: Aber nicht bloß in Nachtlokalen, sondernauch in Journalistcnkreisen war doch teilweise dieselbe Meinung ver-breitet. So hat der Parlamentsstcnograph Berlowitz gesagt: InJournalistenkreisen sei vielfach die Meinung vertreten ge«wesen, daß die„Wahrheit" ein Revolverblatt sei.—Bruhn: Ich bin antisemitischer Abgeordneter, Berlowitzist Jude. Die Meinungen, die er als in Jouralistenkreisenexistierend bezeichnet, sind durch keinerlei Tatsachen gestützt. HerrBerlowitz steht nicht bloß politisch sehr link«, er ist auch Dissident.----Vors.: Deshalb kann er doch die Wahrheit sagen.— Der ZeugeStrauß hat auch einmal gesagt: Die Inserate für die„Wahrheit"würden mit dem Brecheisen geholt.— Angekl. Bruhn: Man mußdoch solche Aussagen im ganzen bewerten. Strauß will auch zudem Finanzschriststeller Prof. Meyer gesagt haben: Die Angriffegegen ihn würden aufhören, wenn er Artikel für die„Wahrheit"umsonst schreibe. Prof. Meyer hat dies eidlich bestritten.— DerAngeklagte wird hierbei unwillkürlich sehr lebhaft und schlägt zurBekräftigung seiner Worte auf die Brüstung der Anklagebank.-»Bors. LandgerichtSrat Lampe: Ich muß Ihnen diesuntersagen. Gestern soll dies auch schon geschehen sein. Ichhabe eS nicht gesehen, eS ist aber in emer Zeitung sofortgerügt worden. Es wird hier ja jede Kleinigkeit auf-gegriffen, wir müssen deshalb sehr borsichtig sein——(fort«fahrend.)— Wie kommt aber das Publikum zu der Meinung, daßman sich bor Angriffen durch Annoncen schützen kann. DaS Sprich-wort sagt: vox oopuli, vox äei(Die Stimme de» Volles istGottesstimme).— Angekl. Bruhn: Die Sachen sind doch alle nach-geprüft worden. Die mir ungünstige» Ansichten sind eine Folge desDahselprozesseS.— RcchtSanw. Bredereck: Es dürfte wohl nichtfalsch sein, wenn man sagt, jede Zeitung nimint doch eine gewisseRücksicht auf ihre Inserenten.— Vors.: Nach Ihrer Bekundungwar der Referent für die Nachtlokale Herr Dietrich. Dieser mutzdoch dann ständiger Gast in den Nachtlokalen gewesen sein.—Bruhn: Dietrich ist ein Nachtmensch, ein Lebemensch, der seinesrüheren Erfahrungen in Nachtlokalen zu den Artikeln verwertet hat.— Vors.: Er sagt aber, er habe in den Nachtlokalen Tausendeausgegeben und iei durch die Artikel nicht so recht auf seine Kostengekommen. Sind denn die Zechen, die dort gemachtsind, olle bezahlt worden?— Angeklagter Bruhn: Jawohl.— Vors.: Wie kommt eS denn, daß die Zeitungshändlersolche Blätter wie die„Wahrheit",„Die Siadtlaterne",„Die großeGlocke" und dergleichen in den Straßen, besonders in der Friedrich-straße, nicht ausrufen, sondern geradezu a»«brüllen?—Bruhn: Daraus habe ich doch gar keinen Einfluß.— Vors.:Wie kommen die Händler dazu, die Nummer«, in welchen beispielS«weite Artikel gagen Israel oder Kempinski standen, gerade vor derenLokalen so auSzubrüllen?— Angekl. Bruhn: Dos haben die Leutes ch» n s o i n d e r N a s e.— Vors.: In einem Zivilprozeß istfestgestellt, daß an die Händler gelbe Plakat» gegeben wurden, indenen die betreffenden Artikel mit fett gedruckten Buchstaben be«zeichnet wurden. Wer hat die Anweisung dazu gegeben?—Bruhn: Aus den gelben Plakaten stehen immer nur zwei Artikelbezeichnet: der Leitartikel und noch ein anderer. DieS sind solche,die besonders in das Publikum dringen sollen.— Vors.: Die Leit«artikel wurden aber nicht ausgerufen.— Bruhn: Dasmachen doch schlirßpch alle Zeitungen wie„Die Wahrheit". Wenndie„B. Z. am Mittag" erscheint, dann rufen die Händler auf derStraße auch: B. Z.— B. Z.— B. Z I Man muß doch auch be«denken, daß die„Wahrheit" nur einmal in der Woche erscheint.—Vors.: Ach so, da mußte wohl aus Borrat gebrüllt werden? k WelcheAuflage hatte denn die„Wahrheit"?— Bruhn: Sie erreich» dieHöhe von SO 000 Exemplaren.— Vors.: Dieser größte Absatz sollbei der Israel- Nummer erreicht sein. Da hat Israel vor seinemGeschäftslekal 30 000 Exemplare auflaufen lassen, da« find allein3O00 M— Bruhn: Was gegen mich vorgebracht wird, ist nichtwahr! Ich habe in diesem Prozeß nicht« zu verheimlichen. ESwerden hier immer aus einzelnen Artikeln Schlußfolgerungen ge«zogen, die mir ungünstig sind; da muß ich doch bitten, auw vieleArtikel zu verlesen, aus denen sich ergibt, welche nationalenZiel» die„Wahrheit" in Wirklichkeit verfolgt. Ei» Pastorhat mir u. a. geschrieben:„Es steht manche» in der„Wahrheit",was mir nicht gefällt, aber ich freue mich wmier überdie kräftige und eiiergische Weise, in welcher die„Wahrheit"mit anerkennenswertem Mannesmut die nationale Sache vertritt undgegen die Korruption dorgehl."— Vors.: Er dach» wohl dabeian den schönen Artikel:„Das sündige Berlin" oder:„Meyer imSündciipfnhl".(Heiterkeit.)— Rechtsanwalt Bredereck beantragt,den im Zuhörerranm erschienenen Schriftsteller A. O. Weber zumVerlassen des Saales zu veranlassen, da er wahrscheinlich als Zeugegebraucht werde. Dieser scheine ja die Ansicht gehabt zu habe», daßdie Presse durch Inserate gut gestimmt werden könne, denn er hatja behauptet» daß er den ostpreußischen Zeitungen Annoncen über