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2Iu3 dem Regierungsbezirk Frankfurt a. O. wird' berichtet, daß in letzter Zeit der Besitzwechsel beim bäuerlichen Grundbesitz bedenkliche Formen angenommen habe.... Man geht dabei von der Erwägung aus, dah die bäuerlichen Besitzungen nicht etwa veräußert werden, weil die Not der Besitzer dazu zwingt, sondern weil die g e st i e g e n e n B o d e n p r e i s e den Verkauf verlockend erscheinen lassen. Die Ueberredungskünste der Güterschlächter tragen alsdann das Ihrige dazu bei, den Besitz loszuschlagen. Von der Treue an der Scholle ist im Bauernstande vielfach nichts mehr zu verspüren. Auch seine Mitglieder streben nach der Stadt in der Regel zu ihrem Unglück! Aehnliche Klagen wie aus dem Regierungsbezirk Frankfurt ». O. haben uns auch aus den Bezirken Potsdam und Lie�nitz erreicht; es erscheint aber nicht ausgeschlossen, daß die Güter- schlächterei auch sonst in weiten Gebieten Deutschlands blüht." Man sieht, der Bauer hängt nicht mehr an seinem Hos, sondern an seinem Geldeinkommen. Kann er dieses durch Verzicht aus dasfreie Eigentum" am Hof vermehren, dann ist er gern dazu bereit. Bei dieser fortschreitenden Mobilisierung des Grund- Besitzes gewinnen aber nicht jene Landwirte, die von ihrer Arbeit leben, sondern die Grundslückspekulanten, Boden- Wucherer und Güterschlächter. Diese sind es, die alle Ursache haben, die Bodenverstaatlichung zu fürchten, weil sie ihnen jede Möglichkeit zu arbeitslosem Gewinn entzieht. Und da die Agrarier tatsächlich Güterspekulanten und Bodenwucherer geworden sind, darum wehren sie sich gegen die Verstaatlichung des Bodens, die der Landwirtschaft mächtig aufhelfen, der Teuerung am kräftigsten entgegenwirken, den städtischen Kon- sumenten wie den Arbeitern der Landwirtschaft, ob Lohn- orbeiter oder selbstwirtschaftende, eine gewaltige Verbesserung ihrer Lebenslage bringen muß, wenn sie von einem demokra- tischen Staatswesen durchgeführt wird. K, K a u t s k y. Sozlaldcmollratlfcher Vormarsch In oberhelle». Nach Friedberg -Büdingen Gießen -Niddas Die Sozial« demokratie marschiert im Bauernlande Oberhessen . Unterm Klein- banerntum beginnt es zu tagen, seine jüngeren Elemente, die viel- fach auf den Nebenerwerb in der allmählich vordringenden Industrie angewiesen sind, um das unzureichende Einkommen aus dem land- wirtschaftlichen Zwergbetrieb zu ergänzen, werden der Sozialdemo- kratie zugänglich. Und diese Entwickelung ist durch die auf- peitschende Wirkung der blauschwarzen Politik beschleunigt worden. Das vorläufige amtliche Wahlergebnis zeigt, dah der Erfolg der Sozialdemokratie und der Rückgang des Anti- semitiSmuS noch gröher find, als sie nach den Zahlen unseres gestrigen PrivattelegrammS erschienen. Das Gesamwesultat lautet: Beckmann<Soz.) 7976. Werner(Ant.) 7958, Korell(Bp.) 5059, Gisevius fnatl.) 2516 Stimmen. Die Sozialdemokratie ist also an die erste Stelle gerückt, der Antisemit ist um 13 Stimmen hinter unserem Genossen Beckmann zurückgeblieben und hat gegen 1397, wo ihm 9017 Wähler zufielen, 1059 Stimmen ver- loren. Die Sozialdemokratie hat dagegen einen Gewinn von 1580 Stimmen; 1907 musterte sie 6396. Bon den Liberalen ist der gröbere Teil dem Fortschritt zugefallen; der Nationalliberale, der durch die Anerkennung der Forderungen des Bundes der Landwirte die Bauernstimmen zu fangen gedachte, hat von den 7484 Stimmen, die er 1907 erhielt, um ein Drittel zu behaupten vermocht, 5059 Wähler haben sich für Korell entschieden, der sich allerdings auch ein wenig schutzzöllnerisch drapierte. Um so höher ist eS anzuschlagen, dah die Sozialdemokratie, die solche Mittel natürlich nicht gebrauchen durfte und ihre Gegnerschaft zu den Lebensmittelzöllen vor den Bauern offen vertrat, einen starken Zuwuchs buchen kann. AuS dem Wahlkreise wird uns zu dem Ergebnis geschrieben: Im Kreise überwiegt die Landwirtschaft, die Industrie ist noch dünn gesät. Im Bauerntum aber hatte der Antisemitismus seit langem einen starken Rückhalt und der verstorbene Abgeordnete Köhler, der sich durch seine demokratischen Allüren und seine Geschäftigkeit eine große Popularität im Kreise erworben hatte, verstand es vortrefflich, die anti- semitische Stimmung der Bauernschaft stets aufs neue zu festigen. Deshalb ist der Erfolg der Sozialdemokratie in diesem Wahlkreise und der Rückgang der antisemitischen Stimmen von hoher Bedeutung. DaS Resultat ist aber auch deshalb ein recht erfreuliches, weil unser Kandidat in diesem ländlichen Kreise gegen drei Schutzzöllner zu kämpfen hatte, die in der Ausschlachtung unserer Ablehnung der Lebensmittelzölle natürlich nicht faul waren. Ebenso wurde von ihnen auf den angeblich für alle Zeit anti- kollektivistischen Bauernschädel spekuliert. Der antisemitische Kandidat Dr. Werner und ein nationolliberalrr Profeffor glaubten ein besonders gutes Mittel, die Bauern ratschen zu machen, in einigen Wahlreden unseres früheren Kandidaten, des Genossen Krumm-Giehen entdeckt zu haben, der in der Wahlagitation mittätig war. ImGiehener Anzeiger" wurde mit großem Hallo auf die erschreckliche Tatsache hingewiesen, dah Krumm für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel eingetreten sei und alle? wurde getan, um die Bauern vor der roten Konfis- kation ihres Besitzes graulich zu machen. Ein heftiger ZeitungSkrieg entbrannte, der in den Wahlversammlungen ein lautes Echo fand. Unsere Agitatoren muhten in ihren Reden überoll auf diese Angriff« antworten und haben es nach Kräften getan. Von einer Verschleierung deS Endziels, die uns die Gegner gern vorwerfen, konnte also hier keine Rede sein. Aber die Hoffnung, die die Gegner auf diese Auf- rollung deS sozialdemokratischen Programms gesetzt haben, erwieS sich als eitel. Die kräftige Betonung des Kollektivismus hat un- seren Vormarsch nicht aufhalten können. Und das, obgleich die Gegner eine ganz auherordentlich intensive Agitation betrieben haben. Fast die ganze antisemitische Reichstags« fraktion war im Kreis« tätig. Von nationalliberalen Reichstags- abgeordneten sprachen Paasche, Heinz«, Stresemann, Hagemann und andere in der Wahlagitation, von den Freisinnigen Naumann und Kopsch. Alle im Kreise verfügbaren Automobile waren in den Dienst der gegnerischen Agitation gestellt und wurden fleißig benutzt, während unsere Redner nur unter schweren Mühen zu den weit entlegenen Orten des ausgedehnten Kreises gelangen konnten. Die sozialdemokratische Wahlleitung mußte mit ihren Mitteln sehr haushalten,; die größeren Geldsäcke der Gegner haben ihnen indes nicht geholfen. Von der sozialdemokratischen Reichs- tagSfraktion haben die Genossen David, Hildenbrand und Leh- mann Versammlungen abgehalten. Genosse Busold war in den letzten Wochen ständig im Kreise tätig. An Gemeinheiten der Gegner hat es natürlich nj�t gefehlt. Unserem Kandidaten wurde schließlich vorgeworfen, dag er fast auf anarchistischem Boden stehe, womit nebenbei wohl auch eine Denunziation beabsichtigt war, denn Genosse Beckmann ist Krankenkasscnbeamter. Aber über all daS ist die Sozialdemokratie siegreich fortgeschritten. Und wenn sie zur Stichwahl alle Kräfte zusammennimmt und es dem Fortschritt ernst ist mit dem, was er vor der Wahl in zahlreichen Versammlungen erklärt hat. dann zieht in den nächsten Tagen aus dem ehemals so schwer zugäng. lichen ländlichen Oberhessen der zweite sozialdemokratische Ver- treter in den Reichstag ein.. Als Termin der Stichwahl ist nach einer Meldung derFranks. Ztg." Dienstag, der 21. März, in Aussicht genommen. Bon der fortschrittlichen Presse Berlins erklärenBerliner Tageblatt" undVossische Zeitung", daß die Wähler Korells in der Stichwahl gegen den Antisemiten votieren müssen. politische(leberliebt. Berlin , den 11. März 1311. Verkümmerung der Sozialreform. Aus dem Reichstag . 11. März. Später als sonst im Laufe der Session ist diesmal der Etat des Reichsamts des Innern zur Erörterung gebracht worden. Auch das kommt auf eine Benachteiligung des parlamentarischen Lebens hinaus. Denn diese Debatten pflegen die Grundlage abzu- geben für die sozialpolitischen Erörterungen der ganzen Session. Da der Beginn dieser wichtigen Verhandlungen außerdem auf deu Sonnabend fiel, mußten die Redner zu einem äußerst schwach besetzten Hause reden. Wegen der spärlichen Besetzung kam es denn auch nicht zu irgend welchen Zusammenstößen während der Debatte. Für das Zentrum sprach der Abg. Pieper, das Haupt der Gladbacher Agitatorenschule. Er spricht monoton mit dumpfer Stimm«, wirkt aber doch, da er auf dem Gebiete der Sozialpolitik zu Hause ist. Als Vertreter einer Regieruugs- Partei mußte er sich die Kritik fast völlig verweisen und suchte dafür einen Eindruck im Volke dadurch zu erzielen, daß er einen Speisezettel von Zukunstswünschen verlas, mit dem später die Zentrumspartei im Lande den Nachweis führen wird, daß sie von den besten Absichten für die Arbeiter erfüllt ist, wie wenig ihre Taten auch den Beweis für deren Ernst liefern. Aber dieser Lobredner der bestehenden Zustände konnte doch nicht umhin, einzugestehen, daß bei denGe- bildeten und Besitzenden" einesoziale Ermüdung" bemerkbar ist. Die Konservasiven schickten Herrn Pauli- Potsdam vor, sicher nicht weil sie den Reden eines Oberzünstlers irgend welchen Wert beimessen, sondern weil sie darauf rechnen, daß es auf naive Leute im Mittelstande immer noch einen Ein- druck machen wird, wenn die Junkerpartei einen richtigen Tischlermeister, den selbstbeglaubigtenschlichten Mann aus der Werkstatt" dem agrarischen Heerbann voraustrommeln läßt. Ernstliche und eingehende Kritik an der Sozial- Politik der Regierung wie an der der bürgerlichen Parteien, wurde dann von dem Genossen Fischer in einer großangelegten, scharfen und tcmperament- vollen Rede. geübt. Er wies nach, wie rasch die Sozialreform in Deutschland verkümmert trotz der hoch- trabenden Reden und Versprechungen, mit denen seit Jahren die Regierungsvertreter und die Wortführer der bürgerlichen Parteien, die letzteren besonders, wenn sie zeitweilig in Opposition geraten, das Volk regaliert haben. Besonders eingehend rechnete er mit dem Zentrum ab, dessen arbeiter- freundliches Gerede er wirksam mit seinen arbeiterfeindlichen Taten kontrastierte, so mit seiner Beihilfe bei der Kranken- kassenverschlechterung. Das nämliche Zentrum, das im Kampf gegen Ausnahmegesetze groß geworden sei, entblöde sich jetzt nicht, in den Ruf nach Ausnahmegesetzen gegen die Sozial- demokraste einzustimmen, wie das aus den Beschlüssen des bayerischen Zentrumsparteitages hervorgehe. Sehr unbequem wurde den Zentrumsleuten die Erinnerung an den Ausspruch des Bischofs von Regensburg :Wer Knecht ist, soll Knecht bleiben." Der Regierung hielt Fischer dann ihre kaum noch ver- schleierte Abhängigkeit vom Zentralverband der Industriellen vor. Sie sei besonders darin zutage ge- treten, daß Herr B u e ck bei seiner Jubiläumsfeier den an­wesenden Ministern Delbrück und S y d o w Direktiven für gesetzgebende Aktionen gegen die Sozialdemokratie erteilte. Die Unterwerfung dieser Minister unter dem Scharfmacher- verband prägte sich ja. nebenbei bemerkt, in ihrer ganzen Würdelosigkeit darin aus. daß der nämliche Herr Bueck es war, der sich vorher plump gerühmt hatte, daß er die Amts- Vorgänger seiner Tischnachbaren Herrn v. Berlepsch klein gekriegt" hatte. Man hätte eigentlich denken sollen, daß es den an- wesenden Herrn Delbrück drängen müßte, auf diese scharfen Angriffe sofort zu antworten. Aber auch dieser Bethmännling scheint sich der Straußentaktik der Lisco und Kraetkc anzu- bequemen: er s ch w i e g. Nun, vielleicht hat er sich bis zum Montag eine Antwort zusammenklamüsert. Es folgte eine Rede des freisinnigen Herrn Müller- Meiningen, der indes das sozialpolitische Gebiet vermied, um die Jagowsche Theaterzensurierereien sowie landrätliche Vereins- schikanen einer Kritik zu unterziehen. Nach einer halbscharf- macherisch, halb mittelstandsretterischen Rede des freikonser- vativen Abg. Linz- Elberfeld wurde die Debatte auf M o n- tag vertagt._ Das Volksschulwesen vor dem Abgeordnetenhause. Nachdem daS Abgeordnetenhaus am Sonnabend die Wahlen der Herren Kreitling(Vp.. Berlin IV) und Dr. W e n d- l a n d t(natl., Cassel V) für ungültig und die deS Abg. Für- b r i n g e r tnatl.. Aurich I) für gültig erklärt hatte, glaubte der größte Teil der anwesenden.Volksvertreter' genug für seine 15 M. getan zu haben. Wozu sollten sie sich denn auch weiter bemühen! Stand doch nur da» Volksschulwesen auf der Tagesordnung und das interessiert die weitaus grohe Mehrheit des DreiklasienparlamentS nicht. So hatten denn die Redner das eigenartige Vergnügen, vor fast leeren Bänken zu sprechen, zeitweise sank die Zahl der an- wesenden Abgeordneten auf 21. Die übrigen 420 abgesehen von den Erkrankten hatten offenbar etwas Wichtigeres zu tun. Von den Reden beansprucht das gröhte Jntereffe die des national» liberalen Abg. Hackenberg, eine» evangelischen Prediger», der, obwohl ein grundsätzlicher Gegner der konfessionslosen Volksschule, doch den Gewissenszwang gegen Disfidenteukinder scharf verurteilte und sich gegen die geistliche Schulaufficht aussprach. In direktem Widerspruch mit ihm verteidigte sein konservativer LmtSbruder Heckenroth alle muckerischen Bestrebungen deS Kultusministers. Ja, in seinem zelotischcn Eifer ist ihm selbst die heutige Regierung noch nicht reaktionär genug, da sie den Lehrern noch etwas Freiheit läßt. Wenn eS nach diesem Pfäfflein geht, dann soll allen Lehrern der Besuch sozialdemokratischer Versammlungen verboten, ja es soll ihnen sogar untersagt werden, auf ihren Zusammenkünften Maß- nahmen der Regierung abfällig zu kritisieren. Die Hungerpeitsche für ausrechte Männer! DaS ist das Ideal, das diesem GotteSftreiter vor Augen schwebt. Nach«inigen Ausführungen des Abg. Ernst, der sich seiner Be- rufSkollegen, der Lehrer, amiahm, de» Abg.«loppenberg. der die Zustände in den Oftmarktm schildert«, und de» Abg. Dr. K a u f- mann, der den Standpunkt de» Zentrum« prizisierte, wurde die Generaldebatte geschlossen und die weitere Beratung deö KultuSetatS auf Moutag vertagt._ Gegen das Reichstagsw ahlrecht. Die Konservativen wollen, wie sie behaupten, das Reichs- tagswahlrecht keineswegs abschaffen. Zwar hätte, so sagen sie, dieses Wahlrecht viele Fehler; nachdem es aber einmal eingeführt worden sei, wäre es historisches Recht geworden, das nicht einfach wieder rückgängig gemacht werden könne. Mit solcher Argumentation antwortet regelmäßig die deutsch - wie die freikonservative Presse, wenn ihr vorgehalten wird, daß die konservativen Parteien lieber heute als morgen das Reichstagswahlrecht aufheben möchten, sei es selbst um den Preis eines blutigen Staatsstreichs. Was von dieser Versicherung konservativer Blätter zu halten ist, beweist aufs«eue dieP o st" durch einen heftigen An- griff auf das Reichstagswahlrecht. Und warum? Weil die Reichstagsmehrheit für die Erhöhung der Gehaltsbezüge der mittleren Postbeamten eingetreten ist. Solche sozial- politische Taten gehen derPost" gegen den Strich. Gegen eine enorme Erhöhung der Militärausgaben, den Bau mäch- tiger Panzerkolosse, die Verschwendung Hunderte von Millionen Mark für eine total verkehrte Polenpolitik hat sie nichts einzuwenden; aber für Gehaltserhöhungen mittlerer und unterer Beamten wenn es sich wenigstens noch um Gc- Heimräte und Staatssekretäre handelte hat das scharf­macherische Blatt nichts, gar nichts übrig; und so läßt es seine verbissene Wut in folgendem Geschreibsel aus: Wir wissen nicht, ob der Reichstag in seiner Gesamtheit ein Gefühl dafür hat. wieviel er sich durch die heutige drei Viertel- stunden füllende Geschäftsordnungsdebatte in seiner Würde ver- geben hat. Dabei müssen von der Verantwortung für diese so überaus traurige und beschämende Blohstellung des Reichs- tages und der Motive, von denen sich die meisten Abgeordneten bei ihren Anträgen und Abstimmungen leiten lasten, die Sozial- demokraten leider gänzlich freigesprochen werden. Diese Szenen spielten sich durchaus zwischen den Vertretern bürgerlicher Parteien ab, während sich die Sozialdemokratie als lachender Dritter bei der Selbstzerfleischung und Selbstentwertung der bürgerlichen Parteien sogar gänzlich und absichtlich zurückhielt. Schon längst ist von vaterlandsliebenden, besonnenen, ernsten Männern das Wettrennen in sozialpolitischer Rich- tung im Reichstage als die Hauptursache unseres ganzen Reichstagselends charakterisiert worden. Dieses Weltrennen in sozialpolitischer Richtung ist zunächst die Folge des Reichstagswahlrechts, dieses ungerechte st en und politisch unsinnig st en Wahlrechtes, das gedacht werden kann, daS die allgemeine Gleichheit proklamiert und nicht einmal den Mut offener Neberzeugung fordert... Die Schuld, die heute vor aller Welt zutage trat, liegt, wie schon oben ausgeführt, tief und ist vielleicht unlöslichmit dem ReichtagSwahlrecht, diesem vornehm st en Institut zur Förderung der Unzufriedenheit und eineS hoffnungslosen politischen Di- lettantismuS verbunden, und wir würden die heutigen Vorgänge viel zu sehr ins Aeuherliche, inS Zufällige umdeuten, wenn wir ihre symptomatische Bedeutung herabsetzen wollten. wenn wir nicht auf diese tief zugrundeliegende Schuld hinweisen wollten. Den Anlaß zu den heutigen Borgängen scheint aber, wenn man die Aeuherungen der Redner zusammenfaßt, in erster Linie das Zentrum gegeben zu haben. Das Zentrum nahm zu- erst den Antrag auf Erhöhung der Gehaltsbezüge mittlerer Postbeamter auf, den der Reichstagsausschuß angenommen hatte und als Antrag des ReichstagSausschusseS, d. h. mit Absehung von einzelnen Parteien, an das Plenum bringen wollte. ES verband diesen Antrag des Ausschusses, der einem späteren Verhandlungstag vorbehalten war, um ein neues Moment heranzubringen mit dem Antrag auf Erhöhung der Bezüge der llnterbeamten. Das Verhalten des gen- trumS wird noch bedenklicher dadurch, daß die Zentrumsab- geordneten im Ausschuß in der Hauptsache nicht für die Erhöhung der Bezüge eingetreten sind. Erst nachdem durch den Zentrums- autrag der Antrag deS Ausschusses vorweggenommen war und ein gemeinsames Vorgehen mit den bürgerlichen Parteien aus- geschlossen war, griffen die Freisinnigen und Nationalliberalen ihrerseits den Antrag deS Ausschusses auf. Dieses Verhalten war durchaus unangemessen und ist auch formell als unlauterer Weit- bewcrb zu charakterisieren. Zum Schluß fordert diePost" dasdeutsche Volk" unter diesem Ausdruck versteht es vornehmlich die Schlot- und Krautjunker direkt auf, dieunhaltbaren und Verderb- lichen Zustände" abzustellen, das heißt, das Reichstagswahl - recht abzuivürgen. Trotzdem wollen natürlich die Konservasiven durchaus nicht das Reichstagswahlrecht abschaffen l Eine elende Heuchelei I Wieder hinausgeschoben. Als im Jahre 1902 der Kampf um die Getreidezoll- erhöhungen tobte, beantragte bekanntlich das Zentrum, um den katholischen Arbeitern die Brotverteuerung schmackhafter zu machen, daß der auf den Kopf der Bevölkerung ensiallende Nettozollertrag aus der Verzollung vom Getreide, Mehl. Schlachtvieh und Fleisch, der den bisherigen Durchschnitts- ertrag per Kopf der Jahre 1898/1903 übersteige, zur Einführung einer Reichswitwen- und Waisenversorgung verwandt werden solle. Der Antrag wurde Gesetz: aber, wie schon damals voraus- zusehen war, waren die Zollüberschüsse, die auf Grund dieser Gesetzesbestimmung(§ 15 des Zollgesetzes vom 25. De- zember 1902) zurückgelegt werden mußten, infolge des Einfuhrschcinsystems so mäßig, daß an die Errichtung der ver- heißenen Witwen- und Waisenversorgung nicht gedacht werden konnte. Manche Jahre haben gar keinen Ucberschuß gebracht, und in den anderen ist der Ertrag so weit hinter den Voraus­sagen der Zentrumsführer zurückgeblieben, daß sich der Gesamtbetrag heute auf noch nicht ganz 52 Millionen Mark beläust zu wenig, um auch nur den allergeringsten An- sprächen zu genügen. Den Arbeitern sind dre Brot- und Flcischpreise enorm verteuert worden, aber von den großen Versprechungen, die ihnen die Zensiumsagitatorcn gemacht haben, hat sich bisher nichts ersiillt. Vielmehr ist der Termin der Einführung der Witwen- und Waisenversicherung bereits einmal bis zum 1. April 1911 hinausgeschoben worden und jetzt soll- er noch weiter hinausgerückt werden. vorläufig allerdings nur biS zum 1. April 1912, obgleich dann wahrscheinlich auch aus der Sache noch nichts werden wird. Eine parlamentarische Kor» respondenz meldet darüber: Dem Reichstag ist ein Gesetzentwurf betreffend die Abänderung deS§ 16 de» ZolltarifgeseyeS und deS g 2 de» Gesetzes betreffend den HinterbliebenenversicherungSfondS und den Reichsinvalidenfonds zugegangen. Danach soll der in den erwähnten Paragraphen an»