Der christliche Textilarbeiterverband in Bocholt hatte Lohnforderungen eingereicht, die die christlich-katholischen Textilfabrikantennicht bewilligten. Statt dessen antworteten diese Herren am Sonn-abend mit der Lussperrung sämtlicher Textilarbeiter und-Arbeite-rinnen, die nach Ablauf einer 14tägigen Kündigungsfrist beginnensoll. In Betracht kommen etwa 6300 Arbeiter und Arbeiterinnen.In eingeweihten Kreisen glaubt man nicht, daß es zur Aussperrungkommen wird, da man es auch hier mit einem christlichen Agitationsbluff zu tun haben dürfte._Christliche als Streikbrecher.Die frommen Brüder in Christo betätigen sich auch in Bayreuth,gleich Krefeld, als Streikbrecher. Bei der Firma Baherlein in Bay-reuth streiken seit drei Wochen die Spinnereiarbeiter, weil die Firmaschriftliche Abmachungen, die zur Beilegung eines früheren Streiksdienten, nicht innehielt. Die Firma hatre dersprochen, aus Anlaßdes Streiks keine Maßregelungen vorzunehmen; trotzdem ober hatdie Firma kurz nach Wiederaufnahmel der Arbeit den Bertrauens-leuten der Arbeiter gekündigt. Und statt einer versprochenen Lohn-erhöhung wurde eine Lohnreduklion vorgenommen. Die Christlichenhaben nun kurz vor Ausbruch des Streiks eine Ortsgruppe aus Ar-beitern der Firma Beyerlein und mit Hilfe des Herrn Beyerleingegründet. Die Mitglieder dieser christlichen Ortsgruppe sind samtund sonders als Arbeitswillige tätig, um der wortbrüchigen Firmazu helfen. Es ist dies wieder ein neuer Beweis, daß der christ-liche Textilarbeiterverband nur noch als Sireikbrecherorganisationin Frage kommt. Sie sind Verräter der Arbeiterinteressen.Geveralvtrsmmlllng des deutschen Kundes fürMutterschutz.Der zweite Vortragsabend war der Prostitutionsfrage g«widmet. Der Ethiker, Pfarrer Kießling-Hamburg betonte, daßalle Volkserzieher in der Prostitution das Laster niedrigster undgefährlichster Art sehen, weil nicht nur daS Einzelindividuum.sondern das ganze Land dadurch verseucht werde. Zwei Meinungenständen sich gegenüber. Die eine laute: Prostitution habe es immergegeben,-sie werde immer- bleiben, die andere: Die Prostitutionsei zu überwinden. Die nüchternste Ueberlegung zeige, daß diebisherige Behandlung verkehrt gewesen sei. Tie Reglementierung,die Kasernierung. die ganze staatliche und polizeiliche Handhabe.habe nur zur Steigerung des Uebels gedient. DaS Alter derProstitution beweise nicht, daß sie unausrottbar sei, auch dieSklaverei sei verschwunden. Unser soziale? Zeitalter scheine be-stimmt, dieses Laster zu heben. Frühere Zeiten hätten das nichtvermocht, weil die Achtung vor dem Weibe gefehlt. Die Pessimistensagten, der starke Trieb zur Prostitution liege in der menschlichenNatur. Auch Eigennutz. Lüge, Jähzorn, lägen in der menschlichenNatur und würden mit Erfolg bekämpft. Und die Menschen hättennicht daS Recht, diesem sozialen Laster einen Freipatz zu geben.So lange aber der Staat die Prostitution regele, mehre,wäre fein Sieg zu erhoffen. Die wirtschaftlichen Ursachen möchtenstark sein, aber die stärksten wären sie nicht. Die Erziehungmüsse den Kampf gegen das Laster führen. Besonders weist derReferent auf Sport und Wanderlust hin. Die Probleme der Er-ziehung hätten sich heute eine ganz andere Aufnahme errungen.Selbstverständlich müßten die Löhne bessere werden, soziales Rechtmüsse hinzukommen. Der besser Situierte stehe der Protistutiongefeiter gegenüber. Ter Kampf gegen die polizeilichen Gewalts-maßregeln habe gar keinen Zweck. Redner schließt mit demWunsch, daß die Ueberwindung der Prostitution unserer Zeit vor-behalten sein möchte.Der zweite Redner, LandgerichtSrat Rupprecht-München. meint:Man möge auf die Jugendlichen Einfluß zu gewinnen suchen, hiersei in etwas zu helfen. Das erste allerdings noch wenige Materialüber die Altersstufen der Dirnen habe München beschafft. Londonberge zirka 60 000 Dirnen. Paris 40 000, Berlin 30 000. München3000. Die Hälfte davon sei im allgemeinen minderjährig: InBerlin vielleicht 10 000. Sie seien die gefährlichsten, weil keineärztliche Behandlung bei ihnen vorläge, und die Hälfte von ihnengeschlechtSkrank wäre. Von 8S in drei Jahren zur Abstrafung ge-kommenen wären 36 krank gewesen. 671 in einem Jahre erschienendes Krankseins verdächtig. In der Hauptsache setze sich die Scharaus den aus den kleinen Orten und vom Lande in die Großstädtekommenden Dienstmädchen zusammen, dann erst kämen Kellne-rinnen, Fabrikarbeiterinnen. Die Großstadtlockungen, das fSchlaf-stellenunwesen, die gesamten Wohnungsverhältnisse, Verführung,Gelderwerb �besonders bei fortgesetztem Gewerbe), Kuppelei, dieseallerdings seltener durch die eigene Mutter, dann aber meistensbis zu scheußlichsten Perversitäten ausartend, seien als Ursacheanzusehen. Auch die Not der Eltern sei manchmal die Ursachedes Untergangs der Mädchen. Der Referent zeigt besonders scharfauf die Herrschaften hin. die sich an den jungen Dienstboten aufsschwerste versündigten. Oft für ein Abendessen oder für 50 Pf.geraten die Jugendlichen, die Studentenliebchen, auf den Weg derProstitution. Frankreich habe Fürsorge für diese Jugendlichen.auch Belgien. Der Entwurf zum neuen Strafgesetzbuch, der abererst 1917 kommen könne, sehe auch Besserungen vor. Aber dasJugendgerichtgesetz biete jetzt schon mildere Handhabungen. Vorallen Dingen seien nur Polizeiärztinnen für Jugendliche.kein Zusammenbringen mit älteren Prostituierten in Kranken-Häusern zu empfehlen.' Zu erstreben sei eine Landeszentraleder Fürsorge. Hier wäre die Frau und Mutter am Platze.Polizei und Gericht wären nicht allein imstande zu helfen. Vorallen Dingen müsse dem M a n n e höhere Würdigung des weiblichenGeschlechts beigebracht werden.Dr. Magnus Hirschfeld, der dritte Redner, sprach über diejugendlichen männlichen Prostituierten, über die ausnutzendenElemente, die sie umgeben, sie ausbeuten. Er unterscheidet zwischengewerbsmäßig mit Frauen verkehrenden Männern, die in Kondi-toreien usw. Annäherung versuchen, Heiratsschwindler. Die wirk-lichen Zuhälter würden oft verkannt, der§ 81a habe auch schwereSchäden im Gefolge, oft wären solche jungen männlichen Elementedie Opfer der Dirnen, die sie nicht wieder freigeben. Auch aufdie vielen weiblichen Zuhälter, die vielleicht 30 Proz. ausmachten,wies Redner hin. Die männlichen Homosexuellen teilt er in zweiGruppen, die Gelegenheitsprostituierten und die Gewerbsmäßigen.Unter den Gewerbsmäßigen gäbe es sogar normal Veranlagte,die nur Geld erstrebten. Schwache Naturen, schlechte Familien.Verhältnisse wären oft die Ursache, daß sie in dieses Elend hinein.gerieten. Prügelstrafe habe keinen Zweck. Redner verspricht sichHilfe durch wissenschaftliche Forschung. Aufklärung der betreffendenIndividuen, Erziehung, Jugendfürsorge. Sport, Hebung der sozialenNotlage.,In der Diskussion sprach u. a. ein Pfarrer Wangemann ausRustschuk. der hier zurzeit durch das Konsistorium diszipliniertworden ist, weil er sich als Pfarrer mit dem Studium dieserFragen in Obdachlosenasvlen usw. befaßt habe. In der Hauptsachewird von verschiedenen Diskussionsrednern betont, daß der Kampfgegen den unsittlichen Mann im allgemeinen aufgenommen werdendritte Abend war der Internationalen Vereinigung fürMutterschutz und Sexualreform gewidmet. Es sprach zuerst Prof.Dr. Leopold von Wiese- Düsseldorf über-..Sexualordnungen desOrients und das Problem ihrer Reform'. Er gab ein färben-reiches Bild Indiens, des Familiendaseins der Eingeborenen. TerRedner empfiehlt internationale Studienvereinigung, die mit Hilfevon Asiaten die EmanzipationSmöglichkeiien darlegen möge, mansolle aufhören, die sozialen Probleme des Orients als amüsanteKuriosa zu betrachten.,Dr. med. Iwan Bloch sprach cm Anschluß daran über..Diesexuelle Solidarität der Kulturmenschheit" und legte seinen Wortendie folgenden Thesen zugrunde:1. Die sexuelle Frage ist als Kulturfrage heute eine inter-nationale Frage geworden und kann nur durchs die Solidaritätaller Kulturvölker in einheitlichem Sinne gelöst werden.2. Da die sexuelle Energie ein wichtiges und ivesentlichesElement der allgemeinen Kultur und des Fortschritts bildet, hatdie Kulturmenschheit ein solidarisches Interesse an ihrem Schutzeund an ihrer Förderung.3. Da der Begriff„Kulturmenschheit" durch die Heran-ziehung fast aller Rassen zur Kulturarbeit sich immer mehrerweitert, muß auch die nationale Sexualethik> immer mehreiner allgemeinen kulturellen Sexualethik Platz machen.4. So müssen auch die eminent praktischen Fragen der Rassenmischung, der Bekämpfung der Prostitution und der Geschlechtskrankheiten einzig und allein vom Standpunkt dieser„größeren"Kulturmenschheit beurteilt werden.In der Diskussion sprach zunächst Frau Steenhoop-StockholmSie wies darauf hin, daß die Männer nicht zu erschrecken brauchen,wenn auch mal das Weib den Traum der Liebe zu träumen ge-denk«, bisher hätten doch in der Hauptsache nur Herrenkinderund Sklabenkinder die Erde bevölkert. Erst die Gegenseitigkeitder Liebe versvreche das Höchste. Nicht nur Solidarität, sondernFreiheit und Solidarität müßten sich einen, so erst werde daswirkliche Prinzip der Demokratie zur Tat. Der Norweger Heibergsprach von neuen praktischen Gesetzen Norwegens. Das un-eheliche Kind solle ganz dem ehelichen gleichgestellt werden. Mitder idealen Hebung der- Mutterschutzbestrebungen habe mgnauch in Norwegen noch einen schweren Kampf. Die HolländerinFrau Hohenterwart-Jsraels, die Tochter des berühmten Malers,sprach in feinempfundenen Worten über ihre in Deutschland aufder Tagung empfangenen Eindrücke, sie käme sich vor wie eineältere Schwester, da doch Holland mit dem Mutterschutz dem Deut-schen Reiche vorangegangen wäre, allerdings erst nach dem VorbildFrankreichs, das noch einige Jahre früher damit eingesetzt. Denersten großen Mutterschutz hat ja bereits Napoleon der Großebegründet, und der könnte heute noch vorbildlich sein. Im Jahr-hundert der Volkserhebung, wo so viele schwere Steine auf denKorsen in Deutschland geschleudert würden, dürste es'wohl an-gebracht sein, auf diese einzigartige große soziale Tat des kühnenEroberers hinzuweisen. Die Tagung schloß Dr. Helene Stöckermit einigen Abschiedsworten, in denen sie noch einmal kräftigauf die Jnternationalität der Mutterschutz.bewegung hinwies.Derbandstag der Hütarbeiter.Die Debatte über die Jnvalidenkasse wurde am Dienstag fort-gesetzt. Im wesentlichen standen sich zwei Richtungen gegenüber.Die eine machte Vorschläge, die den Fortbestand der Kasse sichernsollen, erforderlichenfalls durch Zuschüsse der Verbandskasse oderdadurch, daß die Jnvalidenkasse zu einer obligatorischen Einrichtunggemacht werde. Die andere Richtung der Redner befürwortete dieAufhebung der Jnvalidenkasse unter Wahrung der erworbenenRechte der Mitglieder oder Rückzahlung der geleisteten Beiträge.Es wurde auch betont, daß die Jnvalidenkasse in den Rahmen dermodernen Gewerkschaftsbewegung nicht hineinpasse und ihre Auf-Hebung auch aus diesem Grunde zu wünschen sei.Em Antrag, der die Jnvalidenkasse zu einer obligatorischenEinrichtung für alle männlichen Verbandsmitglieder machen will,wurde in namentlicher Abstimmung mit 41 gegen 7 Stimmen ab-gelehnt.Der Verbandsvorsitzende M e tz s ch k e besprach hierauf die An-träge, welche zum Verbandsstatut gestellt sinlx Unter anderem betonte er, daß in allen Filialen Lokalkassen eingerichtet werdenmüßten, welche laufende Beiträge zu erheben hätten"Aus denLokalkassen sollten dann auch die Beiträge für große Streiks undAussperrungen anderer Organisationen gezahlt werden, falls diesedurch da? von der Konferenz der Verbandsvorstände empfohleneUmlageverfahren unterstützt werden. Hinsichtlich des Unterstützungs-Wesens sei der Grundsatz zu befolgen, daß dem Verbände mehrMittel zur Erfüllung der eigentlichen gewerkschaftlichen Aufgabenzur Verfügung gestellt werden. Vor allem müßten auch für dieAgitation die erforderlichen Mittel bereitgehalten werden. Auchdie für die Erhaltung der gewonnenen Mitglieder unbedingt noi-wendige Hauskassterung erfordere Geldmittel. Besonders müsse sichder Verband di« Agitation unter den weiblichen Berussangehörigenangelegen sein lassen. Es sollten Konferenzen" für weibliche Mit-glieder abgehalten werden, um auS deren Reihen geeignete Kräftefür die Agitation heranzuziehen. Um alleS' das durchführen zukönnen, mühten dem Vorstände die Recht«' eingeräumt werden,welche die Voraussetzung einer wirksamen Initiative seien.Die Diskussion über die Staiutenanträge drehte sich haupisäch-lich um die Höhe der Beitrags- und Unterstützungssätze, sowie umdie Klasseneinteilung derselben. Der Antrag d:s Vorstandes, inallen Filialen Lokalbeiträge von mindestens 10 Pf. für männlicheund S Pf. für weibliche Mitglieder zu erheben, stieß bei ver-fchiedenen Rednern auf Widerspruch. Sie meinten, wenn auch nachEinführung fester Lokalbeiträge die freiwilligen Sammlungen inFortfall kämen, so würde die Neuerung doch von den Mitgliedernals Beitragserhöhung empfunden werden und deshalb leinen An-klang finden. Man möge es bei dem bisherigen Zustand« lassen,wonach den Filialen 5 Proz. der Einnahmen zur Verfügung stehen.Wenn der Verbandsvorstand den Filialen die Erhebung fester Bei-träge und die Schaffung von Orisslatuten vorschreiben wolle, sosei das ein Eingriff in das SelbswerwaltungSrecht, welches denFilialen bisher zustand.— Einzelne Redner befürworteten da-gegen den Antrag deS Verbandsvorstandes.— Während nach demjetzigen Statut die Unterstützungssätze und die Unterstützungsdauernur nach den Beitragsklassen abgestuft sind, wollen mehrere derborliegenden Anträge, daß die Unterstützungsdauer auch nach derDauer der Mitgliedschaft abgestuft werde. Auch diese Angelegenheitnahm einen breiten Raum in den Erörterungen ein.Die Diskussion wird in der nächsten Sitzung fortgesetzt.Soziales.Au» dem Gutachten eincS Vertrauensarztes.Welche Fülle von Voreingenommenheit und Kenntnislosigkeiteinzelne Vertrauensärzte der BerufSgenosienfchaften kennzeichnet,ist ungeheuerlich. Hierfür wieder ein Fall:Ein 40 Jahre alter Maurer war in einer Fabrik bei Afchaffen-bürg mit einer Reparatur am Kesselbau beschäftigt. Beim Ein-.steigen in den Schacht kam er zu Fall und schlug sich sehr heftiggegen Brust und Magengegend. Ein Nebenarbeiter half ihm ausder Grube, legte ihm kalte Umschläge auf die Brust. Nach ver-geblichem Arbeitsversuche mutzte der Verletzte die Arbeit ein-stellen, nachdem ihm einiaemale Blut aus dem Munde gekommenwar. Nach langem Krankenlager starb dann der Verletzte an denFolgen dieses Unfalles, wie die behandelnden Aerzte auch fest-gestellt hatten.Die Berufsgenossenschaft weigerte sich, die Rente zu gewähren,weil der Unfall an sich nicht bewiesen sei, erst später gemeldetworden wäre und sicher die todbringende Krankheit vor dem Unfallschon bestanden habe. Die Witwe des Verstorbenen konnte abernachweisen, daß der Verletzte jahrelang tätig war und nur einigeTage einmal feiern mußte, also ein gesunder Arbeiter war. DieBetriebskrankenkasse gab an, daß der Verstorbene nur zweimalkrank gewesen war und zwar 3 Jahre vor dem Unfall einen Tagan Influenza und dann noch einen weiteren Tag wegen Bronchial-katarrh. Das Schiedsgericht für Arbeitervcrstcherung zu Würz-bürg ließ auch den Augenzeugen des Unfalls, den Maurer H.. eid-lich zur Sache vernehmen, der seine Angaben wiederholte, daß derVerstorbene vor dem Unfall niemals über Brustschmerzen usw.geklagt, immer ein gesunder Arbeiter gewesen, daß er den Ver-letzten dann nach dem Sturz aus dem Schacht herausgeholfen,Umschläge aufgelegt und gesehen habe, wie später mehrere Maledunkles Blut aus dem Munde des Verletzten gekommen sei. Aufsein Zureden habe sich dann der Verletzte nach Hause begeben undsei sicher an den Folgen dieses Unfalles verstorben. Was meintenun der Bcrtrauensarzt der Bcrufsgcnossenschaft, der Gerichts-arzt in Aschaffenburg, dazu? Er setzte sich hin und schrieb:„Kosthoc ergo propter hoc"(nach dem Fall, deshalb wegen desselben)hat sich der verstorbene W. und sein Freund H., der Unfallzeuge,gedacht: Wir machen einen Unfall aus einer Kleinigkeit, die viel-leicht am 24. April passiert sein kann. Am 24. April ereignete sichbereits der Unfall und am 30. Juni wird ein Unfall konstruiert,nicht von einem weitab von jeder Kultur und deren Errungen-schasten entfernt wohnenden Bauernknecht, sondern von einem wohl-organisierten Arbeiter, der täglich mit Hunderten von Kollegenverkehrt und der seine Rechte recht wohl kennt. Wenn W. rückwärtsin den Schacht stürzte, so kann er nur mit dem Rücken aufschlagen,da es undenkbar ist, daß W. im Sturze sich nochmals nach der Ge-sichtsseite hinbewegt. Wenn überhaupt etwas passiert ist, so kannder Unfall sich nur derartig ereignet haben, daß W. mit demMörtelkübel auf dem Rücken in den Schacht getreten. Von einemFall könne also gar keine Rede sein, denn W. habe zuerst einKopfleiden aus, dem Unfall—„konstruieren" wollen, habe dannerklärt, daß er nicht mehr richtig sehe und höre und dann„späterlegte er sich auf das Lungenleiden fest". Sicher habe aber der Ver-letzte„schon vor dem Unfall an offener Tuberkulose gelitten".Ein Glück für die arme Familie, daß Schiedsgericht und Reichs-verficherungsamt doch etwas näher auf die Sache eingingen und deneidlichen Aussagen der Zeugen und behandelnden Aerzte mebrGewicht beilegten, als den„Vermutungen" des Vertrauensarztes derBerufsgenossettschaft. Ein Spezialarzt legte näher dar, daß nurein Unfall die Ursache des Todes gewesen sein könnte.Derartige„Vertrauensärzte" schädigen das Vertrauen zuallen Aerzten ungeheuer. �_Gerichts- Zeitung»Anfechtung einer Bürgschaft wegen widerrechtlicher Drohung.Wer zur Abgabe einer Willenserklärung widerrechtlich durchDrohung bestimmt worden ist, kann die Erklärung nach§ 123 desBürgerlichen Gesetzbuchs anfechten. Zur Anfechtbarkeit genügtauch das Vorliegen einer versteckte« Drohung, wenn durch sie derBedrohte zur Wgabe der fraglichen Willenserklärung veranlaßtworden ist. Dabei ist es auch nicht erforderlich, daß der Drohendefür sich selbst den widerrechtlichen Vorteil erstrebt; auch wenn dieDrohung geschehen ist, um eine Erklärung zugunsten Dritter zuerreichen, ist die Anfechtung begründet. Ein Rechtsstreit dieser Artbeschäftigte am Montag das Reichsgericht:Der Apotheker N. war Vorsteher der Drogisteuinnung in Berlingewesen. Als solcher hat er nach der Behauptung der Innungwahrend mehrerer Jahre über 23 000 M. für die JnnungSmitglie-der eingezogener Gelder an diese nicht abgeliefert. Nach Bekannt-werden dieses Umstandes beging er am 27. Mai 1911 einen Selbst-Mordversuch. Am nächsten Tage begab sich das Vorstandsmitgliedder Innung, S., im Auftrage des Vorstandes in die Wohnung desN. und verhandelte mit dessen Frau und Tochter. Die letzterenbeiden unterzeichneten dann einen Bürgschaftsschein, wonach siefür di« durch die Abrechnung sich ergebenden Verpflichtungen desN. gegenüber den Mitgliedern der Innung volle Bürgschaft über-nahmen. Einige Tage darauf zahlten Frau und Tochter des N.einen Teilbetrag von 2700 M., haben dann aber die Bürgschafls-Erklärung angefochten. Die Drogisteninnung erhob deshalb Klageauf Zählung des Restbetrags von über 20 000 M. N., der geistes-krank gewesen sein soll, ist inzwischen verstorben. Die beiden Bür-ginnen wandten gegen die Ktege ein: sie seien zur Unterzeichnungdes Scheins widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden.Das Landgericht II zu Berlin hat die Beklagten zur Zahlungverurteilt. Vom Kammergericht dagegen ist die Klage abgewiesenworden. Die Entscheidungsgründe des Kammergerichts führenhierzu aus: Die Beklagten sind widerrechtlich durch Drohung desS. zur Abgabe der Bürgschaftserklärung bestimmt worden. S. hatvon ihnen die Bürgschaft verlangt, sie haben sie ihm nicht selbst an-geboten. Als die beklagte Frau N. fragt«, was geschehe, wenn sieden Schein nicht unterschrieben, erwiderte S.:„Jetzt weiß es derVorstand, bekanntgeben müssen wir eS, daß da» Geld nicht da ist;in der nächsten Woche ist Sitzung, wenn wir vor die Innung treten,und sagen, das Geld ist nicht da, so wird die Versammlung sagen,es ist unterschlagen worden; wenn wir aber die Bürgschaft vorlegenkönnen, wird sich die Versammlung beruhigen". Hieraus en'l habendie Beklagten den Schein unterschrieben. Bei den Worten des S.handelt eS sich nicht, wie die Klägerin meint, um einen bloßen Hin-weis auf bestehende Verhältnisse, die schon von jelbst«in künftigesUebel erwarten lassen, sondern um die Androhung eines künftigenUebels in widerrechtlicher Abficht. S. hat unter Hinweis auf dieFolgen der NichtUnterzeichnung des Schein? die Beklagten in Furchtvor einer Strafanzeige versetzen und durch diese Furchterweckungsie zur Abgabe der Bürgschaft bestimmen wollen. Das ist ihm auchgelungen. Nach der lleberzeugung des Gerichts haben die Be-klagten nur infolge dieser Furchterweckung den Schein unter-schrieben. Ihr freier Wille ist durch die mindestens versteckte, abervon ihnen erkannte Androhung der Strafanzeige beeinfluß: worden.Entscheidend ist allein der mit der Drohung veriolgte Zweck. Einwiderrechtlicher Zweck ist hier aber mit der Drohung verfolgtworden. Denn die Klägerin hatte kein Recht auf Sicherung ihrerForderung. Die Drohung braucht auch nicht von demjenigen aus-zugehen, demgegenüber im Rechtssinne die Erklärung abgegeben ist.Eine Bestätigung der Bürgschaftserklärung ist in der nachträglichenZahlung der 2700 M. nicht zu erblicken, weil die Zahlung noch er-folgte unter der Wirkung der Drohung.Ohne Erfolg versuchte eS die Klägerin mit dem Rechtsmittelder Revision: das Reichsgericht hat die Revision zurückgewiesen.Selbstmordversuch des Arbeitswilligen-Schwurzeugen.Der am Sonnabend zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilteMaurermeister William Pfeiffer stürzte sich am Montag früh.als er im Gerichtsgefängnis zur Freistunde geführt werden sollte.drei Etagen hoch über ein Treppengeländer hinweg, einen Lichtschachthinunter. Bei der Tat hatte der Mann ein Gesangbuch,in dem er in der letzten Zeit viel las, in die Hand genommen."Den Gefangenenaufseher hatte er dadurch getäuscht, daß er ihmbei dem Oesfnen der Gefängniszelle sagte, er möchte vor Beginnder Freistunde erst seinen Kaffee austrinken. Pfeiffer schlug beidem Sturz aus die im Gefängnisflur angebrachte sogenanntearme Sünderglocke auf und wurde mic zerschmetterten Gliedernnach der Klinik geschafft. Jedoch sollen die Verletzungen nicktlebensgefährlich sein. Pf. war auch Vorstandsmitglied einerKirchengemeinde.Ter„Chiromantiker".In das Reich des krassesten Aberglaubens führte ein« VerHand.lung hinein, welche gestern unter Vorsitz des LandgerichisdirekiorSHesse die 2. Strafkammer des Landgerichts III beschäfliate.Angeklagt wegen Erpressung und Freiheitsberaubung war der„Naturheilkundige" Heinrich Hermann aus Wilmersdorf.— DieVerhandlung zeigte wieder einmal, daß es immer nock Leute gibt.welche an d,e blödeste ,.Wahr,agerei" glauben. Neben dem üblichenMumpitz, Wahrsagen aus Kässeegrund. Eidotter usw., wird s-'teiniger Zeit von geschäftstüchtigen Leuten die Chiromantie oderHandlesekunst betrieben, mit der früher auf den Jahrmärktenschmutzige Zigeunerweiver auf den Gimpelsang gingen. Zu denLeuten, welche dieiemgen, die„nicht alle" werden, als Geldquellebenutzen, scheint auch der Angeklagte zu gehören, der in Wilmers-dors angeblich dl« Naturheilkunde ausübt und nebenbei„wahr" sagt.Auf Grund eines ihnen auf der Straße in die Hand gedrucktenReklamezettels, auf welchem auf die unfehlbar eintreffendenProphezeiungen mittels der Chiromantie hingewiesen wurde, er-schienen eines TageS die Wirtschafterin Anna Stemme und.icVerkäuferin Frieda Schmidt in der Wohnung des Angeklagten, umsich aus der Hand wahrsagen zu lassen. Der„Chiro-mantiker" arbeitete ziemlich eine halbe Stunde an der Hand derSchmidt herum, bis dieser schließlich der Arm lahm wurde. Nach-dem diese Prozedur erledigt war, verlangte der Angeklagte für dieschriftliche Ausarbeitung der„Prophezeiung" 3 M. Der Zeuginwar dieser Blick in-hie Zukunft wohl doch etwas zu teuer. � Nachlangem Feilschen ermäßigte der Prophet seine Forderung auf 1 M.Als die beiden neugierigen Damen auch diesen„Schleuderpreis"nicht zahlen wollten, schloß der Angeklagte kurzerband die Tur zuund erklarte, daß sie nicht eher herauskämen, bi« daS Geld bezahltsei. Der Zeugin Schmidt blieb schließlich nichts übrig, als die eineMark zu bezahlen.DaS Gericht erkannte bezüglich der Erpressung� auf Frei-st>reckung. Dagegen wurde der Angeklagte wegen Nötigung undFreiheitsberaubung zu 20 M. Geldstrafe verurteilt.