Hr. 148. 30. Aahrgiwg. 1. KnlU Ks Jonötts" Scrlim öollielilatt. Soulltag, 15. Inui 1918. Hus der Partei. AuS der belgischen Partei. Brüssel , 12. Juni. (Eig. Ber.1 In seiner letzten Beratung befaßte sich der Generalrat der belgischen Arbeiterpartei mit der von der Negierung ernannten Wahlrecht-Zkommission und der Taktik, die die Arbeiterpartei gegenüber der Tätigkeit der Kommission und in der Wahlrechtssrage in der nächsten Zukunft einzunehmen haben wird. In der Debatte wurde auch die Zusammensetzung der Kom- Mission iritisiert, der kein einziger Arbeiter angehört und von der geflissentlich jene Mitglieder der Rechten ferngehalten wurden, die der Revision günstig sind. DaS WahlrechtSkomitee der Arbeiterpartei— jenes das den Generalstreik organisiert hat— tvird seine Tätigkeit wieder auf- nehmen und unverzüglich an die Arbeit gehen, um die Wahlrechts« bewcgung im ganzen Lande aufs neue in Fluß zu bringen, und den sichtlichen antidemokratischen Tendenzen der offiziellen Wahlrechts- kommiision durch eine entsprechende Agitation entgegenzuwirken. Die "Tagung der offiziellen Kommission, deren Arbeiten die Partei das größte Mißtrauen entgegenbringt, wird eine Serie von Protest« Meetings begleiten, der sich eine intensive Kampagne für das Wahl- recht anschließen wird. An der Debatte beteiligte sich auch der zur Beratung zuge- zogene Rektor der„Universils Nouvelle, Genosse Prof. De Greef, Mitglied der offiziellen Wahlrechtskommission. Auch in dem eben vom Generalrat an die Arbeiter gerichteten Manifest,� daS gegen die neuen ungeheuerlichen Militär» lasten im Betrage von 284 Millionen Stellung nimmt und das die Arbeiter zum Kampf gegen den Militarismus aufruft, wird und die neuen Steuern die Wahlrcchtskommifsion der Regierung ge- bührend gekennzeichnet und die Arbeiterschaft zum Protest und zur Wachsamkeit aufgefordert._ Gewerhrcbaftlicbes. Bchwcrftc Strafe— gefüllte Kompott- fchürfeln. Geschwollene Festreden und Zeitungsartikel, Massen. gesänge, Glockengeläute, Fahnen, Blumen. — echte und falsche — Triumphbogen mit imitierten Goldsäulen. Musik, Para- den, Festessen mit Bratenreden, Gläserklirren mit Hurras ohne Ende, Böllerschüsse und Freudenfeuer bilden für frei- willige und unfreiwillige Liebediener, für der Geschäftshuber übergroßen Zahl dieser Tage Inhalt. Die paar Idealisten, die aus rumantischer Schwärmerei den Rummel mitmachen, verschwinden wie Kuchenkrumen im Kehrichthaufen. Wil- Helm II. gilt der Trubel, das Festgetue und begeistertes Toben. Wer nicht mitmacht, ist natürlich ein elender Wicht, ein vaterlandsloser Geselle, ein Reichs- und Staatsfeind, und wer weiß, was sonst noch!— Die christlichen Gewerkschaften melden sich denn auch als Statisten, preisen Wilhelm II. als Förderer und Freund. Mehr gedämpft stimmen auch die„Hirsche" in das Fest- und Iubelgeschrei ein. Liegt denn wirklich irgendein Grund vor, Wilhelm II. zu preisen, zu preisen als Begünstiger gewerk- schaftlichen und sozialen Strebens? Keineswegs! Das Gegen- teil hätte größere Berechtigung. Auf dem Sparrenberge war's, da gab Wilhelm II. das Signal zu einer wüsten Hätz gegen die Gewerkschaften. Er sprach das böse Wort von der„schwersten Strafe dem, der andere an freiwilliger Arbeit hindere". Tie Scharfmacher jubelten. Schon sahen sie das langerstrebte Ziel„Zer- schmetterung der Gewerkschaften" nahe vor Augen. Der Zentralverband der Industriellen ließ 12 000 M. in die Hände des damaligen Staatssekretärs v. Vosadowsky gleiten, damit seine polizeilichen Hilfsorgane Material für ein Zuchthausgesetz herbeischleppten. So zeugte des Kaisers Androhung das tückischste Atten- tat gegen das Koalitionsrecht. Daß er zuschanden Wurde, der schändliche Zuchthausgesetzentwurf in den Orkus ver- schwand, ist kein Verdienst Wilhelms II. Aber die Hoffnung auf seine Stimmung hält den Eifer der Scharfmacher auf die Erlangung eines Ausnahmegesetzes gegen die Arbeiter le- bendig. muntert sie zu stets neuen Angriffen auf. Und neue Wasserbäche leitete auf ihre Mühlen des Kaisers Wort von den„gefüllten Kompottschüsseln" der Ar- beiter. War das eine Wonne für das Kavitalistenvolk. Hatte es doch der Kaiser bestätigt: Lohnerhöhungen, waren überflüssig, mit der Sozialpolitik muß Schluß gemacht werden! Die Folgen blieben nicht aus. Der Karren der sozialpolitischen Gesetzgebung kann nicht mehr vorwärts, er bekam sogar Rückwärtsstöße, ganz offenbar sind die Ver- schlechterungen in der sozialen Rechtsprechung. Mit mutigem Anlauf forderten die Unternehmer nun als Mittel gegen weitere Lohnsteigerung— sie befürchteten ein Ueberlaufen der Kompottschüsseln— besseren Arbeitswilligenschutz, Verbot des Streikpostenstehens. Sagte doch der Kaiser, daß für die Arbeiter genug geschehen. Und nun schloß sich der Reigen der Gewerkschaftsgegner. Mit dem bekannten�Scharf- machertum schreien biedere Hansabündler, engherzige Spießer, Agenten des Groß- und Kleinkapitals, christliche Gewerk- schaftler und Hinzebrüder, Hirsch-Dunckerianer und Gelbe, Reichsverbändler und nationale Aucharbeitervereine in schön- ster Harmonie um die Wette nach Knebelgesetzen für die freien Gewerkschaften. Ob gewollt oder nicht, Wilhelm II. hat einen reichlich bemessenen Teil zu der Voreingenominenheit, zu den Ver- folgungen und Belästigungen, zu der Ueberschärfe der Recht- sprechung gegen die Gewerkschaften beigetragen.„Wir dürfen einen totschlagen!"— Von dieser Stimmung und Ueberzeugung getragen, entwickelte das zunft- mäßige Streikbrechertum eine über Recht, Gesetz und Achtung vor anderer Wohl sich kühn hinwegsetzende Rücksichtslosigkeit, Radaulust, Mordgier. Im Bewußt- sein seiner Unverletzlichkeit erhob das Streikbrechertum den Meineid gegen Streikende zu einem bedenkenlos angewandten Kampfinittel. Mit feinem Instinkt sagten sich die Schützlinge der heiligen Iustitia, daß ihre Meineide nicht ihnen selbst, sondern nur ihren Opfern gefährlich wer- den könnten. Die frisch-fromm-fröhliche Schwurbereitschaft der Hintzegardisten überwand in den Kreisen der Gewerk- schaftsgegner die Scheu vor der Abgabe falschen Zeugnisses in bedenklicher Weise. Man weiß: das Interesse des Ka- pitals heiligt jedes Mittel, wenn mit seinem Gebrauch eine Schädigung der modernen Arbeiterbewegung verbunden ist. Unter der Regierung Wilhelms II. schoß der Haß gegen die Gewerkschaften üppig ins Kraut. Gewiß einem Teil des Volkes entspringt das Jauchzen und Jubeln tief empfundener Ueberzeugung— im Geld- schrank. Die Wirtschaftspolitik des Reiches und Preußens in dm letzten Jahrzehnten warf einer Handvoll Junker und Kapitalisten riesenhafte Reichtümer in den Schoß. Tie Kinder des Glücks haben Grund zu fröhlichen� Festrausch. Mit bitterem, sehr bitterem Ge- fühl sieht die Arbeiterschaft dem Treiben zu. Ist doch die Ursache der Freude und des Glücks der Jubilierenden für sie die Quelle ernster Sorgen, quälender Leiden, großer so- zialer Nöte. Schü'erste Strafe-- gefüllte Kompottschüsseln. Berlin und Umgegend. Die Arbeiterschaft der Färbereien und chemischen Wasch- anstalte» hatte dieser Tage eine interessante Branchenversammlung. Der Gauleiter Koklege Kotzke referierte über:„Die Existenz- bedingungen der Arbeiterschaft in den Färbereien und chemischen Waschanstalten." Als Einladung zu dieser Versammlung waren einige Tausend Flugblätter verteilt worden, unter andern auch vor dem Betrieb Max Bloch in der Brunnenstraße 73. Ein ältlicher, arbeitsloser Kollege verdiente sich durch diese Verteilung ein paar Groschen. Alles ging gut, die dort Beschäftigten nahmen die Flug- blätter dankend entgegen, bis der Herr Bloch kam, da wurde die Sache kritisch. Denn Herr Bloch, der ein großer, starker Mann ist, packte den schwächlichen Kollegen am Arm und sagt«:„Sie kommen mit zur Wache, sie müssen verhaftet werden." Es war dieses früh- morgens, also zu einer Zeit, in der die Brunnenstraße sehr belebt ist. Daß dadurch ein Auflauf entstand, ist erklärlich und diesen Auflauf benutzte der Kolleg«, um, ohne Herrn Bloch Adieu zu sagen, zu verduften. Daß Herr Bloch ein Allgewaltiger in seinem Betrieb ist, wußten wir schon, daß er aber auch Gewalt auf den öffentlichen Verkehrswegen Berlin ? hat, war un» bis jetzt fremd. Die Firma Bloch war vor einigen Tagen so freundlich, unserer Organisation durch drei Justizräte und einen Doktor der Rechts- Wissenschaft Rechtsbelehrung zuteil werden zu lassen, wie wir unsere Agitation zu treiben haben, um nicht mit dem Gesetz in Konsliit zu geraten und um uns auf die§8 823 und 824 des B.G.B , auf- merksam zu machen, die da lauten: Wer vorsätzlich oder fahr- lästig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, da» Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet usw. Besser wäre es, wenn Herr Bloch sich einen Vortrag über die Auslegung und Anwendung dieser Bestimmungen halten ließ, er scheint darüber sehr im Unklaren zu sein. Das geht auch daraus hervor, daß die Firma Bloch die vorigen Monat entlassenen zehn Plätterinnen auf die schwarze Liste gesetzt hat, worüber wir die Beweise in Händen haben. In obiger Ver- sammlung wurden vom Referenten alle diese Uebelstände in das gehörige �Licht gestellt, und daß nicht nur die Arbeiterschaft ein Interesse hieran hatte, bewies, daß der Vorsitzende der Unternehmer- organisation H. Bergmann seinen ersten Buchhalter zu dieser Ver- sammlung abkommandiert hatte, jedenfalls um Berichterstattung zu bekommen. Herr Bergmann hätte auch ebensogut selbst kommen können, denn eine moderne Arbeiterorganisation braucht die Oeffent- lichkeit nicht zu scheuen. Die Versammlung war von einem guten Geist beseelt und es wurde beschlossen, nicht«her zu ruhen noch zu rasten, bis in den Färbereien und chemischen Wäschereien den bort Beschäftigten das gesetzlich gewährleistete Koalitionsrecht ohn« Maßregelungen und schwarze Listen gestattet wird. Die Betrieb« Max Bloch und Karl P o l l n o w sind für Organisierte noch gesperrt. Deutscher Textilarbeiterverband. Filiale Berlin . Gewerkchaftsfeindliche Bestrebungen der Firma Peek u. Cloppenburg . Zu der unter dieser Ueberschrift vor einigen Tagen von unS ge- brachten Notiz wird uns vom Verband der Schneider mitgeteilt, daß die schuldigen ersten Zuschneider der Firma, welche die Modelle ent- werfen, wonach dann die anderen Zuschneider zu schneiden haben, diesen die Schuld für das Nichtpassen der Sachen zuschieben. Im Anschluß hieran wird darauf verwiesen, daß nur die ersten Zu- schneider an dem Nichtpassen der Sachen schuld sind, da die anderen Zuschneider keinen Einfluß auf die Herstellung der Modelle haben. Die ersten Zuschneider sind es insbesondere, die immer Prügelknaben für ihre eigenen Fehler in den Kreisen der Arbeiter suchen, um dann eine Entlassung von organisierten Arbeitern wegen angeblicher Arbeits- fehler oder unbefriedigender Leistung herbeizuführen. Achtung, Tabakardeiter! Die Ortsverwaltung Berlin des Deutschen Tabakarbeiterverbandes hat beschlossen, der Zigarrenfirma I u h l, Pankow , die grünen Plakate zu entziehen. Die Ursache liegt in der Hauptsache darin, daß die Firma Juhl hier in Berlin organisierte Arbeiter entläßt, während sie in Filial- fabriken im Osten unorganisierte Arbeiter einstellt. Arbeiter, Raucherl Kauft nur da euren Bedarf an Zigarren, wo das grüne Plakat unterschrieben Alwin Schulze, vor« Händen ist. Der Vertrauensmann der Tabakarbeiter. veutkcbes Reich. Der Verband der Maler im Jahre ISIS. Das abgelaufene Geschäftsjahr stand für den Malerverband im Zeichen der Vorbereitung zu einer fast alle Mitglieder um- fassenden allgemeinen Lohnbewegung. Die bevorstehende große Lohnbewegung befruchtete naturgemäß das Organisationsleben und die Agitationstätigkeit. Die durchschnittliche Mitgliederzahl des Verbandes stieg denn auch im Jahre 1312 auf bl 623 von 47 313 im Jahre 1911. Das ist eine Zunahme von 4305 oder 9,1 Proz. Die große Unbeständigkeit der Arbeitsverhältnisse und Betriebs- statten, das Ucberwiegcn des jugendlichen Elements unter den Berufsangehörigen, der kleingewerbliche und stark ausgeprägte Saisoncharakter der Malereibetriebe, der Tausende Maler und Anstreichergehilfen, alljährlich monatelang in tiefstes Elend und in anderen Berufen und Betrieben vorübergehend oder dauernd Unter- kommen zu suchen zwingt, benachteiligt die Beständiakeit deS Mitgliederbestandes. So wurden 1912 23 307 Mitglieder neu auf- genommen, womit die schon erwähnte tatsächliche Mitgliederzunahme, oberflächlich betrachtet, in keinem günstigen Verhältnis steht. Lohnbewegungen wurden 135 durchgeführt in 1053 Betrieben mit 4347 Beschäftigten. Davon wurden 82 Bewegungen in 814 Be- trieben mit 3138 Beschäftigten ohne Streiks abgeschlossen.— Durch Streiks und Aussperrungen wurden 53 Bewegungen in 50 Orten mit 245 Betrieben und 1743 Beschäftigten erledigt.— Von den Bewegungen endeten mit Erfolg 83 mit 2320 Beteiligten, mit teil- weisem Erfolg 40 mit 2157 Beteiligten und ohne Erfolg 12 mit 145 Beteiligten.— Erreicht wurden durch die Lohnbewegungen Arbeitszeitverkürzungen für 1727 Personen von wöchentlich 3417 kleines f cuillcton. Der Dichter der Kraft. Camille Lemonnier , der stärkste unter den belgischen Dichtern von heute, ist in Brüssel in der Nacht auf Sonnabend im Alter von 71 Jahren an den Folgen einer Darmoperatwn gestorben. Er war der letzte der großen Naturalisten, die neben und mit Zola den Roman der Wirklichkeit geschaffen haben. In Belgien ist er spät zur Geltung gekommen; er war den Muckern zu frei und fleischlich; seine Kunst war den an da« Salonklima gewöhnten Bürgern zu robust, zu menschlich und zu wahr. Dafür war er das Haupt der jungen Dichter, mit denen er bis ans Ende jung blieb: im Leben und im künstlerischen Schaffen eine Kraftnatur. Vor einigen Wochen konnten wir noch Lemonniers Bekenntnis zum Volk und seiner siegreichen Zukunft hier wiedergeben, als er sein gewichtiges Wort für das belgische Proletariat bei dessen Eintritt in den Generalstreik abgab. Wie alles bei Lemonnier trug auch dieser Bekennermut, vor dem unsere deutschen Dichterlein zagend zurückgebebt wären, den Charakter des Natürlich-Selbstverständ- lichem. Sein Leben wie seine Werke zeigten die gleiche Kraft des Stromes, der dem Meere zufließt. Camille Lemonnier war als Sohn eines Wallonen und einer Plämin am 24. März 1841 in Jxelles bei Brüssel geboren. Er sollte Advokat werden wie sein Vater; aber mit 22 Jahren� tzing er seine eigenen Wege zur Schriftstellerei. Nach dem Tode seines Vaters führte er auf einem abgelegenen Schlosse, in der Gegend von Nainur, in freies Naturleben, dessen Frucht sein erster Roman „Nos Flammends" war, worin er als Verehrer von Rousseau und Rubens, den Kult der frei en Natur pries. Dann kam„Sedan ", mit seinen Kriegsgreueln, die er mit eigenen Augen sah und in einer leidenschaftlichen Niederschrift nach dem Leben festhielt. Das Buch schlug ein; hier war die zuckende, blutende Wirklichkeit Literatur geworden. In zahlreichen Romanen hat der belgische Zola das Leben seiner Zeit widerspiegelt— mit all' den Mitteln realistischer Treue, aber auch mit dem vollblütigen Temperament, das ihm eigen war. In seinen besten Büchern steht er neben Zola. In dem Hymnus auf das freie Ausleben eines urwüchsigen Kraftmenschen in der Natur iLe Male) steht er über Zola. Diese lebenstrotzende Gestalt eines Wilderers, den er hier schildert, er- regte das höchste Entzücken Flauberts. Fast die gleiche Höbe er- reichte Lemonnier in seinem großen Gemälde aus dem Berg- arbeiterleben lHappe-Chair, deutsch : Moloch), das vor Zolas Germinal erschien. Es ist wieder die Kraft des ZuPackens, die zur Bewunderung zwingt. Freilich das Milieu ist roh und brutal, Instinkte herrschen vor. Ungeschminkt wird die nackte Wirklichkeit bi» zum Abstoßenden geboten. ES ist daS Leben einer Arbeiter- schaft, die noch nicht ihrer historischen Aufgabe bewußt geworden. Aber man spürt die Macht, die noch schlummert oder sich in Lastern austobt. Fruchtbar und umfassend ist LemonnierS Schaffen. In seinen Romanen und Novellen lebt Volk und Zeit auf; die Einzelfiguren nicht minder wie die Massenhaben das volle Blut, das Rubens und die vlämische Malerei durchpulste. Und kaum einer hat wie er die tiefen Zusammenhänge des Menschen mit dem Boden ge- fühlt und dargestellt. Fehlt ihm die letzte künstlerische Vollendung, so hat er dafür die ganze Natur in ihrer Breite und Fülle und vor allem die Kraft, oie auS dem Vollen schöpft. Ncgicrungsjudiläum und Sekt. In den bürgerlichen Zeitungen erläßt augenblicklich eine bekannte Seklsirma splendide Annoncen, in denen zum Jubiläum des Kaisers eine„besondere Füllung" angeboten wird. Nicht etwa so, als ob augenblicklich ein besonderer Trank in den Handel gebracht würde: die Sache liegt viel tiefer. Die ge- nannte Sekifirma hat schon seit Jahren das Negierungsjubiläum des Kaisers mit unvermeidlicher Sicherheit heranrücken sehen und hat mit genialem Geschäftsgeist geahnt, daß ein so patriotisches Ereignis unbedingt belebend auf den Sektmarkt einwirken würde. Infolgedessen hat sie sich schon seit Jahren zu einer würdigen Feier de« großen nationalen Gedenktages gerüstet. Seit Jahren schlummern in ihren Kellern die„edlen Säfte", die nun am Jubel- tage in„köstlicher Reife" ausgeschenkt werden sollen. Um auch äußerlich den großen Moment zum Ausdruck zu bringen, erscheinen die Flaschen„in Zulammenhang mit einer Goldkapsel". Es liegt uns völlig fern, eine Sektannonce oder eine Flasche Sekt von der grieögrämlichen oder gar von der tragischen Seite zu nehmen. Bezeichnend ist eS aber doch, daß gerade die Sektfirmen das Jubiläum des Kaiser? benutzen, um einen Vorstoß, zu unter« nehmen. Kann man sich beispielsweise denken, daß etwas Sehnliches geschähe. wenn etwa die Verehrer K a ntS zu einer Kantfeier rüsteten? Wenn die Königsberger Wirte bei einer solchen Gelegenheit einen „Kanlsekt" auf den Markt bringen oder ein„prima gepflegtes Kant- bier" empfehlen würden, würden ihre Annoncen sofort von der Presse als a n st ö ß i g glossiert werden. Und ist ein Herrscher weniger als ein Philosoph? Wenn sich am JubiläumStage wirklich ein in feiner Tiefe er« griffenes Volk zu einer nationalen Feier zusammenfände: kein Sekt- fabrikant würde derartige Annoncen riskieren, weil sie allgemein als eine Blasphemie empfunden würden. Lederers Heinedenkmal. Heinrich Heine wird jetzt bald sein erstes öffentliches Denkmal in Deutschland erhalten; es soll im Hamburger Volkspark endlich seine lange verweigerte und be- kämpfte Stelle finden. Der Entwurf LedererS ist eben vollendet und nach Friedrichshagen in die Gießerei übergeführt worden. Der Künstler hat Heine im Zeitcharaktcr aufgefaßt, in einer Auffassung, die Heine als hellenifch-weltfreudig erfaßt. Des französischen Dichters Gautier Schilderung hat ihm dabei vorgeschwebt: „DaS war ein schöner Mann von fünfunddreißig, sechSund- dreißig Jahren, mit den Merkmalen einer groben Gesundheit wie ein germanischer Apoll, wenn man seine hohe weiße Stirn sah, marmorrein, von schwerem Blondhaar beschattet. Die blauen Augen funkelnd von erleuchteter Eingebung; rundlich volle Wangen mit vornehmer Linie, nicht umdüstert von der damals üblichen roman- tischen Bleichsucht. Umgekehrt I Rosiges Blühen in klassischer Eni- faltung; eine hebräisch leichte Biegung unterbrach, ohne die Rein- heit zu mindern, die ursprüngliche Sendung seiner Nase, griechisch zu sein; wohlgefällige Lippen, wie zwei gute Reime, bewahrten einen reizenden Ausdruck in der Ruhe, doch wenn er sprach, sprangen von ihrem geschwungenen Rot pfeifend Pfeile, zugespitzt, widerhakig, von nie fehlender Hohnschärfe. Er war ein bezaubernder Gott, mit teuflischer Bosheit, und, was man auch sagen mag, sehr gütig." Die überlebensgroße Figur soll sich auf einem Sockel mit tinex Bronzebasis erheben. Wie Martinelli Schauspieler wurde. Echtes Künstlerblut floß in den Adern dieses Oberösterreichers mit dem italienischen Namen und dem scharsgeschnittenen romanischen Kopf, der zwar in Linz geboren war, aber dessen Vorfahren aus einer uralten italienischen Adelsfamilie kamen. Schon sein Vater war Dekorationsmaler ge- Wesen, und Ludwig folgte dem Beruf feines Erzeugers, entwarf die prächtigsten Kulissen, bevor ihn ein Zufall zum tatigen Helden dieser bunten Scheinwelt machte. In einer autobiographischen Skizze hat er selbst erzählt,„wie ich Schauspieler wurde". In einer Künstlerkneipe stellte eines Wends einer die Behauptung auf, die Schauspielkunst sei die schwerste Kunst, worauf Martinelli ebenso kühn wie bestimmt erwiderte, sie sei im Gegenteil die leichteste. Ein Wort gab das andere und es wurde eine Wette abgeschlossen, in der der junge Theatermaler sich verpflichtete, innerhalb einer Woche ein erfolgreiches Debüt als Schauspieler erreicht zu haben. Und er gewann.„An jenem Abend, da ich die Wette gewonnen," er- zählt er,„tranken wir die zwölf Tiroler Wein, die mein„Gegner" bezahlen mußte. Ich hatte den Sebastian Tratschmirl in der Nestroy- schen Posse„Der Tritschtratsch", ohne vorher auf einer Bühne auch nur ein einzigesmal aufgetreten zu sein, mit kolossalem Erfolg gegeben und glaubte den Beweis erbracht zu haben, daß das Komödienspielen leichter denn Malen sei. Ob ich Recht hatte?, Ich hielt nun die ganze Sache für abgetan. Aber dem war nicht so; jetzt ging's erst recht loS. Es war da am Theater ein Souffleur namens Seiler, der mir den Strick drehte, an welchem er mich an den Thespiskarren band. Er befaßte sich auch niit EngagementSbermittlungen und ließ mich nicht locker. Er verstand es, mich nach und nach dahin zu bringen, zum Theater zu gehen; er sagte, daß ich mein Glück als Schauspieler machen müsse, daß ich ein bedeutendes Talent
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