Kr. 24t 3t). Mrgavz.Z. Skilm des.Awörls" örilimr UMMDienstag, tK. September t9l3.GewcrkfcbaftUcbea»Der bntifche Gewerkrchaftöhongreß.London, 13. September 1613.Der diesjährige Kongreß der britischen Gewerkschaften,der in der ersten Woche des Monats in Manchester stattfand,war in mehr als einer Hinsicht ein bemerkenswertes Ereignisin der Geschichte der Arbeiterbewegung Großbritanniens.Nicht daß besonders wichtige und neue Beschlüsse gefaßt wordenwären. Die Tagesordnung des Kongresses zeigte die üblicheUeberladung mit Resolutionen, die jährlich fast ohne Debatteangnommen werden und die meist besser auf den einzelnen Be-rufskongressen erledigt, werden konnten. Aber zwei Ereignissedrücken dem Kongreß einen eigenen Stempel auf: die Ereig-nisse in Irland und der Empfang der deutschen und französischen Gäste. Daneben muß auch noch erwähnt werden, daß derdiesjährige Kongreß der größte war, der je stattgefunden. Eswaren nicht weniger als 206 Gewerkschaften mit 2 223 446Mitgliedern vertreten, was von dem schnellen Wachstum derbritischen Gewerkschaftsbewegung in dem letzten Jahre zeugt.Die Ereignisse in Dublin beschäftigten den Kongreß fastzwei Tage lang. Gleich zu Anfang wurde das stürmische Ver-langen laut, der Kongreß möge sich mit der brutalen Ver-gewaltigung der irischen Arbeiter durch die Polizei befassen.Nach der Wahl der Kongreßausschllsse und Beamten unter-breitete das Parlamentarische Komitee, die ständige Exekutiv-behörde des Kongresses, den versammelten Delegierten eineResolution, in der die Regierung und der englische Statthalterwegen des Versammlungsverbots vom 31. August und dasbrutale Auftreten der Dubliner Polizei heftig verurteilt wur-den und die Wiederherstellung der Redefreiheit und die Ein-leitun� einer strengen Untersuchung über die Aufführung derPolizei verlangt wurde. Begründet wurde diese Resolutionvon dem Vertreter der Liverpooler Docker Sexton. Daß dieWahl des Parlamentarischen Komitees auf diesen Redner fiel,war wohl Absicht. Die irische Transportarbeitergewerkschaftist eine Absplitterung von der Organisation, die Sexton ver-tritt, und Sexton und Larkin sollen miteinander auf sehr ge-fpanntem Fuße stehen. So wollte man denn der Oeffentlich-keit beweisen, daß trotz aller persönlichen Reibereien die irischenund englischen Proletarier Schulter an Schulter stehen, wennes sich um den Kampf gegen den gemeinsamen Feind, gegenein arrogantes Unternehmertum, verbündet mit einer brutalenBehörde handelt, und daß die Leute, die mit diesen persön-lichen Gegensätzen rechnen, sich arg verkalkuliert haben. Vielenging die Resolution nicht weit genug. So verlangte ein Red-ner, der Gewerkschaftskongreß sollte nach Dublin übersiedeln,oder doch wenigstens seine berufensten Vertreter hinschicken,um die Stelle der eingesperrten Streikführer einzunehmen.Es wurde auch von einem Vertreter der Eisenbahnbureau-angestellten ein Amendement eingereicht, das von dem Präsidenten der Bergarbeiter, Smillie, unterstützt wurde, in demdie Delegierten aufgefordert wurden, sich als Protest gegen dieNiedermetzelung der Dubliner Arbeiter nicht an dem öffent-lichen Empfang zu beteiligen, den die Stadt Manchester denDelegierten bereitete. Der AbänderungSantrag wurde jedochabgelehnt: die Resolution wurde einstimmig angenommen.Am folgenden Tage erneuerten sich die Szenen, als dieVertreter des Dubliner Gewerkschastskartells auf der Tribünedes Kongrestes erschienen und um Beistand in dem ungleichenKampfe zwischen unbewaffneten Arbeitern und den betrunke-nen Bütteln der Machthaber baten. Partridge, der Vorsitzendeder Dubliner Maschinenbauer, berichtete, wie er zweimal inzwei Tagen verhastet worden fei und das wegen der zahmstenReden, die er je gehalten. Er habe dem Magistrat gesagt, daßman Wohl bald Leute verhaften werde, die auf der Straße dasVaterunser hersagten. Er berichtete über die empörendstenMißhandlungen von Männern, Frauen und Kindern seitenseiner Polizei, die so sinnlos betrunken war, daß sie selbst zweiihrer Kollegen in Zivil jämmerlich verbläuten. Das Resultatdes irischen Besuchs war, daß der Kongreß sechs seiner ge-achtetsten Mitglieder nach Dublin schickte, um den DublinerArbeitern zu helfen, das Recht der steien Rede zu verteidigen,und um über die Ausfchveitungn der Polizei eine Untersuchungeinzuleiten. Auch bei der Zusammmsetzung dieser Delegationging der Kongreß sehr taktvoll vor. Es waren darin alle ge-werkschaftlichen und politischen Richtungen innerhalb der britischen Arbeiterbewegung vertreten.Schon allein diese schöne Demonstration der Solidaritätder Arbeiterklasse hatte dem Kongreß ein eigenes Gepräge ge-geben. Allein der Kongreß wird nicht allein wegen dieses Er-eignistes in Erinnerung bleiben, sondern auch wegen desmachtvollen Beweises der internationalen Solidarität, die erder Welt bot. Zum ersten Male waren auf einem britischenGewerkschaftskongreß Vertreter der deutschen und ftanzösischenArbeiter erschienen. Die Vertreter beider Völker— Legtenfür Deutschland und Jouhaux für Frankreich— verkünde-ten von der Tribüne die Friedensliebe der deutschen und ftan-zösischen Arbeiter, die Wesensgleichheit der Arbeiterbewegungin allen Ländern und die Entschlossenheit der organisiertenArbeiterschaft, den Kapitalisten und Kriegshetzern entgegenzu-treten und den Frieden zu bewahren. Die Reden zündeten,wie selten Reden auf dem britischen Gewerkschaftskongreß ge-zündet haben. Minutenlanger Beifall umbrauste die Abge-sandten der deutschen und französischen Arbeiter. Der Kon-greß beschloß, die Reden sofort drucken und verbreiten zulasten. Auch sonst noch wurden auf dem Kongreß manch guteWorte über die Bedeutung der internationalen Arbeitersoli-darität für die Erhaltung des Weltfriedens gesprochen. Sosagte der als Gast anwesende Bischof Welldon, daß er seinegrößte Hoffnung in bezug auf die Erhaltung des Weltfriedensauf die EntWickelung der internationalen Beziehungen derGewerkschaften setze.„Sie sind es vor allen anderen Körper-schaften," rief er aus,„die den Kriege� zwischen den Völkernein Ende bereiten werden."Wie schon erwähnt, waren die verhandelten Resolutionenmeist alte Bekannte. Unvermerkt darf jedoch nicht bleiben,daß diesmal die Resolution über die Einführung von Zwangs-schiedsgerichten ausblieb. Als eine Art Stellvertreter dieserResolution kann man den von dem Buchdrucker Robertsbegründeten Antrag ansehen, der die Verträge zwischen Ar-beiterorganisationen und Unternehmern gesetzlich erzwingbarmachen will. Der vorjährige Kongreß verwarf den Antragmit großer Mehrheit, da viele Delegierte darin das dünneEnde des Keils der Zwangsschiedsgerichte erblickten. Diesmalhatte man den Antrag in gefälligere Formen gefaßt. Aber derKongreß wollte auch so nichts davon wisten. Die große Mehr-heit, die ihn niederstimmte, scheint den Bestrebungen, das Mo-ment des legalen Zwanges in die Vereinbarungen der Arbeit-geber und Arbeitnehmer einzuführen, den Gnadenstoß versetztzu haben._Berlin und Cltngcgend.Achtung, Mitglieder des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes!Die am Sonntag, den 14. d. M., stattgefundene Urabstimmungüber den Antrag betreffend Erhöhung des Beitrages um 16 Pf.pro Woche und Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung um 2 M.pro Woche in allen Stufen, hat folgendes Resultat ergeben:Es sind abgegeben.... 22 317 gültige StimmenDavon für den Autrag.. 14 391 StimmenGegen den Antrag stimmten 7 926,Der Antrag ist also mit fast zwei Drittel Majorität ange»nommen worden.Die weiteren Mitteilungen über die Art der Ausführung desAntrages erfolgen in den nächste» Tagen._ Di« L�tSvertvaltung.Schnhmacherstreik in Strausberg.Die gesamte Arbeiterschaft der Firma. Delphin', Schuh«fabrik in Strausberg, ist am Montag nach Ablauf der Kündigungs-frist in den Ausstand eingetreten, da bisher ein Entgegenkommendes Fabrikanten auf die Wünsche und Forderungen seiner Arbeiternicht zu erzielen war.Deutftbes Reich.Streikbrechervermittelnng en gros.Wie wir bereits am Sonnabend berichteten, hat die FirmaReich st ein, Brennabor-Werke, Brandenburg a. H.,in Berlin in der D e s s a u e r Straße 17 ein Streikbrecher-vermittelungsbureau errichtet. Durch Inserate in der Berliner„Morgenpost' und dem„Lokal-Anzeiger' wurden auch gestern wiederArbeitswillige verlangt. Schon lange bevor die Bermittelung be«ginnen sollte, waren Masten von Arbeitslosen in der DessauerStraße versammelt. Gegen Va9 Uhr wurde unter poliz etlicherAssistenz das Bureau eröffnet. Wohl an die 16 Polizistenmit Wachtmeister und Polizeioffizier halfen bereitwilligstdie zirka 400 Arbeitslosen dem Bureau zuführen. Man sahes den Leuten an, daß sie keine berufsmäßigen Streik-brecher waren, und daß sie sich lediglich von dem Arbeitsangebothaben verleiten lasten. Die Verbandsleitungen der Organisationen»welche an der Brandenburger Aussperrung beteiligt sind, ließen anOrt und Stelle Handzettel verteilen, durch welche den Arbeit-suchenden mit wenig Worten der Sachverhalt mitgeteilt wurde. Sehrviele, wir können zurzeit nicht feststellen, ob nicht die meisten derArbeitsuchenden, kehrten infolgedessen um und meldeten sich nicht,trotzdem von interessierter Seite verbreitet wurde, daß den An-geworbenen gute und dauernde Arbeit zugesichert werde. Mit Rechtsagten viele der Arbeitsuchenden, wenn die Firma solche Löhne zahlenwollte und würde, so hätte sie keine Veranlassung, die alten Leuteauszusperren. Wie uns mitgeteilt wurde, soll sogar gegen Mittagdie ArbeitSwilligenvermittlung unter Beihilfe von reitenden Schutz-leuten vorgenommen worden fein.Daß die Firma mit den wahllos engagierten und an Zahl undQualität völlig ungenügenden Arbeitswilligen ihren Betrieb aufrechterhalten oder weiterführen kann, wird uns als völlig ausgeschlossenerklärt. Im übrigen kommt es ja auch noch darauf an, wie sich dieVerhältnisse selbst in Brandenburg gestalten werden. Wir machennachmals die Arbeiterschaft darauf aufmerksam, daß die Arbeits-annähme nach Brandenburg gleichbedeutend ist mit Streikbruch.kleines Feuilleton.Im alten Jena mit jungen Sinnen.Ein wunderbarer Tag! Während mein Zug am frühen Morgendurch die freundliche, fast niedliche Landschaft Thüringens bummelte,kämpfte noch das erwachende Morgenlicht mit den weißen Nebel-schwaden, die über den Feldern und Wiesen lagerten. HinterNaumburg rollte die Sonne blutigrot hinter dem Horizont herauf.Ueberall erwachten Töne und Farben. In tiefem Blau erstrabltedie Himmelskuppel. Noch eine Stunde, und der Zug fuhr in oenBahnhof.„Jena, Jena!"Mit welchen Gefühlen wandert man durch die alten, gewun-denen, holperigen Straßen dieser Stadt, die so viel Vergangenheitin ihren Mauern birgt I Wieviel Bilder, wieviel Erinnerungensteigen auf! Hier ist es gewesen, wo das Altpreußen de? Junker-tums, das sich selbst überlebt hatte, von den Heeresmassen desrevolutionären Frankreichs im Jahre 1806 zertrümmert wurde.Hier war es, nach dem Jahre 1815, als die„heilige Allianz",nach der Niederringung Napoleons in Europa herrschte und dieMassen des Volkes üm'die versprochenen Früchte der opferschwerenSiege betrog— hier war es, wo sich in bitterem Unmut diestudentische Jugend gegen den Trug auflehnte, die Burschenschaftgründete und mit der Regierung einen Kampf begann, der nichtmehr zur Ruhe kommen sollte.Dieses Jena gleicht solchen alten Truhen, wie sie Groß--mutier und Tanten haben, um darin den romantischen Kramund die kostbaren Kleinodien ihrer Jugend aufzubewahren. Inden Straßenbildern, in der Architektur der Häuser mit ihrenErkerchen, ihren Giebeln, ihren Toren und Schnörkeleien, lebtnoch das Zeitalter Goethes fort und spricht den, der in beschau-sicher Muße behaglich durch die Gassen schlendert, laut und ver-nehmlich an. Da spannt sich ein alter,(jrauer Torbogen über dieStraße, von einem verwitterten Turm« uberragt. Wie oft mögenhier Goethe und Schiller in angeregtem Gespräch hindurschgeschrittensein. Vier seltsame Wasserspeier, groteske Affen, springen ausdem Gemäuer des Turmes hervor. Und vorn steht man einenkleinen, schmalen Erker, den sogenannten Käsekorb, von dem einewitzige und boshafte Anekdote erzählt, daß er vor Zeiten zur Aus.stellung zänkischer Weiber gedient habe.Dicht drängen sich die alten kleinen Häuser in den schmalenStraßen aneinander; sie stehen nicht immer ganz senkrecht und esist, als ob st« sich gegenseitig stützen und halten wollten. Mittenin den neuen und breiten Straßen Jenas stehen noch die Reste dermittelalterlichen Mauern und Türme wie vorwelkliche Ungeheuer.Aber junges helles Laub sprudelt wie die Quelle ewig jungenLebens über die geborstenen Trümmer.Fast ein jedes Haus erzählt hier etwa? von fernen Zeiten, vorallem von jener hohen Zeit, da am Ausgang des 18. und am Be-ginn des 19. Jahrhunderts das deutsche Geistesleben nach langemWinterschlaf zu herrlicher Blüte sich entfaltete. Damals warendi« kleinen Provinzstädtchen Thüringens, Weimar und Jena, dieBrennpunkte dieser wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur.Hier lebten und wirkten all die Großen, die in abstrakten Begriffenund in künstlerisch-anschaulichen Symbolen den Idealismus rün-deten und in dem Herzen ihres Volkes entzündeten: Goethe, Schiller,Fichte, Humboldt, Klopftock, Herder, Wieland. Fast an keinemHause fehlt eine Tafel, die dem Wanderer erzählt, daß hier einerder vielen Führer jener geistigen Revolution gehaust habe. Ja,manche Häuserfronten sind ganz und gar mit solchen Tafeln undSchtldern besät. Man kommt fast auf den Gedanken, daß in dieserschönen, von waldigen Hügeln lieblich umkränzten Stadt jedergroße Deutsche von Martin Luther bis August Bebel einmal ge-weilt habe. Wenn man vom Bahnhof aus nach dem VolkShaufe,in dem der Parteitag stattfindet, geht, so kommt man nach wenigenMinuten an dem Hause vorüber, in dem Schiller als Professor derGeschichte an der Universität sein« erste berühmte Vorlesung überden Zweck des Studiums der Weltgeschichte hielt.Ich gehe an einer alten, gotischen Kirche vorüber. Bon drinnentönen feierliche, langgezogene Orgelklänge. Wie ich durch einbreites, dunkles Torgewölbe schreite, finde ich den Zugang zu derKirche. Ich steige eine alte Wendeltreppe empor, über derensteinernen Stufen tiefe Schatten lagern. Immer näher, immerstärker tönt mir die Orgel entgegen. ES ist, als ob die mächtigenKlänge durch die alten Steine dringen und sie im Innersten er-beben lassen. Ich lausche gebannt. Die Kirche ist ganz leer, derOrganist spielt für sich allein eine feierliche Fuge des alten JohannSebastian Bach. Innerlich erfüllt von der erhabenen Musik steigeich leise die Wendeltreppe herab, durch den finsteren Torbogenhinaus in den warmen lauschenden Sonnenschein, dem himmlischenPropheten ewig jungen Lebens, der gegen alles Alte, Finstere, Ver-gangene protestiert.Scharen von Genossen strömen in langen Zügen dem Volks-hause zu, sich gegenseifig begrüßend, plaudernd, diskutierend. Voruns steigen die Mauern der großen Zeißschen Fabrik auf und gleichdahinter die Zinnen des VolkshauseS. In gewaltigem Stromedurchbricht das Leben der Zukunft die Dämme der Vergangenheit.Engen Lewin-Dorsch.Die Angewohnheit. Wieder hat das Reichsverficherungsamt einedieser berühmten Entscheidungen gefällt, die mit der MotivierungRenten quetscht, der Verunglückte habe sich an den durch den Un-glücksfall hervorgerufenen Zustand bereits gewöhnt.Diesmal ist es ein blinder Monteur, den das Richtschwert ge-troffen hat. Es sei ihm einfach nicht zu glauben, sagte daS Reichs-verstcherungsamt, das der blinde Mann gegen die Entscheidung derBorinstanz angerufen hatte, wenn er etwa behaupten wolle, er habesich nicht an seine Blindheit gewöhnt. Wenn man so lange blindist wie der Antragsteller lnicht wahr?), dann wisse man nachgerade,wie daS ist, und habe sich nicht noch zu beschweren.Zugegeben, daß die Macht der Gewohnheit sehr groß ist. Wirmerken zum Beispiel schon gar nicht mehr, wie diese Richter völligverlernt haben,— oder haben sie es nie gekonnt?— sich um Dingedes Alltags zu kümmern. Wir sind schon so an diese Art Recht-sprechung gewöhnt, die aus Büchern, aber nicht aus Köpfen, auSKommentaren, aber nicht aus menschlichen Gefühlen und Ueber-legungen heraus entscheidet, für die Akten, aber nicht für die Parteien.Niemand verjagt sie. man ist an diese Justiz gewöhnt.Aber so mächtig ist die Gewohnheit denn doch nicht. Es istdurchaus nicht gesagt, daß einer, der jahrelang nicht sehen konnte,sich nun auch wirklich an diesen Zustand gewöhnt hat. Die Justttiazum Beispiel hat doch ihre Binde schon jahrhundertelang vor Augen,aber sie kann und kann sich nicht daran gewöhnen, daß sie nichts zusehen hat. Sie meint heute noch, sie müsse sich ihre Leute vorheransehen. Sie mogelt. Sie schiebt das Tuch nach oben und stehtdarunter weg. Sie ist nicht an die Dunkelheit gewöhnt.Aber niemand kürzt ihr die Rente, weil eben alle, wir alle anden Brillenrichter gewöhnt sind. Wie wäre es, wenn wir«nS vondieser üblen Angewohnheit befreiten?Metschnikoff über die Entdeckung des Tollwuterregers. Ueber dieauffehenerregende Entdeckung des Erregers der Hundswut durchProfessor Hideyo Nogushi, einen der vier Leiter des Rockefeller-Instituts in New g)ork, ist bereits berichtet worden. Einem Bericht-erstatter des„Temps" gegenüber äußerte nun Professor Metschnikoff,der berühmte Leiter des Instituts Pasteur in Paris: Die Entdeckung,die Nogushi soeben gemacht hat, ist von überaus weitreichender Be-deutung. Die Notiz, die er darüber in aller Eile veröffentlicht hat,spricht sich zwar üder manche Punkte etwas kurz und allzu unklarauS, aber der Name und die wissenschaftliche Bedeutung Nogushis, unddie Nachprüfung, der das Institut Rockefeller und die Gelehrten, die esleiten, die Arbeit ihres Kollegen unterzogen haben, bilden eine zu«verlässtge Bürgschaft für den authentischen Wert der neuen Entdeckung,die bestimmt ist, in der Geschichte der Bakteriologieeinen Merk st ein zu bilden. Die Züchtung des Tollwuterregerswird uns voraussichtlich in die Lage versetzen, ein ungleich wirk-sameres Serum herzustellen, als es die bisher verwandte Rückenmarks-fubstanz darstellt. Zudem darf man hoffen, daß die schmerzhafteund langwierige Behandlung, die heute an die 20 Einspritzungennotwendig macht, durch die Verwendung des neuen Impfstoffswesentliche Abkürzung erfahren wird. Eine Statistik, die wir dem«nächst veröffentlichen werden, bringt übrigens den Nachweis, daß inden drei letzten Jahren von 1138 im Institut Pasteur behandeltenPersonen nicht eine gestorben ist. Aber in anderen Ländern richtetdie Tollwut ungleich stärkere Verwüstungen an. Die Methode, dievon der Nogushischen Entdeckung abzuleiten ist, wird vielleichtgestatten, die Behandlungsdauer der von tollen Hunden Gebissenenzu verkürzen._Notizen.— Eine Schach-Simultan-Vorstellung. R. Teich-mann, der Sieger im Internationalen Meisterturnier zu Karlsbad1911, gibt am Mittwoch, den 17. September, abends Uhr, imEnglischen Saal des Cafä Kerkau, eine Simiiltanvorstelluna, in derer ea. 30 Partien gleichzeitig spielen wird.(Karten im Cafö Kerkauund an der Abendkaste.)— Georg Büchner?„Wozzeck", diese wuchtig sozial«gerichtete bürgerliche Tragödie, die um die Mitte der dreißiger Jahreentstand und leider unvollendet blieb, wird in München neben desDichters dramatischen Szenen„Dantons Tod" an einem Gedenkabend zum hundertsten Geburtstage Büchuers zur Aufführunggelangen. An die Wozzeck-Szenen haben sich die Bühnen bishernoch nicht herangetraut.�„DaS Beschwerdebuch'. Den Premierenreigen derMünchener Theater eröffnete Karl Ettlinger mit der dreiaktigenBauernkomödie:„Das Beschwerdebuch", die im Volkstheater laurenErfolg erntete. Unser m-Mitarbeiter schreibt uns: Das Jugend-Karlchenist bekannt für gute Witterung. Er weiß, daß die alten Lederhosen-Dramen abgesetzt sind und daß die zahllosen umherziehenden ober-bayerischen Bauenfiheater für ein neues Stück mit guten Rollenmehr wie:„Vergelts Gott!" sagen. So schrieb er ihnen das„Beschwerdebuch", wobei er mit dem rechten Aermel stark an Anzen-gruber, mit dem linken leise an Ludwig Thoma streifte, im übrigenaber seinen Eigenhumor, seine gute Beobachtung behielt, auch antechnischem Geschick gewann.Wie im Hotel und bei der Bahn ein Beschwerdebuch aufliegt,warum soll nicht auch beim Pfarrer im Dorf eins liegen, wo dieGemeinde ablagert, was sie gegen Gott, den Pfarrer, den liebenNächsten auf dem Gewissen hat? Um diesen guten Einfall schlingtsich eine Meineidsbauerngeschichte mit GewissenSlvürmern, aber auSdiesem tragischen Wirrsal ringt sich EttllngerS satirischer Witz be-fteiend heraus.Die Bauernseele, die einfältig-verschlagen«, listig-dummschlane,bigott-geschäftSmäßige Bauernseele wird wieder einmal hell befeuchtetund wenn auch aus minderer Kenntnis der ländlichen Volksseele wieThoma, so fteuen wir uns doch der Blitzlichter.— Hermann Vamßery, der namhafte Kenner der Türk-Völker, der seit den ersten sechziger Jahren die Länder Mittelasiensdurchforschte, ist iu Budapest, 81 Jahre alt, gestorben. Er stammteaus Batzer».