Bebel und Liebknecht an JVIarx*K. Waren Liebknecht und M a r x alte Freunde, diezusammen in London mehr als zehn Jahre die ganze Miseredes Erils bis auf den letzten Tropfen ausgekostet haben, sosind die Beziehungen zwischen Marx und Bebel jahrelangzwar recht enge gewesen, aber doch nie über den Rahmen einerParteifreundschast hinausgekommen. Trotzdein es beidedringend wünschten, war es ihnen nicht gelungen, sich persönlich" kennen zu lernen, obwohl Marx wiederholt in den sechzigerund siebziger Jahren in Deutschland und Oesterreich gewesenist. Auch brieflich standen sie einander fern, weil die Kor-respondenz von London meistens von Engels geführt wurde.Erst im Dezember 1880 konnte Bebel eine längst von ihmgeplante Reise nach London machen, die damals in der Parteischerzweise„der Kanossagang nach London" getauft wurde.Die„Alten" waren bekanntlich mit der Haltung des„Sozial-demokrat" in den ersten Jahren nach dem Sozialistengesetzsehr unzufrieden. Die wichtige Rolle, die bei der Gründungder Zeitung Höchberg gespielt hatte, verstimmte die„Alten" ebensosehr, wie die Zusammensetzung der ZüricherRedaktionskommission, die das Blatt überwachen sollte-, dennan dieser nahmen außer Höchberg auch Schräm in undB e r n st e i n teil, die kurz vorher in einem Artikel der Parteivorgeworfen hatten, bislang ausschließlich eine„Arbeiter-Partei" gewesen zu sein, die Bourgeoisie dadurch gegen sichaufgebracht und bis zu einem gewissen Grade provoziert zuhaben. Die Musterung aber, die auf dem Wydener Kongreß(August 1880) vorgenommen wurde und der früheren Ver-wirrung ein Ende machte, stimmte die„Alten" besser. Aberes blieb noch eine Frage zu erledigen, die Frage der Redaktion.Zusammen mit Bebel kam nach London Bernstein, der, nachdem Verzicht von Hirsch, Redakteur des„Sozialdemokrat"wurde und in kurzer Zeit, mit Hilfe von Engels und Kautskydas Blatt auf das Rivea» brachte, das aus ihm eines derbesten sozialdemokratischen Organe machte.Der Besuch in London dauerte nicht lange, aber die Beziehungen zwischen Marx, seiner Frau und Bebel wurden seit-dem inniger. Bebel erzählt sehr humorvoll, wie der Alte ihnin herzlichster Weise aufnahm, nicht ohne ihn einer strengenPrüfung zu unterziehen.Nach seiner Abreise aus London fuhr Bebel fort, wiefrüher, an Engels zu schreiben. Das Jahr 1881 bildet denWendepunkt in der Geschichte des Sozialistengesetzes. DieReichstagswahlen vom 27. Oktober 1881 brachten der Parteieinen glänzenden Sieg. Zwar erhielt die Partei 125 192Stimmen weniger als bei den Attentatswahlen iin August1878, aber die Wahl fand unter solchen schweren Bedingungenstatt, daß dieser Stimmenausfall in keiner Weise die kolossalemoralische Wirkung auf die Partei in Deutschland und diegesamte internationale Arbeiterbewegung abschwächen konnte.Liebknecht wurde gewählt in Mainz und Offenbach, Bebelunterlag. Und als Liebknecht für Offenbach annahm, wurdein Mainz als Kandidat Bebel aufgestellt, da das für ihn dieeinzige Möglichkeit war, in den Reichstag zu kommen.In diese Zeit der Reichstagswahlen und Nachwahlen, diedie ganze Kraft der Partei in Anspruch nahmen, fällt derTodeskampf der Frau Marx. Sie starb am 2. Dezember 1881nach einer langen, schmerzhaften Krankheit, und wie Engelsin seinem Nachruf schrieb,„eine ihrer letzten Freuden war nochder schlagende Beweis unverfälschter Lebenskraft, den unseredeutschen Arbeiter in den letzten Reichstagswahlen gegeben".Mitten im heißesten Kampf um das Mainzer Mandaterhielten Bebel und Liebknecht die traurige Todesnachricht.Der entscheidende Schlag ist anders ausgefallen, alsBebel glaubte. Das Mainzer Mandat ging verloren, und erblieb zum ersten Male nach vierzehn Jahren außerhalb desReichstags. Die Umstände waren, wie der„Sozialdemokrat"damals schrieb, ungünstig; der Kandidat der Mischmasch-Parteien, Dr. Philipps, siegte mit 236 Stimmen über Bebel.Dresden, 12. Dezember 1881.Lieber Freund Marx!Mit tiefem Bedauern habe ich die Kunde von dem schwerenVerlust vernommen, den Du durch den Tod Deiner treuen Lebens-gefährtin erlitten. Ich spreche zugleich im Namen meiner FrauDir und Deinen Kindern unser herzlichstes Beileid aus, hoffend,daß die alles heilende Zeit auch diese Wunde, wie schon so manchesandere, vernarben macht.Ich erfuhr die Trauerbotschaft auf der Reise von Mainz nachBasel durch die„Frankfurter Zeitung", ich konnte aber nicht eherschreiben, da ich erst heute auf wenige Stunden zu Atem komme.In Basel erfuhr ich durch Ede') aus einem Briefe Engels,daß Du wieder wohl und munter seiest, was mich sehr gefreut,denn ich hatte wirklich einige Sorge, als mir Engels vor einigenMonaten meldete, Du seiest nicht unbedenklich erkrankt. Du hastsehr recht gehandelt, daß Du Deinen und unseren Feinden nichtden Gefallen getan, zu sterben; es wäre der dümmste Streich, denjetzt einer von uns machen könnte.In Basel hörte ich von Ede— und das war der Grundunserer Zusammenkunft—, daß$.**) sich finanziell zurückziehenmüsse und wolle. Die Engagements gingen weit über seineKräfte, er habe große Verluste erlitten— was wahr ist. Dannaber arbeitet man auch seitens seiner Verwandten mit Hochdruck,und er selbst kommt diesen entgegen, da der Ernst der Situationfür seine weiche, unrevolutionäre Natur ganz und gar nicht ge-macht ist. Da das Defizit des„Sozialdemokrat" ein sehr be-deutendes ist, so müssen wir nach Abschluß der Mainzer Wahlzu Beratungen zusammentreten, um zu sehen, was wir tun. Edebesteht jetzt mehr denn je darauf, daß er von der Redaktion ent-bunden wird, da er wieder zu seinem alten Beruf(Kaufmann)zurückzukehren gedenke; wir werden also auch nach dieser SeiteAenderungen treffen müsien.In der nächsten Stunde reise ich mit Liebknecht nach Mainz,wo schon Donnerstag der entscheidende Schlag fällt. Das Re-sultat oer ersten Wahl ist nicht günstig, wenn auch nicht so un-günstig, als es auf den ersten Blick bei Betrachtung der Zahlenscheint. Philipps hat bereits aus einer Reihe von Orten beider ersten Wahl bald seine gesamte Stimmenzahl erhalten.wohingegen unsere Leute flau stimmten. Das Zentrum hat dasZünglein der Wage in der Hand, und das dürfte mir wenigergünstig gestimmt sein als Liebknecht, nous verrons. Ich will frohfein, wenn der Vorhang gefallen ist. Sonst sind die Wahlen jasehr gut ausgefallen, unsere Leute kommen erst bei den Stich-Wahlen in die geeignete Stimmung, nachdem sie bei der erstenWahl gesehen, was zu ermöglichen war. Hätten Glauchau, Schnee-berg und der 13. Bezirk auch Stichwahlen gehabt, sie wären unserhalten geblieben, bzw. wieder erobert worden.Was die nächste Zukunft bringt, läßt sich schwer sagen; sovielsteht fest, das Vertrauen in das Gesetz und die Wirkung des Be-lagerungszustandes ist stark erschüttert. Die Verfolgungen haben,wenn nicht außergewöhnliche, uns ungünstige Ereignisse eintreten,ihren Höhepunkt erreicht, und vor allen Dingen ist das Selbst-bewußtsein der Partei bedeutend gehoben worden. Letzteres istdas wichtigste dabei. Unsere, das heißt die deutsche ökonomischeLage, hat sich sehr wenig verbessert, wenigstens ebenso ver-schlechtert nach der einen Seite, als sie sich nach der andern etwagehoben hat. Kommt in Frankreich der Börsenkrach und darauffolgend die Industrie-Hanoelskrise, und das steht ja alles nahe.bevor, folgt darauf der Krach in den Vereinigten Staaten, derin 2 bis 3 Jahren sicher eintreten dürfte, dann ist Deutschlandfertig. Die Eroberungen, welche die liberale Opposition gemachthat, machte sie nicht durch ihr Programm, sondern weil der Phi-lister unzufrieden ist und Opposition will. Hätten wir freieBahn, so fiel die Hälfte jener Stimmen uns zu. Nun, was nichtist, wird noch.Herzlichen Gruß Dir, den Deinen und insbesondere auch anEngelsDein- A. Bebel.•) Bernstein.•*) Höchberg.Die Razzia.Pariser Sittenbild von Astic Valsayre.Es hatte schon halb eins geschlagen, als ich unter dem Tunnelder Avenue du Maine herging und ihn menschenleer fand, obwohlin dieser Märznacht der Regen in dichten, schweren Tropfen fiel.Wo waren denn nur die Ritter der Schmachtlocke, die sonstzu dieser Nachtstunde hier an diesem geschützten Ort ihre trau-rigen Gefährtinnen erwarteten— die Mädchen des Trottoirs?Was war nur vorgefallen, daß sie das gewohnte Stelldichein soeinmütig ausgegeben?So fragte ich mich, als ich die stille Straße entlang schritt.Da plötzlich schrillte ein Pfiff, gefolgt von Schreien und Rufen:„Heda, Marietta, Fanny! Die von der Sitte!"Dies« Rufe gingen anscheinend von denen aus, deren Ab-Wesenheit ich eben konstatierte— es war der Beginn jener Jagdauf das Weib, die wohl die Dame Moral fordert— die wilde,schauderhafte, von der satten Tugend so gerühmte Razzia.Fast im gleichen Augenblick strömte eine Menschenmenge ausder Rue de la Gaiie. In dem Gewühl wurden friedliche Passantenvon den Schutzleuten in Zivilkleidung geknufft, die man nach ihrerGalgenphysiognonne für Apachen hätte halten mögen— es warein wildes Laufen und Rennen.„Halunke!"„Verdammter Kaffer! Keinen Widerstand oder ich nehme dieSchließeisen!"Als ein« der Unglücklichen auf dem schlüpfrigen Pflaster aus-glitt, richtete ein Hütor des Gesetzes sie mit einem Fußtritt insKreuz wieder aus ich sah, wie er sie wankend, mit aufgelöstemHaar und zerrissenen Kleidern zur Wache schleppte...Von dieser Szene angeekelt, ging ich schnell die Rue de Vanveshinan, als ich hastige Schritte hinter mir vernahm— es war einkeuchendes Weib. Vielleicht eine Entschlüpfte...?Es war kein Zweifel mehr möglich, als sie mich erreichte undmit schluckender Stimme flehte:„Sie verfolgen mich! Haben Sie Mitleid, retten Sie mich!"Hinter uns im Scheine der Gaslaternen tauchten in der Tatdrohende Gestalten auf— Tritte grober Schuhe näherten sich aufdem Bürgersteig.Zum Glück war ich daheim— ich stieß die Flüchtige ins Hausund schloß den Schnapphähnen die Tür vor der Nase zu, die unseben erreichten. Es wurde auK die höchste Zeit, denn die Unglück-ltche war am End« ihrer Kräfte und brach zusammen.Während ich sie stumm im Dunkeln führte, fühlte ich ihre Handin der meinen beben und ihre Knie zittern,„Gerettet...!" hauchte sie, in den Sessel sinkend, den ich ihrhinschob.«Wie soll ich Ihnen nur jemals danken?"„Wofür denn? Jeder andere an meiner Stelle hätte ebensogehandelt!"„O, nicht doch! Zuweilen reicht ein Herr uns ja wohl denArm. Aber eine Dame...? Das hätte ich nie geglaubt. BedenkenSie doch, Sie laufen Gefahr, wegen eines armen Mädchens, dasgar nicht zählt, Scherereien mit der Polizei zu haben!"„Die so denken, sind egoistisch oder verbohrt. Die Tugend, wasist sie denn anders, als eine Frage des Glücks, vor allem desGeldes!"Ich hatte ein Zündholz in den Kamin geworfen, und nunknisterten fröhlich die Scheste. Sie hielt die Hände ans Feuer,die in konvulsivischem Zucken bebten, und verharrte mit tiefemSeufzen in ihrem Schwächezustand.Sie war oine zierliche, schmächtige Brünette von vielleicht25 Jahren, deren Gesichtchen sicher pikant war ohne die Maskeder Schminke, die es bedeckt«. Durch die Tränen hindurch glänztenihre tiesschwarzen Augen in dem roten Kreise, und die farblosenLippen ließen ein prachlvolles Elsenbeingebiß erkennen.„Nun, fühlen Sie sich ein wenig besser?" fragte ich nacheinigen Augenblicken des Schweigens.„O ja, ich dank« Ihnen. Ich werde Sie nun nicht weiterbelästigen."Graziös stand sie auf und ordnete mit lebhaften Bewegungendas nachtschwarze Haar, das ihr tief auf der Stirn lag. Ich hieltsie jedoch zurück gerade in dem Augenblick, da sie sich zur Türwendete.„Aber warten Sie doch... Vielleicht ist noch nicht alleGefahr vorüber, und Sie sind ja auch noch recht schwach. ErholenSie sich erst, wenn Sie es nicht eilig haben..."„Eilig...? Wieso denn? Die Nacht ist ja doch verloren,und ich habe ja keine Kinder, die weinen... zu allem Glück!Aber aus Rücksicht auf Sie möchte ich... Ach, ich bin ganzverwirrt..."„O, lassen Sie nur gut sein. Es ist ja gar nicht der Redewert. Trinken Sie einen Schluck warmen Wein, damit Sie wiederzu Kräften kommen."Kraftlos sank sie von neuem hin und erging sich noch immerin Entschuldigungen. Erst ein Weinkrampf erstickte ihre Worte.„Warum regen Sie sich denn nur so auf, eines ganz...gewöhnlichen Falles wegen? Es hilft ja nichts..."„Gewiß, es hilft nichts. Aber jeder hat eben seinen Charakter.Um ein Nichts geriet ich stets außer mir, warum sollte ich es danicht in einem solchen Falle? Sie werden sagen, ich müßte dochlängst daran gewöhnt sein, wo ich nunmehr schon vier Jahre ein.geschrieben bin. Aber eS ist stärker als ich.., Nie werdeLieber Mohr!Die Nachricht vom Tode Deiner Frau hat mich tief erschüttert.Was soll ich weiter sagen? Du weißt, was die Brave mir war;ihr vor allem verdanke ich, daß ich in der Londoner Flüchtlings-misere nicht zugrunde gegangen.Hoffentlich bist Du wieder so weit hergestellt, daß Tu denSchlag physisch überwinden kannst. Wie gern wäre ich jetzt beiSuch. Doch wozu törichtes Wünschen?Lebe wohl uno erhalte Dich der Partei und Deinen Freunden.An Tussy wird meine Frau schreiben, die erst gestern durch michdie Nachricht erfuhr(uno ich erfuhr sie erst aus den Zeitunecn—und zwar infolge meines Zigeunerlebens erst am Samstag).Sei tausendmal geküßt und gegrüßt von Deinem treuenW. Liebknecht,(der trotz alledem und alledem der alte ist).Dresden, Montag, den 12. Dezember 1881.Derr Kothen und der Staatsanwalt.Herr Aron Koghen kam nach einem endgültigen Bankerottvon Kiew nach Berlin; er besaß keinen Pfennig Geld und mieteteinfolgedessen einen Laden für 30 000 M. Da er der Sohn einesZigarettenfabrikanten war, mit der er nicht das geringste mehr zuschaffen hatte, entschloß er sich, sich als deren Vertreter aufzu«spielen und die Berliner mit dem zu schlagen, was ihnen ammeisten imponiert, mit Blödsinn. Er ließ seinen ersten Ladenourch einen russischen Popen einweihen, während jedermann gc-dacht hatte, er werde einen Rabiner kommen lassen. Er mietetefür seine Kunden einen Abend das Metropoltheater und feiertedie Gründung seines Geschäfts mit ein paar windigen Reporterndurch ein Festessen im Bristol. Die Dummen, die keine Gelegen-heit verpassen, um hereinzufallen, drängten sich stürmisch dazu,ihr Geld an Herrn Koghen zu verlieren, was denn auch promptgeschah. Nach kurzer Zeit kam der große Krach, Herr Koghenentfloh, seine Frau wollte sich erschießen, traf sich aber so un-glücklich, daß sie am Leben blieb und nur den Sehnerv zerstörte.Herr Koghen änoerte seine Absicht und stellte sich dem Gerichtund sitzt heute in Moabit, um darüber belehrt zu werden, in-wiefern man die Dummheit seiner Nebenmenschen ausbeuten darfund intviefern nicht.An und für sich wäre dieser Schwindel, der nur einer kapi-talistischen Gesellschaft passieren konnte, so uninteressant wie alleanderen, wenn er nicht wieder einmal zeigen würde, daß man dieseGesellschaft ain besten dann zum Glauben zwingt, Wwii man sichgänzlich unglaubwürdig gebärdet. Ein russischer Jude läßt seinGeschäft in oer glaubenslosen Weltstadt Berlin dsirch einen rus-fischen orthodoxen Pfaffen einweihen und kein Mensch riecht durchden Weihrauch den aufgelegten Schtvindel. Er mietet das Metro-poltheatcr und kein Staatsanwalt schmeckt den Brate». Erstmüssen die Dummen so weit geblutet haben, als das Gesetz esverlangt, ehe der Schwindler gefaßt werden kann, und auch dannkann er nicht gefaßt werden, denn er hat sich wohlweislich dünngemacht und der Staatsanwalt begnügt sich mit der Ausfertigungeines flehentlichen Steckbriefes. Hätte Herr Aron Koghen imkleinsten Winkelblatt die schüchternste Majestätsbeleidigung ver-sucht, hätte er Postkarten nach den Bildern alter Meister ver-trieben oder gesagt, bei Krupp werde auch mit Wasser gekocht, sohätte ihn der Anwalt des Staates mit Windeseile gepackt. Daer sich geschäftlich aber nur so benahm wie ein Irrsinniger oderein Schwindler, sah der Staatsanwalt seinem Treiben lächelndzu, weil ein anständiger Beamter, der es im Staat zu etwasbringen will, sich nicht dem Mißtrauen seiner Vorgesetzten da-durch aussetzt, daß er vom Leben etwas versteht.Wo käme es hin mit der preußischen Beamtenschaft, wenn sieoie untergeordnete Tätigkeit des Kaufmanns auch nur der ge-riiigsten Beachtung für wert hielte? Nein, Koghen und Genossenkönnen, solange nicht die ganze Welt über ihre Geschäftspraktikenaufschreit, in Preußen ruhig zu Wählern der ersten Klasse heran-reifen, während das Auge des Staatsanwalts, in holdem Wahn-sinn rollend, dem Umstürzler bis zu den geheimsten Verrichtungenverfolgt, damit er dabei nicht den Zeitungsbericht der neuestenKaiserrede zu anrüchigen Zwecken mißbraucht.ich mich daran gewöhnen können! Eben weil es gerade einSittenschutzmann war, der mich zu dem gemacht hat, was ich nunbin..."„Das wundert mich gar nicht, denn die sind zu allem fähig...Sie gefielen ihm also wohl nicht?"„Im Gegenteil! Zu meinem Unglück gefiel ich ihm!"„Hatten Sie denn niemand, der Sie hätte verteidigen können?"„Niemand... Als ich 10 Jahre alt war, wurde meinemVater, der Zimmermann war, die Brust von einem Balken ein-gedrückt— von der mageren Rente mußten wir leben. MeineMutter hatte sich abgerackert, um mich großzuziehen, und starban Entkrästung, als ich siebzehn wurde. Ich stand nun allein damit zwei Frank täglich, die ich als Kranzbinderin verdiente. Taich doch alle Tage essen mußt«, schenkte ich einem Mechaniker Gehör,den ich schon lange kannte. Georges verdiente gut und war äußerstnett zu mir. Ich kann wohl sagen, ich aß das Weißbrot zuerst.Er sprach immer schon vom Heiraten, als— o nein, ich habewirklich kein Glück!— als eines Tages ein Nachbar ein Augeauf mich wirft, der Magistratsbeamter fein wollte, in Wirklichkeitaber zur Sittenpolizei gehörte! Da ich ihn zurückwies, höreich das Scheusal noch höhnen:„Ah. warte nur, schöne Melie! Aufden Strich gehen, das soll Dir teuer zu stehen kommen! Siewerden Dich schon erwischen, wie die anderen auch!"Einige Tage später wurde ich verhaftet, als ich aus dem Ge-schüft kam, und wenn Georges mich nicht reklamiert hätte...,ich wäre in die Besserungsanstalt gekommen, denn ich war nochnicht alt genug."„Aber wie war eö denn möglich, wenn Ihr Freund Sie dochreklamierte?"„Und die Leute, die stets nur das Schlechte glauben? Gewiß,sie konnten mir nichts machen. Aber die Nachbarn mit ihremGeschwätz! Mit dem Hinweis, wo Rauch ist, sei auch Feuer, macki-ten sie Georg den Kopf heiß. Allmählich wurde er kühler undunfreundlicher, und eines Abends erwartete ich ihn vergebens...Nie sah ich ihn wieder... Meinen Georges, der mein ein undalles war..."Sic hielt inne, vor Schluchzen erstickend. Dann fuhr sie fortmit wilden, abgerissenen Worten:„Als ich einige Tage später aus einem Hause trat, wo ich umArbeit angefragt hatte, denn man hatte mich aus meiner Stellungentlassen... wo Rauch ist, ist ja auch Feuer..- wurde ich vonneuem verhaftet und diesmal unter Kontrolle gestellt. O. das Scheu-sal! Immer noch höre ich ihn höhnen:„Wenn ich Dir dochsagte, es würde Dir teuer zu stehen kommen, und Tu tätest besser,lieb zu mir zu sein!"„Armes Kind... Sie haben ihn also wieder zu Gesichtbekommen?"