einet Verkürzung des AusenkhaltSzensus und eine Vorlage über Reueinteilung der Wahlkreise a», welche die noch destehenden großen Ungleichheiten der Kreise verringern sollte. Vorläufig ist also das Parlamentswahlrecht Englands noch ziemlich weit davon entfernt, den Anforderungen der Sozialdemo- kratie zu entsprechen, der Weg aber, den seine Entwickeluug bisher zurückgelegt hat, ist immerhin in gerader Linie nach der Demo- kratie hingegangen. Insofern hat die Abneigung der Engländer gegen einen radikalen Bruch mit Ueberlieferungen der Vergangen- heit oder der Vorliebe für die Methode, e inen Wein in alte Schläuche zu gießen und Reformen durch das Mittel von neuer Be- ftimmung der Begriffe zu erwirken, dem Fortschritt keine unüber- steiglichen Hindernisse in den Weg gelegt. Es gibt aber stets eine Grenze, die zu der genannten Methode anwendbar bleibt, wenn sie nicht Rückschritt heißen soll. Eine vollständige Demokratisierung des Wahlrechts ist nur möglich, wenn dieses auch dem Begriff nach vom Gesetz als ein Recht des Staatsbürgers festge- legt wird. Die Abneigung gegen den radikalen Bruch mit der Vergangen- heit ist natürlich in vielen Fällen mehr als bloße Romantik. Bei den regierenden Klaffen fällt sie zusammen mit den sehr realisti- scheu Interessen an der Erhaltung ihrer sozialen Macht. Die Staatsmänner der englischen Bourgeoisie und Aristokratie haben sich niemals über die soziale Bedeutung des Wahlrechts getäuscht. Eine in Jahrhunderten gemachte Erfahrung hat sie davon abge- halten, es mit Wahlrechtscxperimenten nach dem Muster Na- Poleons III. und Bismarcks zu versuchen. Nur Schritt für Schritt haben sie sich zu Zugeständnissen an die neu aufstrebenden Klassen verstanden. Aber von Epoche zu Epoche ist ihr Widerstand schwächer geworden. Die Wahlreform von 1832, so bescheiden sie sich uns heule darstellt, wurde erst Gesetz, als die Haltung der Bevölkerung eine so drohende geworden war, daß sich die ihr Widerstand leisten- den Minister nicht mehr auf den Straßen Londons sehen lassen konnten, ohne mit Steinen beworfen zu werden, elf Schlösser in Brand gesteckt worden waren und die Entscheidung im buchstäb- lichsten Sinne des Wortes zwischen Reform und Revolution stand. Zum Kampf um die sehr viel durchgreifendere Wahlreform von 1833 gab es keine andere Gewalttat, als die Niederrcißung des da- nials noch den Hhdepark, den vornehmsten der großen Londoner Parts, umgebenden Eisengitters, als dem Volk die Abhaltung einer Demonstration im Park verwehrt werden sollte. Die Wahlreform 1884 aber, die den größten Schritt zur Demokratisierung des Parka- mentswahlrechts tat, wurde Gesetz ohne alle ungesetzlichen Vor- kommnisse, lediglich als Frucht eines lebhaft geführten Wahl- kampfes. Die Demokratisierung des Parlamentslvahlrechts heißt zunächst nur Demokratisierung des Hauses der Gemeinen. Das englische Parlament besteht aber aus zwei Häusern: der gewählten Kammer und der Kammer der erblichen und berufenen„Herren"— englisch ausgedrückt: Lords. Es bleibt also zu untersuchen, wie es im Hinblick auf dieses mit der Demokratisierung des englischen Parla- ments beschaffen ist.
politisthe Uebersicht. Tas Kriegsziel des Reichskanzlers. In seiner Rede hat der Reichskanzler unter stürmischem, langanhaltendem Beifall folgende Sätze gesprochen: „Je größer die Gefahr ist, die wir— von allen Seiten von Feinden umringt— zu bestehen haben, je mehr uns die Liebe zur Heimat tief an das Herz packt, je mehr wir sorgen müssen für Kinder und Enkel, um so mehr müssen wir ausharren, bis wir uns alle nur möglichen realen Garantien und Sicherheiten dafür geschaffen und erkämpft haben, daß keiner unserer Feinde, nicht vereinzelt, nicht vereint, wieder einen Waffen- gang wagen wird. Je wilder, meine Herren, uns der Sturm umtobt, um so fester müssen wir unser eigenes Haus bauen." Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht, daß die Redewendung„reale Garantien" bei den Annexionspolitiken! gang und gäbe ist, um ihre Wünsche zu kennzeichnen, ohne durch bestimmtere Angaben gegen das Verbot der Kriegsziel- Erörterungen zu verstoßen. Diese Kreise nehmen denn auch nun den Kanzler für sich in Anspruch. Ein entsprechendes Urteil der„Voss. Ztg." haben toir bereits zitiert. Achnlich urteilt fast die gesamte Berliner Presse. Auch die Probinzpresse interpretiert die Worte des Kanzlers in gleichem Sinne. So heißt es in der„ M a g d e- b u r g i s ch e n Zeitung": „Das Hauplstiick des Ganzen bildeten die Worte, daß wir ausharren müssen, bis„wir uns alle nur möglichen realen Garantie» und Sicherheiten dafür geschaffen und erkämpft haben, daß keiner unserer Feinde, nicht ver- einzelt, nicht vereint, wieder einen Waffengang wagen wird". Man weiß, wie Herr v. Bethmann sich monatelang hat drängen lassen, ohne sich zu einer so bestimmten Aeußerung über seine KriedenSziele zu verstehen, so daß man an manchen Stellen fürchte, er wolle sich wieder auf Verträge verlassen. Das hieß nicht bloß: Wir werden dennoch durchhalten, wir werden auch dieses bewältigen, sondern: jetzt kennen wir erst dieses Europa ganz, daß uns umgiert, jetzt werden wir gewißlich keinen Frieden machen, ohne die allerstärkste», realsten, materiellsten Garantien. Nichts von Verträgen, nichts von Vertrauen mehr! Niedergekämpft müssen sie sein, die heute gegen uns zusammen- stehen, bis sie auch nicht einmal vereint sich wieder gegen uns zu erheben wagen. Stärkere Worte sind nicht gut denkbar. Das war der tiefste Sinn dieser Kanzlerrede. Der Beifall, der nach diesen Worten losbrach, zeigte, daß ganze Scharen von Abgeordneten aufatmeten und diese Stunde und vielleicht die ganze italienische Angelegenheit segneten, die den Kanzler so hart gemacht hat, wie nur irgend jemand ihn wünschen kann." Aehnlich spricht sich die„Kölnische Volks» zeitung" aus: „Man horchte im Reichstage ans, als der Reichskanzler das Wort von den realen Garantien und Sicherheiten sprach: denn bis jetzt war vom Regierungstische noch niemals eine ähnliche Versicherung für die Friedensziele gegeben worden. Wie im Reichstage, im Saale und auf den Tribünen, das Wort einen Sturm de-s Beifalls auslöste, so wird eS auch im ganzen Lande neuen Mut, neue Begeisterung und neues Vertrauen wecken. Reale Garantien und Sicherheiten, so daß kein Feind uns mehr anzugreifen wagt I Darin steckt schließlich alles, was das deutsche Volk will, unter den Friedenszielen wünscht, wenn dieses Wort recht verstanden und konsequent verfochten wird." Jetzt meldet sich auch Freiherr V o n Z e d l i tz in der „Post" und sucht den Kanzler festzulegen: „Diese Sätze werden zweifellos auch in den weitesten Kreisen der Bevölkerung lebhafte Zustimmung finden. Sie wiederholen die Gedanken, die der Herr Reichskanzler bereits in der großen Kriegsrede vom 2. Dezember v. I. zum Ausdruck gebracht hat, in bestimmterer, greifbarerer Form und sind deshalb geeignet, viel- leicht auch geradezu bestimmt, denjenigen Mißdeutungen entgegenzutreten, zu denen die Erklärung in der Thronrede vom 4. August v. I.. daß wir keinen Eroberungskrieg führen, vielfach Anlaß gegeben hat." Ter Kanzler hat diese Wirkung seiner Worte voraits- sehen müssen. Wollte er sie vermeiden, so hätte er eindentigere,
weniger mißverständliche Erklärungen im Sinne der Thronrede abgeben sollen. Den oben zitierten Sätzen fügt Frhr. v. Zedlitz den bei ihm unvermeidlichen Angriff auf unsere Partei hinzu: „Nach den Erklärungen der Redner der Konservativen und Nationalliberalen im Reichstage und den Aeußerungen der Presse darf der Herr Reichskanzler mit Bestimmtheit darauf rechnen. daß, wie die großen wirtschaftlichen Verbände, auch sämtliche bürgerlichen Parteien auf der von ihm kundgegebenen Auffassung f e st hinter ihm stehen. Allein die Vertretung der Sozialdemokraten im Parlament und in der Presse steht noch beiseite. Sie hat sich eben noch nicht von den Scheuklappen des Parteidoktrinarismus ausreichend befreien können, um die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Man wird aber mit Bestimmt- heil annehmen können, daß unter der Einwirkung der Stimmung, mit der die Kriegsteilnehmer aus dem Kriege zurück- kehren werden, auch hier das nötige Umlernen eintreten und so die Kluft überbrückt werden wird, welche nach dem Ausdruck des Abg. Schiffer in seiner Reichstagsrede vom 30. Mai zur- zeit über die Landerwerbssrage noch zwischen den bürgerlichen Parteien und den Sozialdemokraten besteht." So wie wir die Meinung von Genossen aus dem Felde kennen, besteht kein Zweifel, daß sie die Ansichten des Herrn v. Zedlitz ebenso wenig teilen, wie die daheini gebliebenen Parteimitglieder._
Das Ende der Kartoffelnot. Vor etwa zwei Wochen erklärte der Staatssekretär Dr. Delbrück in der Budgerkommission des Reichstages, daß wir„in Kartoffeln fast ersaufen". In der Tat kommen jetzt plötzlich ganz gewaltige Vorräte an Kartoffeln zum Vorschein. Mit Genugtuung verkündet die„Deutsche Tageszeitung", daß ihr mitgeteilt wurde, daß die Kommunalverbände die Weisung erhalten haben, alle Kar- toffeln, sofern nicht etwas anderes ausdrücklich verein- bart worden ist, spätestens bis zum 30. Juni abzu- nehmen. Die Kommunalverbände können dann sehen, wie sie die Kartoffeln loswerden. Einige Kommunalverbände haben auch bereits das für ihren Bezirk erlassene Verbot der KartoffelauS- fuhr aufgehoben. Die Kartoffelproduzenten werden nun in der Tat dafür belohnt, daß sie die Kartoffelvorräte solange zurückgehalten haben. Hoffentlich sehen sich aber die Kommunalverbände die an- gelieferten Kartoffeln recht genau auf die Beschaffenheit an, damit nicht vielleicht auch noch bereits verdorbene Kartoffeln angekauft werden. Von vielen Seiten wird auch bereits ein Sinken der Kartoffelpreise im Handel gemeldet.— Alle diese Erfahrungen müssen dazu führen, daß die neue Kartoffelernte sofort beschlag- nahmt wird, damit die Bewucherung der Konsumenten keine Wieder- holung erfährt._
Erledigtes Landtagsmandat. Der preußische Landtagsabgeordnete Freiherr v. Bodenhausen- Lebusa(kons.) ist gestorben. Dadurch macht sich im Wahlkreise Schweinitz-Wittenberg eine Nachwahl nötig.— Von 1871—1874 war der Verstorbene auch Mitglied des Reichstags.
Oberbürgermeisterwahl in Dresden . Dresden , 31. Mai.<W. T. B.) Stadtrat und Stadtverordnete wählten heute abend in gemeinsamer Sitzung den Ober- Verwaltungsgerichtsrat D r. Blueher mit 71 von 120 abgegebenen Stimmen zum Oberbürgermeister der Stadt Dresden._ Die Internationale Schlaftvagengesellschaft zu Brüssel ist vom Generalkommissar für die Banken in Belgien mit Zu- stimmuug des GeueralgouvernenrS unter Zwangsverwaltung gc- stellt worden. Verhandlungen über Ablösung der Gesellschaft oder Abtretung des Unternehmens an den preußischen Eisenbahnfiskus sind schon eingeleitet worden. Neben den Schlafwagen hat die Ge- sellschasi auch Speisewagen in Betrieb, deren Anzahl bei den preußi- !chen Staatsbahnen allein 45 beträgt. Die Verträge, die mit der Gesellschaft deshalb abgeschlossen waren, sind nach erfolgter Kündi- gung schon am 1. d. M. abgelaufen. Ein Volksschullehrer vor dem Kriegsgericht. Der Voltsschullehrer Peter Haas aus Sufflenheim im Elsaß hatte sich vor dem Kriegsgericht in Saarbrücken zu verant- Worten. Er wurde beschuldigt, im Schulunterricht den Kindern deutschfeindliche Gesinnung beigebracht zu haben. Auch soll er un- wahre Nachrichten über die Behandlung der Gefangenen in Deutsch - land verbreitet haben. Bei einem von der Schule veranstalteten Äriegsspiel ließ er seine Klasse ein Hoch auf das französische Heer ausbringen. Das Urteil gegen ihn lautete auf sieben Mo- nateGefängniö.__ Schwindel über Schwindel. Der Schwindel blüht in Berlin ivie kaum in einer anderen Stadt. Eine sich Frau Mertin nennende Gaunerin hat einem Dienstmädchen am Luisenufer 52 den ganzen schmuck, Wertsachen und bares Geld abgelotst, um Geister zu beschwören, damit der im Felde stehende Bräutigam wiederkomme. Der alte Trick, den wir neulich bereits schilderten.— Als Reichsbankbeamter stellte sich ein Gauner Damen vor, die Unter den Linden aus einem Stuhle Platz genommen hatten, um auszuruhen. Er näherte sich besonders Damen in Trauer und gab vor, für die Reichsbank Gold zu sammeln; er nahm aber auch Papiergeld, wo er es kriegen konnte. Auf diese Weise betrog der Bursche zahlreiche Personen. Gestern wurde er festgenommen und als ein wiederholt bestrafter Haus- diener Joses Schuster entlarvt, der zuletzt als„Kriminalbeamter" Heiratsschwindel verichte.— Eine andere 21jährige Schwindlerin begaunerte viele Leute, denen sie sich als eine Kapitänstochter aus Riga vorstellte. Die allzu große Vertrauensseligkeit ist also sehr vom Uebel. Vorsicht ist fremden Personen gegenüber am Platze.
politisches aus Frankreich . Dem„Basler Vorwärts" wird aus Paris ge- schrieben: Die Regierung hat beschlossen, das Parlament nicht zu ver- tagen. Albert Thomas ist als Unterstaatsseirctär des Kriegs- Ministeriums in die Regierung eingetreten. Diese zwei Ereignisse erfordern einen Kommentar. Man wird sich erinnern, daß im Herbst des Vorjahres die französische Reaktion eine Kampagne führte, um die Parlamentstaguug zu verhindern oder wenigstens— was schließlich auf dasselbe hinauskam— auf das Minimum der Be- willigung der nötigen Gelder zu beschränken. Während der ersten 'uns Monate des Jahres, vom zweiten Dienstag des Januar an gerechuet, kann die Regierung die Parlamentsverhaudlungen nicht unterbrechen— es sei denn durch eine Auflösung, wozu der Senat eine Zustimmung geben muß. Die Reaktion versuchte also unter dem Stichwort:„Wenn die Kanonen dröhnen, hat alles zu schwei- gen", eine Pression auf das Parlament auszuüben. Man versuchte sogar die militärische Autorität gegen das Parlament auszuspielen oder vielmehr sie über es zu stellen, indem man vorgab, daß die mobilisierten Parlamentarier der militärischen Einberufung zu folgen hätten.
Die Kampagne scheiterte. Das Parlament lehnte den frei- willigen Selbstmord av und entschied, daß� es Sache der mobil!- siertcn Parlamentarier sei, zu cntsckciden, ob sie auf ihrem Paria- mentsposteu oder auf ihrem militärischen Posten ausharren wollen. Die militärische Autorität— oder die Regierung— enthielt sich jeder Rückberufung der militärischen Parlamentarier und ancr- kannte damit die Suprematie des Parlaments, was ja in Frank- reich selbstverständlich ist. Die Reaktion verhält sich resigniert. Heute erkennt so ziemlich jeder an, daß das Parlament nicht nur nicht schädlich oder überflüssig gewesen ist, sondern nützliche Arbeit geleistet hat, wenn auch in etwas beschränktem Maße. Man merkte daher nichts von einer neuen antiparlamentarischen Kampagne beim Herannahen des Endes der ordentlichen Paria- mentssession, dessen Datum der 12. Juni ist. Aber die Regierung? Verschiedentlich war es zwischen dem Parlament und der Regierung zu Reibungen gekommen, die meist allerdings hinter verschlossenen Kommissionstüren stattfanden. Augenblicklich herrscht die schönste Harmonie. Die Regierung, die sich zu sehr gewöhnt hatte, mit den absolutistischen Mitteln des Belagerungszustandes zu herrschen und die parlamentarische Einmischung zunächst unangenehm und lästig fand, hat sich mit ihr abgefunden und scheint sich sogar sehr Wohl dabei zu finden. Tatsächlich hat sich das Parlament als Wohl- tuender Regulator gegenüber dem Schlendrian der Verwaltung'— sowohl der militärischen wie der zivilen— erwiesen. Aber wird die Regierung nicht versucht sein, von ihrem Rechte Gebrauch zu machen und die Session zu schließen, um wieder freie Hand zu bekommen? Denn Tatsache ist, daß die Regierung unter der Kontrolle des Parlaments steht. Die Sozialisten haben von vornherein gegen die Beiseiteschiebung des Parlaments energisch ihre Stimme erhoben. Und die Regierung hat offiziös und offiziell wiederholt versichert, daß sie gar nicht daran denke, die Parlaments- sesston zu schließen. Das Parlament bleibt also vorläufig in Per- manenz. Die Reaktion hat nicht gemuckst. Sie tat, als ginge sie das nichts an. Bei der Ernennung von Albert Thomas zum Unterstaatssekrc- tär des Kriegsministeriums hat sie freilich ein Gesicht geschnitten. Die Pille war zu bitter. Der dritte Sozialist in der Regierung— von dem„unabhängigen" Dreigestirn Biviani, Briand , Millerand nicht zu reden— der dritte Sozialist und kein einziger waschechter Reaktionär. Und noch dazu im Kriegsministerium! Und gar Albert Thomas ! Albert Thomas ist in der internationalen Sozial- demokratie bekannt. Er hat einige Jahre in Deutschland studiert und war vor dem Kriege Mitarbeiter verschiedener Parteibläitcr gewesen. Der„Tendenz" nach repräsentiert Albert Thomas den „JauresismuS" von ehedem, korrigiert durch ein ausgeprägtes Dis- ziplingefühl und geiverkschaftliche Neigungen. Rein politisch steht er weiter rechts als Jaures vor seiner Ermordung stand. Mit einem vielseitigen Wissen verbindet er eine unermüdliche Arbeitskraft. Es wird ihm der industrielle Teil der Militärverwaltung unterstellt: Fabrikation der Geschosse, Waffen, Uniformen usw. Daß die Reaktion ein bitterböses Gesicht macht(und erst die Militärlieferanten!), wenn sie sieht, daß ein entschiedener Vertreter des Milizsystems im Kriegsministerium, ein bekannter„Germano- phile" im Ministerrat sitzt, kann man begreifen. Für die Regie- rung wie für die Landesverteidigung ist Albert Thomas zweifellos ein großer Gewinn. Für die demokratische Führung der französischen Politik ist sein Eintrift in die Regierung eine weitere Bürgschaft. Es ist beinahe überflüssig, hinzuzufügen, daß Albert Thomas seinen Posten nur mit der ausdrücklichen Billigung der sozialistischen Kammerfraktion angetreten bat. Ueberflüssig auch zu sagen, daß der Regierungskurs derselbe bleibt. Eine Seörohung öer rustlschen Flüchtlinge in Paris ! DaS„Journal" vom 16. Mai berichtete, daß der Polizei- komrnissar des Pariser Stadtbezirks Clignaucourt einen Russen namens Paul S t h i o v habe verhaften lassen. Als Grund wurde angegeben:„Der Genannte, der imstande ist, die Waffen zu tragen, hat sich dem Militärdienst in Rußland entzogen und eine Situation in Frankreich nicht dadurch geregelt, daß er sich ein- reihen ließ. Er wurde zur Verfügung der Militär- behörden gestellt. Da» würde also bedeuten, daß jeder in Frankreich wohnhafte Russe verpflichtet ist, im Falle der Tauglichkeit in die französische Armee einzutreten. Die„Bataille Syndicaliste" vom 17. Mai tii-iil nun darauf hin, daß der Minister des Innern am 2. April in der Kammer eine direkt entgegengesetzte Erklärung abgegeben hat. Auf eine Anfrage des Deputierten G a l l 6 erklärte nämlich Herr M o l o y:„Was die Russen und Belgier betrifft, so ist es uns nicht möglich, sie zu zwingen, in Frankreich zu dienen, oder im Weigerung?- fall auszuweisen." Es muß abgewartet werden, wie die erwähnte Verhaftung mit der Aeußerung des Ministers in Einklang gebracht werden wird. Die juristische Lage ist wohl den Flüchtlingen günstig, aber schließ- lich handelt es sich hier doch immer um Machtfragen. Bekanntlich wird auf die belgischen Flüchtlinge in England eine sehr starke Pression geübt, um sie zum Eintritt inS belgische Heer zu bewegen. Wenn dasselbe in Frankreich noch nicht der Fall war, so darum, weil die Zahl der Belgier dort bedeutend geringer ist und der bestehende Arbeitermangel auch ihre Arbeits- kraft hoch einschätzen läßt. Mit den russischen Flücht- lingen in Paris — hauptsächlich Akademikern und verelendeten jüdischen Heimarbeitern steht die Sache anders. Die gezwungene Einreihung ins französische Heer, die derzeit eine staatsrechtliche Un- Möglichkeit scheint, könnte ja umgangen werden, indem Frankreich mit Rußland ein Abkommen über die Auslieferung Fahnenflüchtiger Schlösse. Es wäre ja nicht das Erste, was Poincarö dem Zaren zu- liebe täte und die äußerste Linke hat durch den Eifer, womit sie über die Schönheitsfehler des Bundes für die„Befreiung" Europas hinwegsieht, ihre demokratische Energie selbst stumpf gemacht. Wenn schon der Dienstzwang gegen die Russen schwer durchzuführen wäre, so ließe sich die Ausweisung der Widerspenstigen, wenn die Regierung wollte, mit dem Kautschukbegriff der lästigen Ausländer immerhin praktizieren und hier liegt vielleicht die Gefahr und der Zweck der Aktion. Man kann wohl annehmen, daß hinter dieser nicht die französische Armeeleitung, sondern die russische Polizei steckt. Tatsächlich haben mehrere Tausend russischer Flücht- linge, die der Massensuggestion unterliegend das Schlagwort vom„Krieg gegen den Militarismus" angenommen haben, in einer Legion „russischer Republikaner " freiwillig Dienst genommen und viele von ihnen sind schon gefallen. Aber unter den Zurückgebliebenen sind olche, die, ob militärtauglich oder nicht, bei der russischen Regierung durch ihre grundsätzliche kritische Haltung AergerniS erregen. Es könnte wohl sein, daß die Zarenpolizei in Paris mit Hilfe der gc- 'älligen französischen Behörden Frankreich jetzt von den revolutio- nären Elementen zu„säubern" versuchte. Man darf wohl erwarten, daß die S o z i a l i st e n, ungeachtet des von Sembat vor einiger Zeit gegebenen seltsamen Rats, vor den inneren Zuständen im alliierten Reiche die Augen zuzudrücken, verhindern werden, daß die russische politische Polizei in Frankreich selbst gebietet und sich der bürgerlichen und Militärbehörden für ihre Zwecke bedient.