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Nr. 103.

Erscheint täglich außer Montags. Preis pränumerando: Viertel jährlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 Mt., wöchentlich 28 Pig. frei in's Haus. Einzelne Nummer 5 Pfg. Sonntags: Nummer mit illustr. Sonntags- Beilage Neue Welt" 10 Pfg. Post- Abonnement: 3,30 Mt. pro Quartal. Unter Kreuz­ band : Deutschland u. Desterreich Ungarn 2 Mt., für das übrige Ausland 3 Mt.pr.Monat. Eingetr. in der Post- Zeitungs- Preisliste für 1894 unter Nr. 6919.

Vorwärts

11. Jahrg.

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Bolksblatt.

Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands .

Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.

O Kanzler, gieb uns ein

Ausnahmegeseh!

A13 Heine zu seinem Wintermärchen nach Deutsch­Iand tam, bettelten ihn die deutschen Hunde an: D Fremd­ling, gieb uns einen Fußtritt!

Der deutsche Reichskanzler mag mit ähnlichen Empfin­dungen das deutsche Bürgerthum betrachten, das ihn seit Monaten anwinselt: D gieb uns ein neues Ausnahmegesey, Kanzler!

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Sonntag, den 6. Mai 1894.

Jm vorigen Winter, als Vaillant die schöne Geste" gemacht hatte, schwoll das bürgerliche Winsel- Konzert um den Fußtritt und Maulkorb zu gewaltiger Stärke an allein die böse Regierung that als ob sie nichts hörte, und Caprivi wurde immer mißliebiger; er hatte kein Herz, für das angstleidende Bürgerthum so wenig wie für die nothleidende Landwirthschaft. Ein ganz abscheu­licher Kauzler! -

Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.

D Kanzler, gieb uns einen Fußtritt!

Was der Kanzler thun wird? Wir wissen es nicht. Und es ist uns auch gleichgiltig. Ob die alten Gesetze verschärft, nene scharfe Geseze fabrizirt werden oder nicht, das mag für die Herren Polizisten und Richter von Be deutung sein, insofern es für sie mehr oder weniger Arbeit bedingt der, Anarchismus" wird garnicht berührt. Die Abschreckungstheorie ist seit einem Jahrhundert ad absurdum reduzirt- und wer die Abschreckungstheorie Verrückten gegenüber anwenden will, ist selber verrückt.

Dolitische Leberlicht.

Jeßt, nach dem Prozesse des Morphium Anarchisten Henry, rafft das deutsche Bürgerthum sich zu einem neuen Ansturm auf den hartherzigen Kanzler empor, und aus Vom Augenblick an, wo es bekannt wurde, daß die Dußenden von liberalen Zeitungskehlen dröhnt der flehentliche Und wir Sozialdemokraten schauen mit vergnügten Reichsregierung auf das Sozialistengeset verzichtete, fuhr Ruf zum Himmel und in das Reichskanzlerpalais: Ogieb uns Sinnen auf diesen jüngsten und flagrantesten Ausbruch der Angst und Schrecken in die deutsche Bourgeoist., die sich einen Maulforb, Reichskanzler! Wir brauchen ein neues Berkommenheit unseres deutschen Bürgerthums, das den unter den Rockschößen der Polizei zwölf Jahre lang so Ausnahmegesetz! Es braucht ja nicht Sozialistengesez zubürgerl'chsten, durch und durch aristokratisch- militärischen wohl und sicher gefühlt hatte, und nun auf einmal hinaus- heißen! Nicht einmal Anarchistengesetz! Wir könne es leid, skanzler schweiswedelnd umsteht und ihn anbellt: gestoßen wurde ins feindliche Leben" und mit deni sozia- tropfenweise in die bestehenden Gesetze einträufeln! Wir Kanzler, einen Maulforb! listischen Gottseibeinns eigenhändig Stirn gegen Stirn den brauchen z. B. nur das alte Dynamitgesetz zu verschärfen, Kampf führen sollte. Das war diesen Mordspatrioten, die so daß Jeder, der ein Dynamitverbrechen" lobt oder nicht hinter dem Glas Bier aus voller Lungenkraft brülle: Wir genügend tadelt, schon gefaßt werden kann! Wir brauchen Deutsche fürchten nichts als Gott auf Erden!- das war blos den§ 57 des Strafgesetzbuchs zu ändern, der Verbrechen diesen christlich- germanischen Recken doch zu viel zuge- unter 18 Jahren Strafmilderung gewährt- die ,, Anarchisten" Berlin , den 5. Mai. muthet. Und daß Caprivi so rücksichtslos war, das Sozia find bekanntlich meist junge Leute! Wir branchen dann höchstens Das Dreiklassensystem. Eine bemerkenswerthe mit Listengesetz wirklich fallen zu lassen und von ihnen zu ver- noch dieses oder jenes harmlose Wörtchen in das Preßgesez, sehr reichen statistischen Material versehene Arbeit*) hat langen, sie sollten auf eigenen Füßen stehen, mit eigenen das Vereinsgesetz und das Strafgesetzbuch einzuschmuggeln, Dr. J. Jastrow soeben veröffentlicht. Händen kämpfen das haben sie ihm niemals vergessen; und la chose est faite der Maulforb ist fertig! Der Verfasser weist mit Recht nach, wie wenig die im und das ist der Hatgrund ihrer Fronde" gegen den Dgieb uns einen Fußtritt, liebster Reichskanzler! preußischen Landtag vorgenommene Wahlreform" geeignet neuen Kurs" und den neuen Kanzler". Verzeihung einen Maultorb! sei, die durch Abgeordneten und Herrenhaus gebildete Karri­fatur einer Wolfsvertretung erträglich zu machen. Die absolute Impotenz dieser Geldsadsvertretung in sozial­politischer Beziehung findet einen scharfen Kritiker in dem Autor, der schließlich keinen andern Ausweg aus der Misère des Dreiklassen- Wahlsystems findet, als daß er den Nath ertheilt, auf dem Wege der Reichs- Gesetzgebung für die Einzelstaaten Volksvertretungen zu schaffen, welche auf Grund des Reichstags- Wahlrechts zu wählen sind.

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Noch hündischer als die Hunde des Wintermärchens, die blos Fußtritte erbettelten, winseln die deutschen Bürger um einen Maultorb ein Niveau der Knechtselig feit, auf das der bestdressirte Pudel noch nicht herab gejunten ist.

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So tönt's seit einigen Tagen von allen Seiten aus den Spalten der nationalliberalen Blätter, und zwar auch der freisinnigsten" unter ihnen, wie den Münchener Nachrichten"!

Was ist da zu sagen?

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Es giebt Thatsachen, die man nur festzustellen hat Thatsachen, die keinen Kommentar vertragen, weil ein Kom­mentar, und auch der kräftigste, sie abschwächt.

Herr Dr. Jastrow hätte daran denken sollen, daß, so= wenig man vom Distelnstrauch Feigen lesen kann, man ebensowenig von einer Bourgeoisie erwarten darf, daß sie die Klinke der Reichsgesetzgebung in Bewegung setzen wird, machen.

Freilich, sie denken ja, der Maulkorb werde nicht ihnen angelegt, den guten militärfrommen, für Gott, König und Baterland schwärmenden, auf Apportiren, Stocksprung und andere nüzliche Dienste dressirten Reichs- Daß in Frankreich das Bürgerthum die Attentate hunden, sondern blos den wilden sozialdemokratischen gegen die sozialistische Bewegung auszubenten sucht, das ist Toggen, die noch vor keinem Herren den Nacken gebeugt ein Beweis seines Abfalls von den früheren politischen haben. Idealen, allein es ist doch keine hündische Niedertracht, denn Seit die gelehrigen Apostel des französischen Polizei- das Bürgerthum hat dort direkt die politische Macht,.nd um sich damit in den Einzelstaaten selbst den Garaus zu Genies und Gesellschafts Messias Andrieur ihr staats- es benutzt einfach die Gelegenheit, die Diktatur in die Hand retterisches Knallen begonnen haben, erweckt jeder Knall zu nehmen. Das ist nicht demokratisch, das ist nicht ehrlich, süße Hoffnungsschauer in der Brust unserer deutschen Wlast- aber es ist eine natürliche Konsequenz des Klassenkampfs. bürger, und sie bellen im Chorus: O, einen Maulforb, Anders in Deutschland . Unser Bürgerthum ist nicht Ranzler! Ogieb uns einen Maulkorb!

Der Kanzler blieb aber mäuschenstill, was den inneren Groll der frondirenden" Musterbürger nur vermehrte und die Sehnsucht nach der alten Raketentiste steigerte, aus der es jeden Augenblick hervorpoltert: Ich gebe einen Mant­forb, und sogar eine Flinte, die schießt! Und obendrein Millionenfuiter für alle, die weltkluge Finger haben!

ein.

Feuilleton.

Der Jude.

Deutsches Sittengemälde aus der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Von C. Spindler .

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Der Rath des Herrn Jastrow ist zwar gut, aber die Vaterschaft des demselben zu Grunde liegenden Gedankens gebührt nicht dem Verfasser von Sozial- Liberal". im direkten Besitz der politischen Macht es hat sie Wenn Herr Dr. Jastrow den im Reichstage eins niemals besessen, und sie findet sich jetzt in der Hand von gebrachten Anträgen seine Aufmerksamkeit zugewendet hätte, Männern, die der bürgerlichen Anschauungsweise unbedingt so würde er gefunden haben, daß die sozialdemokratische feindlich sind.

Unser Bürgerthum verlangt nicht die Diktatur für sich, neines verlangt sie für eine durch und durch unbürger liche Regierung.

*) Das Dreiklassensystem. Die preußische Wahlreform vom Standpunkte sozialer Politik von Dr. J. Jastrow. Berlin , Ver­lag von Rosenbaum u. Hart. 1894.

sie!" brummte Veit mürrisch. Die Alte verjette aber indessen nicht, für Eure Sünden will ich büßen, wenn's eisernd: Nein, lieber Herr, sie ist verständiger, denn eine Noth thut, weil es geschrieben steht, daß die Unthaten der ihres Alters. Die Klostermagd am uralten Stifte der Eltern bis ins vierte Glied forterben, aber nimmer sie ver­Neuerinnen zu Frankfurt war der Dirne Taufpathin, und jähen vor der Welt."

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brachte sie, da sie zehn Jahre alt geworden, und ich noch ,, Desto besser!" lachte der Leuenberger: Da habt Ihr rüstig dem Haushalt vorzustehen vermochte, als ihre Helferin ein gutmüthig Schäflein, das, wenn einmal der Stab über in dasselbe Stift. Taselbst wurde unsere Judith zwanzig Euch gebrochen wird, für Euch den Hals streckt, und bei Jahre alt, und überlebte ihre Pathin, und trat an deren dem lieben Gott Eure Fürbitterin wird. Stille aber jetzt Stelle, bis ich, vergeßlich werdend und an Kräften ab- mit dem thörichten Geplauder. Weißt Du schon, daß unser Was schreit Ihr denn also?" fragte die Erwachende nehmend, sie wieder zu uns forderte. Sie weigerte sich auch alter Geselle, der Weber Paul von Bonames , gestorben?" in schlaftrunkenem Gleichmuthe: Der Herr wird Euch nicht keineswegs, und kehrte heim, geschickt und gewandt, und ,, Nein, werther Herr," erwiderte die Alte: Ihm sei das im Ernste erstechen wollen, und in Eurem liederlichen Ge- ausgestattet mit Bibel und Sittensprüchen, die sonst an Freudenreich dort oben, wenn's also sich verhält." werbe sollt Ihr blanker Messer schon gewohnt geworden uns gemeine Leute nicht kommen. Ihr Verstand merkte" Den Teufel auch!" schalt Veit: Der Hölle Schwefel­sein." Beit mußte über die faule Predigt lachen, die bald, wo es leider in unserem Hause hinaus will, und ihre pfuhl ser dem niederträchtigen Buben, der auf dem Sterbe­das häßliche Mägdlein hielt, und steckte den Dolch wieder Frömmigkeit spricht oft Donnerwetter gegen uns aus, vor lager zur Plaudertasche wurde, und mir übeln Leumund Komm her, Alte," rief er:' s war nur mein denen nicht selten mein Mann selbst erzittert. Im Anfang brachte. Ich kümmre mich freilich wenig um die Ellen­Scherz. Ünd Du, garstige Bußrednerin, lege wieder Dein wollte er die Judith schlagen, aber es war immer, als reiter zu Frankfurt , aber verdrießlich ists doch immer, wenn Haupt zur Ruhe. Unser Gesprächsel würde Dein frommes ob ein Engel seine Hand aufhielte, obgleich die Divne ge- solche Menschlichkeiten zur offenen Sprache kommen." Und da wir nun sahen, Ohr ärgern." laffen Rücken und Wange bot. " Ja wohl, ja wohl!" bekräftigte die Alte: Paul war Das würde es auch," versetzte die Dirne, wie oben. daß sie unverdrossen ihre Arbeit verrichtet, und das vierte sonst einer der besten unter meines Martens Leuten, bis Ich will mich daher lieber draußen im Stalle zur Ruhe Gebot ehrt wie eine Heilige, so ließen wir sie reden, und er fromm wurde, und sich in Reue und trostlosem Nach­legen, als in Eurer Nähe." Sie stand arf und ging. haben uns an ihre harten Ermahnungen gewöhnt, beachten grübeln sein Ende herbeizog. Mein Mann erzählte_oft, Mädel, draußen pfeift der Schneewind!" rief ihr die sie gar nicht, wenn sie nicht etwa dann und wann mein der Baul führe einen Stoß, trotz einem Wälschen, und Stich Mutter zu. Mein Roß steht im Stall und tann nicht Mutterherz zu schonungslos angreift, wie just heute. Ich und Tod sei eins bei ihm." gut Gesellschaft leiden!" fügte der Junker bei. Was habe sie ja doch geboren!"- " Dem war auch so," versetzte Veit: bis der Kerl zum thut das?" fragte die Dirne entgegen: Schneelust ist talt, Eben darum;" versetzte Beit gleichgiltig: Die Bärin Schurken wurde." aber kälter der Schooß einer gottlosen Mutter. Unter den muß etwas von ihrer Brut vertragen fönnen. Schlechtes Hufen eines schlagenden Rosses schläft der Gerechte besser, Bolt seid Ihr, das leidet einmal feinen Zweifel. Nehmt als unterm Schirmdache des Bösen. Gute Nacht!"- Sie immerhin das Kreuz auf Euch, fügt Euch der Tollheit Eures verschwand, und bei dem Ernste ihres Abschiedes war dem Sprößlings, und dankt dem Satan, wenn die Verrückte Euch Leuenberger unheimlich ums Herz geworden. Unheimlicher nicht einmal an die Gerichte verräth." Die Alte schüttelte ungläubig den Kopf. Das thut sie noch der Mutter, die trübsinnig beim Feuer sizend, die Hände faltete, und in die Flamme starrend, die dicken nimmermehr!" sprach sie:" Ich habe einmal von ihr ver­Thränentropfen ungetrocknet ließ, die in ihren grauen Wim- langt, sie sollte einen Eid darauf schwören. Sie aber hat's pern hingen. Die Maid bricht noch mein Herz," nicht gethan, und gesagt:" So Ihr ouf ein leeres Wort seufzte sie endlich und ich darf sie nicht schelten, weil sie von mir vertraut, mehr als auf mein kindlich Herz, so ver­die einzige Unschuldige im Hause iſt." Eine Närrin ist dienet Ihr, daß ich hinginge und Euch verriethe. Sorgt

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" Daß solche fecke Leute auch dahinfahren müssen!" fuhr das Weib fort: Ich darf es wohl bekennen; die besten Gehilfen Martens, den doch allgemach Augen und Kraft verlassen. tommen nach und nach von seiner Seite. Dreie sind ihm noch geblieben von der ganzen Schaar, die er seit Und mehr denn zwanzig Jahren mühsam herangezogen. von diesen dreien wird nächstens der Beste, der Jude, sich rennen, wie mir mein Mann mit Verdruß geflagt."

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Wie?" fuhr Veit überrascht auf: Der Jude, der pfiffigste aller Galgenvögel, der unverzagteste aller Mörder hat Euch den Dienst aufgekündigt? Blitz und Strahl!