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Nr. 22.- 1917.
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
IitUstllg,23.IlUMiir.
Kältesthutz.
Mit MaSt ist der Winter eingekehrt. Me? schon seit einigen Iahren strengen FrosteH ungewohnt, klagt über die Aalle, obwohl sie sich bisher durcvauS in normalen Grenzen gehalten hat. Aber die Gewöhnung spielt auch hier eine grotze Rolle, und Tempera« luren. die uns gegenwärtig schwer erträglich dünken, sind uns schon nach wenigen Tagen vertraut, namentlich, wenn die Kälte inzwischen noch zugenommen hat. Im allgemeinen pa«t sich der menschliche Organismus in unseren Bretten   der Aalte sogar weit leichler an. al< der Sommerhitze; während diese sür viele Leute umso drückender und unerlräglicher wird, je länger sie dauert, erfolgt m strengen Wintern oder auch nur bei etwas strengeren Frostperiodcn alsbald ein« derartige Anpassung an die niedrige Temperalur, dost nach der Beendigung des FrostwetlerZ der Anstieg des Quecksilbers auch nur bis zum Nullpunkt bereits als auffällige Wärme empfunden Ivird. Wenn tropdem so diele Leute die Winterkaltr, die bei unbewegter Lust und bei Sonnenschein dem Organismus sogar sehr zuträglich ist. wie ein böses Uebel fürchten, so rührt das daher, datz sie ent- weder überhaupt unrationell leben oder sich unzweckmötzig kleiden. Leute beiipielSweise. die die äußerst ungesunde Gepflogenhett haben, während des ganzen Vormittags bi« zum Mittagesisn keinen Bisien zu genießen, dürfen sich nicht wundern, wenn sie selbst in gut ge- heizten Räumen nicht warm werden, namentlich an kalten Händen und Füßen leiden. Dem Körper fehlt es dann an innerer Vcr« brennungSwärme. weiß doch jeder, daß nach einer aus« reichenden� Mahlzeit ganz von selbst sich' ein wohlige« Wärmegefühl einstellt. Weit mehr sind die Kältebeschwrrden aber auf ungeeignet? Kleidung zurückzuiühren. Wer sich im Sommer und Winter stets gleichmäßig kleidet, muß schon sehr abgehärtet und widerstandsfähig sein, wenn er nicht im Winter andauernd frieren will. Denn der Organismus bedarf gegen die Kälte eines äußeren Schutzes; hat doch die Ratur jedem Tier höherer Ordnung in der gemäßigten und kalten Zone in seinem dichteren Winterkleid einen natürlichen Schutz gegen Kälte gegeben. Doch die dicke Kleidung allein ZutS nicht; sie muß auch zweckmäßig sein. Wer sich bei strengem Frost die Beiue zehnfach mit dicke» wollenen Wickelgamaschen umhüllt, der kann erleben. daß ihm die Beine abiriereu, wenn er nicht sorgsältig daraus achtet, daß die Blutzirkulation ungehemmt bleibt. Alle fest anliegenden Kleidungsstücke, und mögen sie noch so dick sein, sind nämlich von Uebel. ES ist das ein Hauptgrund, weShalb daS 'deutsche Heer von der Einführung von Wickelgamaschen bisher stets abgesehen hat. Bei dem langschäftigen und weiten deutschen Kommißstiefel ist die Gefahr des Erfrierens der«itteren Exiremi« täten ungleich geringer, da Beine und Füße durch dei» Stiefel nicht eingezwängt werden, die Blulzirtulntion also auch keine Hemmung erfährt. Nicht cmderi ist e« mit zu engen Hand» schuhen. Der dickste Pelzhandschuh ist zwecklos, wenn er zu eng ist: man sollte deshalb bei strenger 5lälle niemals neue Handschuhe anlegen, diese dielmehr schon bei mildem Tauwetter zu tragen be« ginnen, damit sie sich rechtzeitig ausweiten. Ein ganz bequemer. dünner Handschuh schützt eben ungleich besser gegen die Kälte als ein dicker, der fest anliegt und womöglich" die Gelenke so einschnürt, daß die Finger mir notdürftig bewegt werden können. Biele begehen auch den Fehler, bei strengem Frost die Handschuhe erst auf der Straß« aus der Manteltasche zu holen und anzuziehen. Der Handschuh füllt sich während dieser Prozedur mit der eisigen Luft; ebenso, hat sich die Hand schon stark abgekühlt, und sie will dann natürlich nicht mehr warm werden, Wer also in Bezug aus die Hände gegen Frost besonders empfindlich ist, tut gut daran, die Handschuhe ichon im Hause anzuziehen, womöglich sie einen Augenblick vorher an den warmen Ofen zu halten, damit sich das innere Futter erwärmt. Bei Temperaturen bis zu Ii oder 15 Grad unter Null genügen unser« gewöhnlichen WinterkleidungSstiicke und Kälteschutzmittel im allgemeinen vollauf. Sinkt aber das Thermometer noch tiefer, auf 20 oder gar auf SS Grad Celsius Kälte, Temperaturen, wie sie in Masurcn übrigens in jedem Winter vorkommen, so bedarf e? aller« d.ingS besonderer Vorsichtsmaßregeln, soll der Organismus keinen Schaden erleiden. Für diejenigen, die'über Pelze und sonstige dicke Winterkleider verfügen, ist auch diese Frage natürlich leicht zu lösen. Aber auch wer nickt mit Glücksgütern gesegnet ist, kann sich selbst bei dem härtesten Frost ausreichend warin anziehen. Man holt zu diesem Zweck nämlich geeigneterweise seine Sommersachen hervor. Da« ist keineswegs ein schlechter Scherz, sondern«in überau« praktisches Mittel, indem man die Sachen gemeinsam mit den Wintersachen anlegt. Enr Paar leichte baumwollene Strümps«, unter einem Paar wollener Strümps« gelragen, wärmt auch bei der größten Kälte ganz vorzüglich, und zwar dadurch, daß sich zwischen den beiden Strümpfen eine warnte Luftswicht
bildet, die die Kälte vom Körper abhält. Bedingung ist auch hier« sür. daß die Kleidungsstücke nicht zu eng am Körper anliegen. DaS Gleiche gilt für jede Art von Unterwäsche. Zwei leinene Unter« beinkleider. zwei Leinwandhemden wärmen besser als eine einzige wollene Unterhose oder al» ein Flanellheind. Ist der Körper durch geeignele Unterkleidung ausreichend geschützt, io braucht die Ueber« kleidung nicht ungewöhnlich dick zu sein. Auch ohne einen Pelz läßt sich sehr strenge Kälte vertragen: nur muß das Ucbcrkleid aus festgewebtem Stoff bestehen, darf auch nicht so weit sein, daß die kalte Luft am unleren Ende, am Kragen oder an den Aermeln leicht Eingang findet. Für das Schuhwerk gilt daS gleiche, wie für die Strümpfe: es muß weil sein und dem Fuß, besonders den Zehen genügend Spielraum zu ungehinderter Be« wegung lassen. Dünne Sohlen sind natürlich vom Uebel: namentlich der Städter verspürt durch sie sehr bald die eisige Kälte des Stein« Pflasters. Am besten gebt man im Winter auf einer ziemlich dicken Dopyelsohle und in einem festen, bohcn Stiesel sso man ihn hat). Dünne Halbschuhe gehören im Winter nickt auf die Straße, lieber die Torheit der spinnwebendünnen Florstrümpfe während der kalten Jahreszeit braucht kein Wort verloren zu werden; sie rächt sich übrigen« vielfach durch schwere Erkältungskrankheiten. Besonderen Schutze? bedürfen bei sehr niedrigen Temperaturen die Ohren. Wer gezwungen ist. lange Zeit im Freien zu verweilen, wird geeigneterweise Ohrenklappen anlegen. Aber auch bei kürzerer Bewegung in der Kälte stellt sich vielfach schon daS schmerzhafte Brennen an den äußeren Rändern der Ohrmuscheln ein, das darauf hinweist, daß die Gefabr des ErsrierenS vorliegt. Man begegnet ihr durch Reiben der schmerzhaften Stellen mit den bloßen Fingern. daS man solange fortsetzt, bis sich das Gefühl der Wärme einstellt. Auch Gesichtsfrost bekämpft man, sobald er in Gestalt eines elfen- beinweißeu Flecks austaucht, durch energisches Reiben init der bloßen Hand._______ kleines Feuilleton. Der Mensch mit und ohne Uniform. Wenn schon nach der Versicherung Goethes im allgemeinen zwei Seelen in unserer Brust wohnen, so'cheiden sich diese noch deutlicher von einander, sowie der Mensch Gelegenheit hat. sich abwechselnd in Uniform und ohne diese zu zeigen. In welcher Weise das Tragen der Uniform das Gemüt eines Franzosen beeinflußt, macht uns ein Aufsatz derBicioire'(vom 1.' v. M.) klar, in dem e« heißt: .Da rneine militärische Laufbahn nur kurz war, auch nichiS mit kriegerischen Dingen zu tun hatte, so kann ich mich jetzt, nachdem ich da« 4b. Lebensjahr überschritten habe, je nach Belieben in Zivil oder Uniform zeigen. Den Ausschlag gibt darin für mich vor allem da« Wetter. Bei trüdec Witterung ist die Uniform angedrachi, bei warmem Weiter dagegen der leicht» Anzug am Platz. Nun bin ich aber ganz Überroichl, festzustellen, wie sehr meine Stimmung mit dem Rock wechselt. Nach Ansicht meiner Freunde gewinne ich in Kali um 100 Ptoz. Mein« Schwiegermutter und unser Dienstmädchen sind der gleichen Meinung, vielleicht nicht zu Unrecht. Wie ein Held gekleidet zu sein, hat eben etwas Erbebendes. Wenn blasse Reservisten mich aus der Straße als ihren Vorgesetzten grüßen, schwillt mir das Herz. Allerdings h»be ich mich in keiner Weise kriegerisch herborgetan, auch eigentlich gar nichiS geleistet. Aber da« brauche ich ihnen ja nicht zu sogen und ebenso loenig mich daran zu er« innertt. Wenn mir unverkennbare Schützengrabensoldaten mir ihrem Gruß ihre Hochachtung beweisen, so zeigt mir da? mit Stolz, wie verwandt ich diesen Heldenseelen bin. Für die Zivilisten hege ich natürlich nur Verachtung. Da» sind Schlappschwänze, die keinen Pfifferling wert sind, und wenn sie nicht ganz degeneriert sind, schwebt mir immer der Ausruf auf den Lippen:Sie sollten auch besser im Schützengraben stecken 1" Sowie ich aber meinen schlicht bürgerlichen Rock anziehe, ändert sich diese Berfasiimg augenblicklich. Da mich niemand mehr mit mili- tärischem Schneid grüßt, suhle ick mich einsam. Der Krieg druckt mich schwerer als eben noch, da ick an seiner Last initzutragen ver- meinte. Ich komme mir alt und klapprig vor. bin verärgert und verinörgelt. An allent habe ick etwas auszusetzen. Meine Selbst» sicherheit schwindet. Ich trete weniger großspurig ans und dämpfe meine Stimme. Mein Regenschirm dancht mir da» Symbol meiner Schlväcke. Vor allem fühle ich, wie der Pessimismus ü b e r rn i ch M a ch t gewinnt. Wie komisch, daß so viele Leute sich mit dem bunten Rock kostümieren! Wie viele dieser Uniformierten, die keine blasse Ahnung haben, wie eine Schlackt anssieht! Wenn ich meinem eigenen Selbst in Uniform begegnete, ich iviirde mich ausschütten vor Lachen. In, Kleider machen Leute. Wenn aber ein solcher Abgrund zwischen den Leuten klafft, die in Uniform stecken, und denen, die
nicht in Uniform stecken, dann sollte man beizeiten daran denken, ihn zu überbrücke». Sonst kann cS da mal später zu einci» bösen Zusammenstoß kommen." W Oer Verüegang öes dörrgemüfes. Die durch die KricgSumstände bedingten ErnährungSverhält- niffe hasten bei uns die Äemüsekost in einem Grade zu Ehren gc- bracht, wie ifin selbst die überzeugteste» Vegetarier früher kaum erträumt haben dürften. Entsprechend dem Umfang und der Bc- deutung des Gcmüseverdrauches unter den gegenwärtigen Uni statt den wird auch in allen großen Städten auf besondere Weise für die 'Sicherstellung der Gemüseborrätc gesorgt. Darum die hohe Be- deutung des Dörrgcmüscs, dcffen Werdegang Dr. Gradeitwitz nach einem Besuch in der großen Berliner   Trockengemüseanstalt iir der Zeitschriftlieber Land und Meer" schildert. Die ttt kaum mehr als 100 Bautaacn fertiggestellte Anstalt ist ein Muster äußerster Praxis; mit allen Mitteln wunden überflüssig« und zeitraubende Transporte vcrwieden. Das Gebäude ist durch eine Feldbahn mit dem Bahnhof einer Gasanstalt verbunden und wird mtßccdein cinett Vollbahnanschluß erhalten. Die von außen durch Luken zugäng- lichen Vorratsbehälter vermögen nicht weniger alö 3000 Zentner Gemüse zu bergen. Die Verarbeitung dcS GemüseS führt Dr. Gra­denwitz am Beispiel des Weißkohls au». Der Kohl wind geputzt und von seinen Welten Blättern befreit, hierauf van vbcn her zum Waschen in einen Kessel gelegt. Ein Druck auf einen Knopf genügt, um durch einen elektrisch betriobeneit Kompressor Druckluft in den Kessel zu pressen, der eine Wellenbewegung des Waffcrs erzeugt und so die gründlichste Reiniguiig bewirkt. Weitevhin kommen die Zer kleinerungsmaschtneu in Betracht, Hvbeltnaschineu, in die der Kohl nach Eniserrniltg der Strünke 6urch Bohrmaschinen gebracht wird, um in Form eines fortlaufen>den Stromes von Gemüseschuitzelti wieder hervorzukommen. Diese Schnitzel wevden in flache Eisen kästen geschüttet, die man in den Trockenofen schiebt. Ein Venti- lator bläst ständig einen Strom.Heißluft von 60 Grad Celsius über die Gemüseschnitzel, denen die Feuchtigkeit auf diese Weise entzogen wird. Bei diesem Prozeß schrumpft bat» Gemüse auf den zehnten Teil seines UmftnrgcL zusamuten und berliert mit seinem Wasser- itchalt 04 Proz. seines Gewichtes. Dies ist ein kleines Beispiel für die Arbeitsweise, der unsere gerade jetzt so wichtigen Vorräte an Trockengemüse ihre Entstehung verdanken. Die hierbei sich er- gebenden Absällc dienen als Biehfuticr, so daß auch nicht die gc- ringskc Kleinigkeit verloren geht. R»»tzr«. John Bullö a n d c r g Insel, ShalvS socbett im Lesiingt heute r aufgeführte Komödie, ist in der BuchrniSgabe bei ®. Fischer erschienen. Der Ä n i h r o p o l v g e C. B. Thlor ist,>vie erst jetzt in Deutschland   bekannt wird, am ä. Haimar in Wellington   lEnglaad) im Altec von 8S Jahren gestorben. Er war lang» als MuseumS- direktor und Professor in Oxford   tätig. Die Wissenschast vom Menschen('Anthropologie) oerdankt ihm Außer ordentliches. Sein be- reitS 1881 erschienenes, auch verdeuttckleti Hauptwerk Anthropologn ist Immer«och unentbebrlich Weit darüber hinaus hat er mit feinen Untersuchungen über«Primitive Kultur" gewirkt, worin er die Ent- Wicklung der Kultur aus den verschiedene» Stufen der primitiven Menschheit darlegte. Im Sinne naturtvisienschaftlicher Kuffassung und Erklärung dieser Fragen hat diese» Buch fruchtbringend ge­wirkt. Spezialuntersuchungen widmete Tylor der Urbevölkeruiig Mexiko».-, Der erste loci bliche Prvsesior in Holland  . Weibliche�llttwevsttätsprosessoren sind auch jetzt noch in.den«uro- päischen Staaten überaus �lteit. Bekomm ist, daß Frau Curie einen Lehrstuhl an der Pariser   Sorbonne inirebaft und in Kmstia- nia ist Fräulein Bonnevie Professor der Zoologie. Diese beiden Forscherinnen habe» nun in Holland   eine Kollegin erhalten. Dr. Johanna Westerdyk ist zum außerordentlichen Professor für Rache- matik und Naturwissenschaft an der Universität Utrecht   ernannt worden. Frl. Westcrdhk hat ihre Studien zum Teil in Deutschland  gemacht und auch mehrere Arbeiten in deutscher Sprache veröffent- licht. S ch w e d i s ch c Elektrizität für Dänemark  . Wegen des Mangels an Wasserkraft in Dänemark   ist, wie dieUm­schau" meldet, zwischen diesem Staaie und Schweden   ein Ueberein- kommen getroften worden, wonach letztere» das Nachbarland mit Elektrizität versorgen wird. Von einer Station am Laga in Sma- land wird der Strom durch Luftleitung nach Helsingbvrg geleitet und von dort mittels unterseerscher.Kabel durch den Sund nach Mnrienlhft auf Seeland  . Die schwedische Kraftstativn liefert S00 Pferdclräfie nach Dänemark  ; die ElektrizitälZmenge kann aber bis auf 5000 Pferdekräfte gesteigert wevden.
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Es ist sehr möglich. Bon Heinrich Zschokke  .
Gleichviel, mein Sohn, aber es war sehr möglich. Seit- dem ich mein Sprichwort habe, nehme ich jede angenehme Stunde wie ein Geschenk des Himmels, ohne es für bleibend zu halten, und überrascht mich kein Uebel mehr, denn ich bin darauf gefaßt, und weih, es hört endlich auf. Es ist alles sehr möglich. Darum rate ich dir, eigne dir diese Idee an. Sie mutz stch aber durch beständigen Gebrauch in dein ganzes Wesen auflösen, sich gleichsam in deinem ganzen Nervenbau verknorpeln sonst frommt sie nichts, und du bleibst charakterlos. Wir Menschen alle, fuhr der Staatsrat fort, werden bei unseren wichtigsten und unwichtigsten Begebenheiten und Hand- langen von einer in dem Augenblick erst schnell aufsteigenden, oft uns selbst fast unbewutzten Idee geleitet. Sie ist dann des Augenblicks undAwr Umstände flüchtiges Erzeugnis, und zwar so sehr, datz man sich hintennach oft nicht einmal Rechenschaft geben kann, warum man eigentlich im entscheidenden Moment gerade so und nicht anders handelte. Unwissende glauben an göttliche und satanische Inspiration. Daher können auch nur äutzekst wenige Menschen dafür gut stehen, wie sie allenfalls unter diesen oder jenen Verhältnissen handeln würden. Sie können eS nicht; denn beim Heransturz des Verhängnisses sind sie meistens ihrer selbst nicht mächtig, wie betäubt, wie be- rauscht, weil ihrem Geiste alle Festigkeit, ich möchte sagen, das starke Knochengerippe, die fixe Idee der höchsten Lebens- Weisheit, der starte Christussinn, das Verachten des Irdischen und seines Spiels, das Hinschauen auf das Ewigwahre, Ewig- gute fehlt. Um sich solches eigen zu machen, mutz man ein sehr einfaches Mittel, dem Geiste eine Krücke, irgendeinen überall anzubringenden Wetdfpruch, wählen. Steht es dann und wann auch nicht wohl an: ei nun. was schadet'S? Genug, wenn nur daS Wahrste und Erhabenste zur klotzen Gewohnheit wird, das heitzt zur andern Natur, aber nicht zur tierischen gedankenlosen, sondern zur vollbeivutzten. Das gibt Stärke, das gibt Stetigkeit. Darum folge meinem Rat l ES ist dir sehr möglich.
Mit der Stärke und Stetigkeit seines Gemütes hatte eS beim Staatsrat Stryk seine volle Richtigkeit; inzwischen zog ihm sein Sprichwort doch zuweilen auch manchen Verdruß zu, was wenigstens anderen Leuten wohl Verdruß gewesen wäre. Aber ihn focht nichts leicht an. Zum Beispiel war er eines Tages tu der Ministertalver­sammlung. welcher der Kurfürst beiwohnte. Es war zur Zeit deS französischen   Revolutionstaumels. Man sprach nach auf- gehobener Sitzung von den neuesten Vorfällen in Paris  , in Lyon  , in Stratzburg; sprach von der ungeheuren Verwandlung der französischen   Nation, von der ehemaligen Abgötterei, die sie mit ihren Königen getrieben, und von ihrer nunmehrigen Freudetrunkenheit beim Sturz des Thrones. Das ist das schändlichste Volk auf GotteS Erdboden l rief der Kurfürst: Kein anderes Volk könnte daS. Denf ich an meine Untertanen nie, des bin ich gewitz. werden sie von solchem Schwindel ergriffen werden, nie vor einem anderen kniebeugen. Halten Sie eS für möglich? Was meinen Sic. Stryk? Der Staatsrat hatte in dem Augenblick an etwas anderes gedacht, die Worte feines Herrn nur halb gehört, und zuckte verlegen die Achseln, indem er nach seiner Gewohnheit sagte: Es ist doch sehr möglich! Der Kurfürst stutzte. Wie verstehen Sie daS? rief er; Glauben Sie, es werde je ein Augenblick kommen, da meine Untertanen froh sein können, mich verloren zu haben? ES ist sehr möglich! sagte Stryk mit Besonnenheit: Man kann nichts voraus wissen. Niemand ist unzuverlässiger, als ein Volk; denn daS Volk besteht aus Menschen, von denen sich jeder selbst mehr liebt, als den Fürsten  . Eine neue Ordnung der Dinge bringt neue Hoffnungen: und immer sind Hoffnungen verführerischer, als der Besitz deS GutcS selber. So sehr Ew. kurfürstliche Durchlaucht von allen Ihren Unter- tanen geliebt werden, und so sehr Sie die Liebe derselben verdienen; doch wollte ich nicht schwöre», datz nicht bei ver- wandelten Umständen dies Volk alle Wohltaten vergessen und zu Ehren einer Republik oder eines andern Herrn Freuden­feste und Illuminattonen anstellen, die kurfürstlichen Wappen abreißen und beschimpfen könnte. O ja, es ist sehr möglich. Sie sind nicht gescheit!" versetzte der Kurfürst heftig und wandte ihm den Rücken. Stryk fiel in Ungnade. Jedermann sagte damals: Stryk ist ein Narr.
Einige Jahre nachher drangen die Franzosen glücklich über den Rhein  . Der Kurfürst init seinem Hofstaat flüchtete. Mau sauchzte Freiheit und Gleichheit hinter ihm her. stellte. Freuden feste und Illuminationen an, und ritz die kurfürstlichen Wappen ab. Stryk, als ein keniitnisvoller, brauchbarer Mann, fand auch unter der neuen Ordnung der Dinge seine Anstellung. und um so mehr, da bekannt genug geworden, tveSwegen er beim vertriebene» Landesherr» in Ungnade gefallen war. Man betrachtete ihn gewissennatzeu älS ein Schlachtopfer de» FürstendcsPotiSmuö. Das Neue defesiiate sich, und Stryk trug durch seine' Tätigkeit und Geschäftskunde dazu nicht wenig bei. Ungeachtet seines natürlichen Feuers lietz er sich doch nie zur politischen Schivärmerei hinreißen. Er hielt es auch nie mit einer Partei; das mutzte ihn jeder Partei verdächtig macheu. Die Jakobiner hietzen ihn einen verkappten Royalistcn, die Royaliste» hietzen ihn einen verkappten Jako­biner. Er lachte zu beiden Titeln und tat seine Pflicht. Eines Tages kam ein RegicrungSkommtssär in das Departement, dem man. wie sich von selbst versteht, die. größten Ehrenbezeugungen erwies. Jeder drängte sich zu demselben jeder suchte sich bei ihm einige Wichtigkeit zu geben. Mitunter fehlte es auch nicht an Leuten, die über den braven Stryk und die Zweideutigkeit feiner republtka nischen Gesinnungen ihr dienstmilligeö Wörtchen an den Mann brachten Der Kommissär, da er einst mit Stryk in großer, glänzender Gesellschaft zusammentraf, wo mancher Rurige Toast auf die Freiheit der Welt, auf die Rechte der Völker, auf die siege der Republik   angebracht worden war, wandte sich auch zu Stryk. Ich wundere mich nur. sagte er, datz die Könige es noch wagen, ivider uns zu streiten. Denn sie beschleunigen damit ihren eigenen Sturz. Die Revolution macht die Runde um die Welt. Was hoffen denn die Leute? Bilden sie sich ein. die große Nation mit den Waffen zu beugen und die Bourbonen zurückzuführen? Die Toren! Eher würde ganz Europa   untergehen. Was meinen Sie, Bürger: ist es einem vernünftigen Manne gcdcnkbar, datz in Frankreich   jemals wieder ein Thron anfgcbanet werde? Worts, folgt.)