St. 39.- 1917.
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Müg, 9. Februar.
KriegsVinterliches aus Sem Spreewalö. Drr FttlNde, der de» Epreewald nur von sommerlichen Be- suchen hu kennt, wird sich, iveu» die Gegend in Eis und Schnee gehüllt ist, in«int ihm völlig unbekannte Londschaft versetzt glauben. T ie spatherbstUchen Regen verwandeln die in, Sommer einem bunten Slumenteppich gleichend« Äiesenflur i» einen einzige» großen See. au« dem nur noch die bemoosten Häupter malerischer Blockhäuser, emlam stehende Baumgruppen und die plumpen Formen der Heu» schob« hcrauSragen. Macht dann der rtsige Aiem de« Winter « die trägen Wassennassrn völlig erstarren und kleidet der Schnee die Land- schuft in«in strahlendes Weist, so ist da« Auge überrascht von dem gänzlich veränderten, schönen Bild. Der Sptectvälder freilich steht dem Rahe» de« Froste« mit gemischten Empfindungen entgegen. Solang« die/Eisdecke nämlich noch nicht tragkläftig ist, darf man in dieser Zeit im Spreewald nicht trank werden,- einen Arzt zu rufen ist unmöglich. Dauert aber der Frost an und lästt da« Ei« immer stärker werden, dann wird der still«, verschlossen« Wendische Bauer ein gar lustiger Gesell. Dann werden die Schlittschuhe hervorgeholt, und wohin der Kahn im Sommer nur sehr langsam kam. da tragen die Siahlschuhe den Eilenden in toenigen Stunden. Da werden die längst versprochenen B«suche bei Setter und Base, bei Obm und Muhme erledigt, und gerade Heuer hat man viel auf dein Herzen. Da« Ei« hat im wendischen Spreewald schon immer ein« wichtige Rolle im Ehestistrn gespielt, wie denn im Winter überhaupt ein groster Seil de« Lustiren Leben« fich auf dem blanken Eiespiegel abrollt. Die Schutkinder gleiten zur Schule, dir ganz Kleinen werden im heugtsüttetten Schlitten weiter besördrrt. Barer und Mutter gehen aus Schlittschuhen einholen usw. Di« ganz Alle» aber mache» auf dem Schlitten sehr oft ihre letzte Fahrt. Solch ein Begräbnis bietet einen seltsamen Anblick: Nicht langsam und ieierlick zieht so ein trauriger Fug vorüber, sondern in fliegendem Tempo flitzt er vorüber. Borne der Sarg auf den, Schlriren, gezogen oder geschoben von Männern, dahinter die Folge der Leidtragenden, alle« auf Echttttschuhen. Da« verbietet von selbst ein langsames Fortbewegen. Die im Winde flatternden Leidrnbänder der Kopstilch«r und Schleifen Vieren dann«in groieZkeS B'ld, an dem jedoch der gesunde Sinn de« EpreewÜIderS keinen Anstr st Nimmt. I« FrirdcnSzeitrn gehört für den Wenden der Tanz zmn Ei« wie das Salz zum Brot. In ollen Dorffchänken war da Mustt, und dazu ast man die beim Brezelbäcker eingeholten Ringel«. Da« ist in tieirn ernste« Zeiten natürlich au«ges«losi»n. Statt der farbig bunten, frohen Pracht der Frauen steht man immer häufiger da« ernste Echtvarz in der Gewandung, und der belebende Klang der Geigen und Trompete» hat ernsteren Gesprochen Platz machen müssen. Etwa« belebt« wird da« Bild jedoch durch die vielen Fremden, die in stet« wachsender Zahl jetzt auch im Winter kommen, um die herben Schön« Veiten de« eisgepanzerten, schnreVehangenen Spreewalde» zu geniesten. Di« Wenden sind nicht mehr ganz unter sich, ein Rachteil, den sie durch geflissentlich« Betonen ihrer Sprache auszugleichen suche!!. In den letzte« Tagen besonders Hoven Viele, zum grasten Teil au» der ReichShauptstadt, di« besondere» Reiz« einer Schlittfchuhiahrt durch den Epreewald schätzen gelernt. Zwischen de« aut dem Eis« sich spiegelnden Türmen von Zerlwitz, Reu« tauche. Lübbenau . Straupitz und Lübbe» bewegte sich ein bunte» Merrichengewniimel, und die ernsten, ehrwürdigen Eichen bei Straupitz mögen manchnrol die allen Häupter geichüitelr haben. Boin Krieg, Ro: und Teuerung bedrängtes Menichenvolk wollte bei der Allmutter ?!alur neue Kraft zu seinem schweren Tagewert holen. Und die, goldene Wintersonne machte ihr strahlendstes Gesicht dazu.
Kunst unö Technik.
In einem Vortrag«, den Profesisr Peter Behren! im Zentral« Institut für Erziehung und Unterricht hielt, wurden di« tieferen Zw famntenbSng« zwischen Kunst und Technik einer näheren Untersuchung unterzogen. Dies« beiden so tvesenSverschiedenen Bestandteil« unsere« LebenS in den umsafiende» Begriff eine» Etiles zu dereincn. must als eine der hauptsächlichsten Ausgab«,, unserer Kultur betrachtet werden. Die rasch« Entwicklung der Technik und der Formen, die sie au« sich
entwickelte, haben scheinbar mit dem Wesen der Kunst nichts ge» mein. Der Vortragende erbrachte an Hand einer Reihe von Licht« bilden, den RackweiS, das; niemals in der Kulturgeschichte eine künstlerische AuSdrnckSsvrm durch Zufälligkeit technischer Erfindungen bestimmt worden sei, sondern dast der von vornherein gegebene Fonnwillt als Urheber der technischen Erfindungen und Konsiruk» tivnen anzusehen sei. Die ganz bestimmte Richtung der technischen Entwicklung trägt den Beweis eines ideellen Willen» in sich, iür den die technische Erfindung nur die Möglichkeit der sinnfälligen Dbjekrivierung bedeutet. Hierdurch ist gleichzeitig dargetan, dast die ArbeitSergrbussse technischen Schaffens keineswegs an sich schon Einheiten eines Kunst- stiles sein können. Eine irrig« Richtung moderner Aesthttik, die sich auf dir Theorien Gottfried Sempers stützte, hat die künstlerische Form aus dem Gebraucksziveck und der Technik ableiten wollen. Im Gegensatz zu dieser Auffassung steht die Begriffsbestimmung Alois Rregls, dah das Wesen des Kunstwerkes nicht mechanistisch, sondern teleologisch szweckbrivuht) aufzufassen sei, indem im Kunstwerk daS Ergebnis eine« bestimmten, zlveckbcwusttcn Kunstwollens erblickt wird, da» sich im Kampf mit Gebrauch«» zweck. Rohstoff und Technik durchsetzt. Bewiesen wird die Riegl'sche Auffassung durch die unleugbare Tatsache, dast Kunst nur auS Jntuirton starker Individualitäten entstehen kann, da sie die freie, nach Bedingungen deS Stoffes unbehinderte Erfüllung psychischen Drange» ist. Also ist die Technik beim Prozeß der künstlerischen Form nicht ein schöpferischer Faktor, sondern als Teil eines grasten Kräfte« komplexes nur ein bestimmender, als dieser freilich von groster Wichtigkeit. Fruchtbringend wird sie für dir Kunst erst dann sein. wenn st« sich jenen noch unbekannten Dingen anpaßt. die tvir mit Rhythmus bezeichnen. Ein gesteigerter beschleunigter RbyihmuS must als«in wesentliches Kennzeichen modernen Empfindens ericheinen. Durch ihn, der auch im Empor» wachsen in den Erzeugnisse» der Technik eine beherrschende Krakt bildet, wird somit auch der Ausdruck moderner Baukunst wesentlich bestimmt. An Hand einer weiteren Zahl von Lichtbildern erläuterte der Vortragende die Anwendung dieses Erkenntnisses auf die Formen- gebung moderner Industriegebäud«. die nach seinen Entwürfen aus- geführt wurden. Die Besprechung der Formen und Maierialien führt zu der Feststevrmg, dast maihenialisch bestimmte Formen niemals eine Kunstwirkung ohne weiteres hervorrufen können. Das bieste soviel, wie eine Kunst aus intellekiueller BastS, waS einen Widerspruch in sich bedeutet. Die ästhetische Stabilität gehorcht anderen Gesetzen wie die mathematisch«. Wie sehr die künstlerische Durchdringung die technische Form zu veredeln vermag, zeigen nicht nur die Gebäude der Industrie, son» dern auch ihre Produkte, vor allem Erzeugnisse der EiektrizitätS- induftrie, von denen der Vortragende eine Anzahl von Beispielen im Lichrbild vorführl«. Die Aufgaben, die die schnelle Ent- Wicklung der modernen Technik dem schöpferischen Kunstwillen stellt, sind austerordernlich grost und wachsen beständig. Die Einsicht deS Werte», ja der Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Kunst und Technik greift in den Kreisen der Erzeuger wie der Abnehmer stets weiter um sich. Untere heutige reich erblühte Industrie bildet einen der gröstten Machtkreise unserer Zeit und kann daher. wie in früheren Zeitaltern, von großen-. Einfluß auf die Entwicklung von Kultur und Kunst»Verden . In einer Synthese des künst» terischen Könnens und der technischen Tüchtigkeit liegt die verlockende Aussicht, nämlich die Erfüllung unserer aller Sehnsucht nach einer Kultur, die sich in der Einheitlichkeit aller LebenSäußerungen alS ein Stil unserer Zeit zu erkennen gibt.
»*
was ist Kälte? Was Frieren ist, das weiß man schon, aber tvaS Kälte ist, daS Hai nockt leiner herausgebracht— diese Abwandlung einc« be- kannten Worte» von Heinrich Heine drängt sich in den ungewöhnlich kalten Wintertagen den Gedanken auf, und man darf von ihr ivohl sagen, daß sie nicht weniger richtig ist als der ursprüngliche Satz deS Dichters mit den Prügeln und der Liebe. Es erscheint jetzt wie ein Hohn, daß die Physik überhaupt nur Wärme keimt und leine Kälte. Es ist etwas AehnlicheS, c!S wenn jeder, der an einen Gott glaubt, auch verpflichtet sein sollte, an einen Teurel zu glauben. Wie daS aber vielfach der Fall ist. so läßt eS sich der Mensch nicht nehmen, auch bei der Temperatur nach seinen Sinne?«
Wahrnehmungen einen Gegensatz zu bilden. Daß dieser rein ge» fühlSmästig ist. lehrt die tägliche Erfahrung. Wir können Kälte empfinden, wenn die Temperatur deS umgebenden Mediums noch weit übsr dem Rullpunft liegt, nur wegen dsö Gegensätze», mitunter unabhängig von der Art der Belletdung. Daneben erlaubt aber auch die Wissenschaft gewissermaßen für da» Kleingeld de» alltäglichen Sprachgebrauchs von Kältegraden zu sprechen, indem sie den Gefrierpunkt de« Wassers als Grenze bestimmt. Ein Mcteo- rologe wird sich der Bezeichnung 80 Grad Külte nicht schlecht- hin schämen, wenn sie auch physikalisch nicht genau ist. Als Naturkraft gibt es aber nur die Wärme. un\ eS gibt auch nur eine Wärmelehre, wenn auch eine Kälteindustrie.. Theoretisch hört auch die Wärme irgendwo auf, nämlich bei dem absoluten Nullpunkt— b7S Grad. Durch ein physikalisches Ex- periment erreicht ist er freilich noch m«t, also auch nicht tatiächlrch nachgewiesen, obgleich die moderne Wissenschaft ihm bis auf wenige Grad nahe gekommen ist. Die Physik gibt sogar zu, daß eS un- möglich sein dürste, diesen Zustand jemals künstlich zu erzeugen. Vollends unmöglich ist es aber, unter diesen Punkts zu gelangen, wo also eine eigentliche Kälre beginnen würde. Darüber gibt eS aber, wie gesagt, für den Physiker nur Wärme, mid ein Körper wie die flüssige Lust ist nach dieser Rech» nung schon recht warm. Nach unserer Thermometereintcilung hat sie»war eine Temperatur von— 191 Grad, ist aber eigentlich 82 Grad warm. Und ivenn wir jetzt schon über Li) Grad Kälte stöhnen, müssen wir unS damit trösten, daß lvtr in Wahrheit von der ungeheuerlichen Wärme von Lüg Grad umgeben sind. Wer'S nicht glaubt, mag es in einem physikalischen Lehrbuch nachlesen. Krieg unö Geburten. Der berühmte Wiener GeburtSkliniker Schauta teilte mit, daß bi» zum März 1911) die Geburtenzahl Oesterreich » unverändert blieb, dann aber fiel die verhältniSzahl von 390 aus ISO und bei diesem so niedrigen Stand ist r« geblieben. Derselbe Abstieg um bO Proz. gilt auch für Deutschland . Die Ernährungssolgtn des Krieges be » deuten ein großartiges Experiment auf die alte gynäkologisch« Frage der Erleichterung der Geburt durch eine Unterrrnäkenng, die zwar eine reife, aber kleinere Frucht ergeben.„Zurzeit ist eine relative Hungersnot vorhanden/ sagte HerrenhausmitglM Schauia nach der „Wiener Medizinischen Wochenschrift', an Tausenden wird die Hunger- kur erprobt. Indessen haben auch die Krtegstinder zumeist das normale Gewicht von über 8000 Gramm, sind also gut genährt. Nur e in Sachverständiger. Kettner. ist zu entgegengesetztem Schluß gelangt. Allerdings, sagt Schauta. ist da? Kind sozusagen ein Parasit im Rutterleib«, es nimmt von der Mutter alles doö heraus,«va« es braucht, ob nun die Frau Nahrungsmangel leidet oder nicht. Das- selbe gilt vom Stillen. Der Tenährung'«zustand der Matter kommt weder für dt« Beschaffenheit der Frucht noch für das Säugen in Betracht: wie e« aber, denkt der Laie, mit den Folgen für die Mutter und dielleicht auch für das Nervensystem deö KindcS steht, ist ein? Frage für sich. Interessant iii auch, daß auS einer sehr großen Geburtenzahl der Schantaichen Klinik festgestellt ivurde. daß gegenüber dem nor- malen GetchlechrsverhälmiS von 106 Knaben auf 100 Mädchen seit dem 1. April 19lS, also neun Monate nach Kriegsausbruch, 102 Knaben auf 100 Mädchen kommen. Prof. Schauta betonte noch, daß ferne Angaben nicht übereinstimmen mit den Ergebnissen reich;- deutscher Gynäkologen; diese hätten jedoch mit wesomlich kleineren Zahlen grorbeitet olS die Wiener Forschung. Stonze«. --- K u« st a b« n d. Der nächst« TorGichter-Avend deS Schiller» Theaters am Sonntag, den 11. Febr.. bringt Lieder, eü: Trio und ungarische Tänze von Joh. BrahmS. — Musikchronik. Willi v. Möllen dorsf führt am Sonnlag mittags 12 Uhr im-Harinoniuinsaal, Steglitzer Sir. 35, sein mit einer Bierteltonskala versehenes Harmonium vor.— Das letzte der vier historischen Orgelkonzerte rn der Fricdrichstadtkirche sGendarmenmarksi findet am 12. Februar, 8'/, Uhr abends, stall. Deutsche Meisterwerte dreier Jahrhunderte. -- G.HauptmannS neues Drama, das er in An- lehnnng an Selms Lagerlvfs Erzählung„Herrn Arnes Schatz" ge» staltet bat, erhielt den Titel„Winterballade" und tvird demnächst im Deutschen Theater aufgeführt tverden. Ehrung eines A r b e r t erd ich« e r ß. Unser Wiener Genosse»tsonö P e tz o l d, der seit Fahren leidend ist. ivird nach einem Antrag des Wiener Stadtrats eine jährliche Ehrengabe von ISOO Kronen«rholien. Seine Gedichte und Erzählungen haben ihm bereits einen obersten Platz unter den deuttche» Arbciwrdichterti gesichert. Zuletzt erschienen von ihm in der LtnogSzeit entstandene Gedichte(Bei Di-derich in Jena ) und eine Sammlung kleinerer Er» zählungeti„Sil der Wanderer"(bei Reuß u Jtta in Konstanz ).
18J'
Der poltzeimeister.
diu russischer Polizeico man von Gabryrla ZapolSko. MckrfowSR lvarf ihr einen Seitenblick zu. Schlietzlich streh cr, indem er eine Ztgoretdenhülse befeuchtete, durch die fest aufeinandergepreßten Zähne hervor: ..Da!" Mit diesem russischen Bejahuitgöivort läßt sich alles sagen. lvaS man nicht ausdrücken wrll oder kann. „Vielleicht möchte der Herr noch den Keller oder den Boden untersuchen s" fragte Frumele. Aber Ktitzki erwiderte mit ironischem Lächeln: „Nein, ich habe genug!" „So? Sie haben genug? fftun, schön! Datttt erlauben Sie unS wohl schlafen zu gehen?" Klitzki verneigte sich hSflltch und erwidertet „Meinetwegen!" Cr wußte jetzt, daß seine Nachforschungen vergeblich waren, obgleich man seine Wünsche anscheinend erfüllt hatte. Frumele begleitete sie mit der Lampe zum Flur. .»Bnte Nacht, meine Herren! Bei mir schläft wirklich alleLl Ich komme inorgen zu dem Herrn Polizeimeister wegen der Konzession. Ich empfehle mich." Plötzlich öffnete sich eine gegenüberliegende Tür, und Zwei Gestalten wurden sichtbar. Ein Mann im Arbeitsanzug und eine Dirne, die den Ar« um seinen Hals gelegt hatte. In dem Lichtstreisen, der durch die geöffnete Tür drang, erglänzte das zerzauste, rote Haar des Mädthcns. Al« sie die Polizei sahen, traton beide zurück und warfen die Tür zu. Aber es tsar zu spät. Klitzki wußte nun. in WaS für einem Hause er sich befand. „FrumeleS Mann hat dort seine Geschäftsräume," sagte Markows«, als er Mttzkt« ironischen Ausdruck bemerkte...Viel- leicht möchten Sie auch dort hineinsehen?" Zugleich blickte« Frumele durchdringend an. Doch diese vertor ihre Ruhe nicht, sondern forderte die Herren auf. einzutreten. „Nun. also bitte!" sagte Markows« und stieß die Tür seiner Gewohnheit gemäß mit dem Fuß auf. Line noch heißer« und schwülere Luft strömte ihm ent- gegen, als die, die im Flur herrschte, aber es war keine Zeit, zu zöge«.
Vlll. Da» Eeschäst von„MuiiinrS-' Gatte», Mordko Lewbram. In der Mitte der Stube, die etwa ebenso groß war, wie die Schankstube, stand ein Jude in einem buntgestickten Hemd. karierter, auf dem Rücken aufgeschlitzter Weste und Bein- kleidern, die i« hohe Schaftstiefel hineingesteckt waren. Er war noch jung, blond, aber ohne einen BiutStropsen im Gesicht. Seine Äugen unter den fast weißen Brauen waren ebenso farblos wie die Gesichtshaut. Seine Hände waren auffallend weiß, schön geformt und zart. Als die Tür von Markows« unerwartet geöffnet wurde, bemühte er sich, eine an einem Draht hängende Lampe auszulöschen. DaS matte Licht, daS sie verbreitete, ließ den schmutzigen, stellenweise rnii- gehöhlten Fußboden sehen. Die ganze Stube war von Stricken durchquert, von denen hier und dort bunte Fetzen heradhingen, die eine Art Zelte bildeten. Zwischendurch sah man an den Wänden Pritsche» mit bunten Kiffen, Federbetten und Decken. Am Fenster stand ein kleiner Tisch, darauf Flaschen mit Bier, Schnaps, zwei Apfelsinen und Semmeln. Auf dem Fensterbrett»velkte in einer Vase ein Primelstraußchen, das offenbar von einer zufälligen Bewohnerin dieses unwürdigen Raumes gepflegt wurde. An den Wänden hingen hier und da auS den Zeitungen ausgeschnittene Zeichnungen, ein Kalender mit einem BergißmeinnichtstrSußchen und ein Engel von Pappe in einem rosa Kleid und einem Band mit der Aufschrift: „Herzlichen Glückwunsch zum neuen Jahr I" Die Ausdünstungen von Menschenfleisch. Tabak, ordinärem Parfüm und Feuchttgkeft machten den Aufenthalt in dem Raum schier unerträgltch. Klitzki wollte zurückweichen, aber schon drängten' hinter ihm die Polizisten her, die scheinbar gern in diese Stube eintraten. Ohne mit den Wimpern zu zucken, stellten sie sich tn eine Reihe an der Wand auf und sogen serren Geruch ein. der für sie eine Erinnerung an aus- schweifende Stunden bedeutete. „WaS befiehlt der Herr Wachtmeister?* fragte der blasse Jude mit gleichgültigem Ausdruck. Aber Markows« ant- wortete ihm nicht. Er beobachtete seit einiger Zeit daS rote Mädchen, daS mit dem Arbeiter von der Tür zurückgeschnellt war und jetzt erschöpft auf einer Pritsche saß. Markows« zeigte mit den» Stiefel nach ihr. „WaS ist daS?* fragte er.„DaS ist doch keine hiesige?" „Rein." sagte der Jude,„sie ist bei ihrer Schwester zuBesuch." »Du lügst i' flüsterte das Mädchen mit heiserer Stimme.
„Ich bin vor acht Tagen auS Bialystock gekommxn, du hast mich kommen lasten." Dabei zog sie ihre grünlichblaue Sammetbluse gerade und zeigte mit koketter Grimasse eine Reihe weißer Zähne. „Bist du verheiratet?" fragte Markows«. „Jawohl", erividcrte die Frau. „Hast du einen Paß von deinem Mann?" forschte cr weiter. „Ich weiß nicht", erwiderte sie verlegen. Markows« wandte sich an den Juden. „Ist ihr Paß in Ordnung? Ich habe ihn auf der Polizei nicht gesehen. Warum ist sie nicht gemeldet?" Der Jude nahm eine bescheidenere Miene an und begann sich zu rechtfertigen. «Ich wollte zu dem Herrn Poltzeimeister in dieser Angelegenheit gehen. Nyfke ist ihrem Manne fortgelaufen, er soll ihr den Paß nachschicken. Ich wollte um provisorische Erlaub- nis bitten." „Morgen in aller Frühe sollst du da fem!" schrie Markows« auf russisch und stampfte dabei mit dem Fuß auf. Wenn nicht, lasse ich sie von der Aufsicht fortbringen." ..Herr Wachtmeister, ich brauche sie. Sie ist heiter und fleißig." „Schwelg! Wie wagst du eS, Leute ohne Paß aufzu- nehmen?" Die roihaarige Dirne begann zu jammern: sie faßte sich beim Kopf und tat. als ob sie damit gegen die Wand liefe. Hinter dem Fetzen traten zwei andere Dirnen mit ebenso zerzausten Kopsen vor. nur schlechter gekleidet, mit Pantoffeln aus den nackten Füßen. Markows« brüllte aus ganzer Kraft mit seinem dröhnenden Baß: „Schweig, du Schimpansenweib! Sonst gibts Prügel." Das Geschrei verstummte. Da wandte sich Markows« wieder an Leinbram. der inzwischen fein Gleichgewicht wiedererlangt hatte. „Wer übernachtet heute bei dir T" fragte or. „Niemand!" erwiderte Mordko Lernbran.„Es waren einige Schaffner hier, aber sie sind wieder gegangen, nachdem sie sich vergnügt haben, und jetzt war dieser'Herr hier"; er deutete auf den Arbeiter, der soeben ging. .(Forts, solgt)