Nr. IIS— ,917
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Sonnabenö, 25. flprü
Heinrich Manns �Maöame Legros". Erstaufführung im Lessing-Theater. DaS neue Drama ist ein Werk, in dem fich denkende Ver- tiefung. Kübnheit und ernstes Ringeir offenbart. Freilich, das seelische Problem, an das der Dichter sich heranwagt, widerstrebt in seiner Komplikation und verschlossenen Innerlichkeit der Bühnen» form, den Zwang, den sie dem Dichter auferlegt, was er zu sagen hat im Dialoge und gedrängte Szenenfolge einzukleiden. Der Um» schlag der Hauptfigur ins Visionäre wirkt bei dem Fehlen jeder vor- bereitenden, die Keime einer solchen Gcistesrichtung schon im Ver« gangenen nachwertenden Entwicklung auf dem Döeater in hohem Grad befremdend, und dies Gefühl wird noch gesteigert durch die extreme Schroffheit, mit der das Drama den Schwärmersinn dem weltlichen Milieu durchgängig gegenüberstellt. Um dem Zuschauer eme solche Erscheinung wirklich glaubhaft zu machen, den Schein vpn innerer Notwendigkeit um sie zu breiten, dazu hätte es stärkster poetischer Intuition bedurft. So folgt man zögernd über» legend, mehr gespannt aus die Gedankenwendungen, zu denen Mann das Thema ausspinnt, als durch den Eindruck selbsteigenen Lebens der Figur, die in dem Durcheinanderschillern pathologischer und idealistischer Momente reibt unbestimmt und problematisch bleibt. Konstruktives, nicht eigentlich GeschauteS prägt so dem Werke seinen Stempel auf. Aber die Eigenart und Kühnheit in dem Konstruktiven. das Streben, zu letzten Konsequenzen fortzuschreiten, gibt darum doch dem Ganzen ein starkes Jntereffe, hebt es bedeutsam aus der Tagesproduktion hervor. Das Stück spielt an dem Vorabend der großen französischen Revolution, weckt durch den Hintergrund der Zeiten die Erinnerungen an SchmtzlerS meisterlichen.Grünen Kakadu". Dem Bild frivolen Dekadententreibens stellt sich bei Mann in der Gestalt der Heldin die Regung eines neuen, erst noch mystisch verhüllten Rechts- gefühls mahnend und drohend gegenüber. Nichts deutet im den ersten Szenen, wo man Frau LegroS im kleinen Laden ihres Mannes bei ihrer Arbeit steht, auf Un» gewöhnliches in ihrem Charakter. Auch die Totgeburt, die in dem weiteren Verlauf als eine Art von pathologischer Erklärung für das Exzentrische in ihrem Verhalten dienen soll, scheint hier ihr Gleichgewicht noch nicht in der Tiefe erschüttert zu haben. Von dem Gange, zu dem ihr Mann sie schickt, kehrt sie als eine völlig Umgewandelte herm. Ein von einem Gefangenen hoch oben vom Bastillenturm herabgeworfener Zettel, den sie aufgefangen, hat das zuwege gebracht. Da schreibt ein Mensch, schon vierzig Jahre schmachte er unschuldig im Kerker, und fleht den Finder an, ihm zu Helsen . Sie kann nicht loS davon. Daß dieses Unrecht nur ein Tropfen in dem weiten Meer des Unrechts ist, das unter der de- spollsch höfiswen Regierung sich über Frankreichs Lande wälzt— derartige Erwägungen tauchen in ihrem Frauensinn gar nicht auf. In der Vorstellung des unschuldig Eingekerkerten verdichtet sich für sie der Inbegriff des Unrechts überhaupt. Sie muß dem Rufe folgen. Nichts anderes hat mehr Raum in ihrer Seele. Ihr Mann kann sie nicht halten, sie stürmt hinaus, die Menge, aufzureizen. Nur die Verwendung einiger Aristokraten, deren neugierig spielerische SensalionSsucht, fich durch die Seltsam- keil des Falles angezogen fühlt, schützt sie vor der Verhaftung. Die Damen und Herren der Gesellschaft taxieren sie als eine listige Intrigantin, die in eigennütziger Berechnung Aufsehen erregen und Karriere machen möchte. Auch diesem hohnlächelnd kaltherzigen Zynismus gegenüber, der, allem Höheren abgestorben, nur an die schmählichsten Motive glaubt, wird sie nicht müde, ihre Predigt fort und fort zu wiederholen. Herumgezeigt als Wunder in den schön- geistigen Salons, selbst vor der Konigin Marie Antoinette . die hämisch überbebsamer noch als die andere» ihrer spottet, wirbt sie für ihre Sache. Und sie erreicht ihr Ziel. Es kitzelt der Eitelkeil der Königin, die Sehnsucht der Närrin zu erfüllen. Man soll den armen Gefangenen laufen lassen. Um die Sensation noch pikanter zu würzen, befiehlt die hohe Dame, daß die Akademie MadanwvLWroS mft dem Tugendpreise kröne. Eigenartiger noch als die Kontrastjerüng dieser beiden Welten' ist'die Wendung' des Schlußakts. Jetzt, da sie Erfolg gehabt, feiert das Volk, das sie verlachte, die Frau als Heilige. Aber die Kräfte, die sie bis zum Ziele getragen, find nun verbraucht. Aus der Ekstase strömt die weibliche Natur in die gewohnte Bahn zurück. Die alte Liebe zu dem Mann, den sie verlaffen, erwacht aus der Erstarrung. Sie degreift kaum, was sie von ihm fortgetrieben, sie will fortan nur wieder eme treue, gute Gattin sein. Andere stärkere Gewalten haben sich im Volke wider das berghoch gehäufte Unrecht erhoben, daS ihr allein in Gestalt des.Unschuldigen' erschien. Von der Straße her erschallt das Lärmen des BastillensturmS, der Klang der Marseillaise .
Der Ueberzeugungsmut und die Seelenreinheit der, gleich die Schillersche Jungfrau von Orleans, vom Glauben an eine Mission getragenen Frau kam in dem Spiele Lina Lossens zu warm-lebendigem Ausdruck. Auch die Nebenrollen waren in Barnowskys Inszenierung im allgemeinen trefflich besetzt. So die simple Gestalt des Ehemanns durch Z i e n e r, die der puppen- haften Gräfin und des schließlich von der Güte der Frau LegroS bezwungenen HoikavalierS durch Traute Carlsen und Kurt Götz , Eine im engsten Rahmen doch glänzend auSgesührle Porträlskizze bot Jlka G r ü n i n g als alte ftomm gewordene Marquise. ckt.
Deutsches Opernhaus: -Ieuersnot."—»Die glückliche Insel." Nach den mit seiner ersten Oper.Guntram' erlittenen Ent- täuschungen ging Richard Strauß an ein neues Bühnenwerk, die.Feuersnot'. Eine niederländische Sage hatte ihn dazu an- geregt, Ernst von Wol zogen schrieb das.Singgedichl'. Kaum jemand anderer hätte die Aufgabe bester lösen können. Re- solut stellte er das Grundmotiv der Sage auf den Boden All- Münchens und baute es zu einer Handlung in Versen aus. „Kunrad der Ebner', ein kunstadliger Geselle, wird in der Sonn- wendnacht von.Diemut', des Bürgermeisters Tochter, die er liebt, allgemeinem Spotte preisgegeben, indem sie ihn mittels eines Förder- korbeS halb zu sich hinaufziehen, ihn dann aber zwischen Erd und Himmel baumeln läßt. Als nun das Jungvolt vom Sonnwendfeuer- vergnügen wieder stadtein strömt, verlacht es den Genarrten, worauf er, ein Zaubermächliger, alles Feuer und Licht verlöscht. Erst, nach- dem er das Glück der Liebe Diemuts erfährt, flammen mit einem Schlage sämtliche Lichter, wie auch der Scheiterhaufen vor dem Tore bell wieder auf. Gewisse Symbolik ist aber dabei. Oben vom Balkon, wo hinauf sich Kunrad mittlerweile geschwungen, hält er den Münchnern eine Strafpredigt. Wie einst den Meister Reich- hart, einen.hehren Herrscher der Geister', hätten sie später Wagner verjagt und nun auch ihn(Strauß) wegen der Guntram- Oper verlacht. Ueber die Musik kann man nur einer Meinung sein. Strauß, dem von Wagner mit seinen Meistersingern gegebenen Beispiel folgend, schlug durchaus volkstümliche Elemente an. Abgesehen von humorvollen Motiven und Bezügen auf daS Münchener völkische Musilleben k, Bockmusiken' usw.), hören wir gleich eingangs Pracht- volle— nur freilich allzu schwere, daher auch diesmal nicht befriedigend gesungene— Kinderchöre. Alles in dieser Partitur sprüht und glüht und zeugt von heiligstem Künstlerernst. Das Motivische spielt eine gewisse, jedoch nicht lärmend sich vordrängende Rolle. Ganz einzig ist das Flammenmotiv in seiner Einfachheit und Schöne. Bei der Rede Kunrads schwillt die Musik zu feierlicher Wucht und Größe empor. Wäre dem nicht so, müßte Kürzungen daS Wort geredet werden. Die Aufführung war sorgfältig vorbereitet. Julius vom Scheidt als Kunrad und Lotte Stein (Diemut) beherrschten die beiden Haupt- Partien. Das Orchester, geführt von Eduard Mörike , spielte mit hinreißendem Schwung. Von der Sendlinger Gaste hätte aber die Regie schon mehr zeigen sollen, als bloß zwei Häuschen vor dem Tore. Das war ein gar zu ärmlich Bild I Den hierzu im schärfsten stilistischen Kontrast stehenden Beschluß machte ein Singspiel Offenbachischer Prägung. Oskar Blumen- t h a l schrieb die korrekt gebauten, rundllingenden, freilich nicht allzu tiefen GefangStexte. Die„Handlung', vermutlich nach Offenbachs Singspiel„Die Insel Fortunat' gestaltet, wäre ziemlich simpel, wenn nicht Julius Lieb an dem Herzog seinen ganzen erprobten Reichtum grotesk komischer Darstellung verliehe. So kommt— unbeschadet mancher Mutwilligkeit— Leben in die Bude. DaS garantiert den Lacherfolg. Daß Leopold Schmidt(nach Odysteus Heimkehr, dem ersten Versuch) abermals einem verschollenen Werkchen Offenbachs auf die Bühne verhilft, ist lobesam. Ostenbach hat eine große Anzahl von Singspielen und Parodien— Kinder des Gelderwerbs und echtschöpferischer Laune— hervorgebracht, ihrer jedoch, sobald sie Augenblickserfolgen genügt hatten, nicht weiter geachtet. Allenfalls nur insoweit, als er die werlvollsten Orchester- und Gesangsstücke andern seiner späteren Operetten ein- verleibte. Es sind wohl alles erstklassige.Schlager', die hier, wie neu, wieder erklingen: die Couplets, da» prachtvolle Menuett nebst anderen Marsch- und Tanzmusiken. Schmidt hat sie verständnisvoll zusammengestellt. Wieviel vom feinen, bornehmen Begleitsatz auf deS Herausgebers Konto einfällt, entzieht sich der Kontrolle. Unverkennbar ist das Streben nach Sauberkeit. Gleichwohl hätte etwas niehr an pikantem Aufputz dem Ganzen genutzt. Der Erfolg war ein wohlverdienter— auch der Aufführung. ek.
Kostenlose§rühlingsgemüse. Die Zentral-Emkaufsgesellsckast in Berlin W 8 hat im Vorjahre ein kleines Flugichriftchen von Professor Winkel verbreitet. daS jetzt in verbesserter und erweiterter Form erscheint und auch in diesem Frühjahr ganz besondere Beachtung verdient. ES sind dort mehr als 8l) wildwachsende Kräuter namhaft gemacht, die zur Ver- Wertung in der Küche geeignet sind. Beigegebene Illustrationen er- leichtern das Einsammeln. Profestor Winkel, dem man seinerzeit entgegnete, das Sammeln lohne sich für Städter nicht, wie? in der nächsten Nachbarschaft Bauplätze nach, wo ein einziger während des ganzen Frühjahrs für fünfzig Familien wöchentlich ein Freigericht von schmackhaftem Gemüse zu liefern vermochte. Wie zahllos wuchern nun erst Nährpflanzen an Wegen, Waldrändern, Hecken, Gräben, Eisen- bahndämmen und dergleichen. Die Verwendung ist sehr vielseitig. Die jungen Wildpflanzen werden zu Suppen roh als Salat, gekocht als Gemüse verwendet, ferner zur Herstellung von Gemüjeklötzen, Gemüjekartoffelpuffer. Gemüseiülzen, süßen Gemüsespeisen(die schon lange auch in Holland aus Sauerampfer bereitet werden), zur Herstellung von Kräuterbuticr (einer sehr schmackhaften Streckung deS Brotaufstrichs) und von ver- schiedenen Tunken und Soßen. Näheres darüber ist in dem Flugschriftchen„Unsere Wildpflanzen in der Küche' enthalten, das die Zentral-Emkaussgefellschaft voriges Jahr gratis, die neue veränderte Auflage für 10 Pf. abgibt. Auch die Zentralstelle für Hausfrauenvereine Groß-BerlmS, Berlin W 62, Lützowplatz 9, hat ein Gratisflugblatt herausgegeben, in dem eine Anzahl Rezepte enthalten sind. Es werden da z. B. die Zutaten angegeben für ein Gericht Gemüse aus jungem Ginster oder von Löwenzahn und Melde für vier Personen, oder für Salat von Kerbel oder Vogelmiere. Auch werden dort Winke gegeben über die Herstellung von kalten und warmen Getränken aus Wildpflanzen. Da die Kräuter oft starken Eigengeschmack haben und bald bitter(Löwenzahn), bald scharf(Brennestel, Tripmadam, wilder Lauch u. a.), bald sauer(Sauerampfer, Sauerklee), bald würzig (Brunnenkresse, Schafgarbe), bald derb(junger Hopfen) schmecken, so wird die Mischung der Kräuter empfohlen, wodurch der Eigen- geschmack aufgehoben wird. Die meisten Wildgemüse, die stetS nur jung zu sammeln sind, erfordern ein längeres Kochen, wie Spinat. Bittere Kräuter, wie Löwenzahn, tut man erst in siedendes Salz- wasser, schreckt in kaltem Wasser ab nnd legt sie dann noch einen Tag in mehrmals erneutes kaltes Wasser. Mischgemüse empfiehlt sich auch für Gemüseklöße, Sülzen usw. Daß auch Wurzeln, Knospen, Blüten und Früchte verschiedener Wildpflanzen verwertbar sind, ist teilweise bekannt. Der Same von Manna(Gtycisria, fluitans), die Knollen von Johanniswedel(Lpirass, filipendula) und unsere Knötericharlen geben Suppenkorn und Grütze, Erdbeer-, Brombeer- und Stiefmütterchenblätler, Holunder- und Lindenblüten geben Tees. Die Blütenknospen des Holunders, der Sumpfdotterblume und des Ginsters dienen als Ersatz sür Kapern. Sie werden, nachdem sie einige Stunden m Salzwasser gelegen und darin aufgekocht sind, in Essig aufbewahrt.
Rottze». — Die Große Berliner Kunstausstellung kann in diesem Jahre ihre gewohnte Stätte, den Ausstellungspalast am Lehrter Bahnhof , nicht beziehen. Die Ausstellung wird deshalb in diesem Jahre im Kunstpalast zu Düsseldorf veranstaltet. An der Ausstellung werden sich auch die beiden Gruppen der Berliner Sezession beteiligen. — Was ist nun mit Amerika ? Das wurde uns dur� den Wortrag nicht klarer, den der Deutschamerikaner Dr. Darm- staedter in dem Englifch-Deutsch unserer Landsleute drüben hier in der.Urania' hielt. Hoffentlich hat er recht, daß sie auch zwischen Atlantie und Paeifie nicht so heiß essen, wie'Wöodrow-Janus Wilson kocht. Immerhin merkte man an etlichen Bemerkungen, daß der Amerikaner gewohnt ist, ohne die ängstliche Zurückhaltung zu reden, die uns im Blut steckt. Von dem Senator Penrose, der die Rothäute gegen uns mobilisieren will, hörte mau, daß er an einer großen Deckenfabrik beteiligt ist: und wenn der rote Mann auf den Kriegspfad geschickt wird, muß man ihm eine Decke liesern— für Penroses SOv 000 Indianer also 600 000 Decken für Mann und Musterung. Solche Kriegsbegeffterung kommt uns bekannt vor.— Heiter war es auch zu erfahren, wie viel die ameri- kanifchen Studenten nicht wissen. Wird das Volk der Republik mit dieser fröhlichen Unbekümmerlheit fich in den Niagara des Weltwahnsinns stürzen?
Mbeiter.
2] Loil Stij n Streuvels. Berechtigte Uebertragung aus dem Flämischen von Georg Gärtner. .O. wenn ich nur weiß, was drin steht!' „Horch mall" Endlich kam es, ein Wort nach dem andern, heraus: „Libe frau Mansc. Wir sein fertig mit Schncideu wir sein auf dem weg nach unser Baterlant heute abend mit dem Zug und hosen sontag mit dem Zug am bahnhof anzukommen und Hofen euch alle zusameu Manse und alle die Buben gesunt wieder zn, sehen grüßt die Fcrfakes und die Rilants von Scf und Aluwics ade auf Widcrsehn mit Ivo Baikaan deinem Mann Sarel Zeinafe hat dies geschrieben weil ihr sollt wissen daß wir kommen. Gruß Sarel Zeinafe." Die Frau stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es war für Natlie eine schwere Aufgabe gewesen, aus di'cscm Schreiben klug zu werden, aber für Mansc, die Wort für Wort langsam'hatte Heranskommen hören, hatte es keinerlei Schwierigkeiten.?llle ihre Angst war mit einem Male verschwunden. „Ha, die Dummköpfe!" rief sie.„Einen so zu er- schrecken!'s is reine Narrheit, diesen Brief zu schreiben. Sarel Seynaeve hatte seine Künste zeigen wollen; Ivo wär's niemals eingefallen, zu schreiben." „Nun, fetzt weißt du's," bemerkte Natlie, die die Bcdcu- tung ihrer Tat und die Größe ihrer Gelehrsamkeit zur Geltung bringen wollte. Sic faltete das Papier wieder zusammen und steckte es in den Umschlag zurück. „Da 1" „Sei bedankt Natlie, ich bin froh, daß ich Bescheid Hab', denn wenn man nich gelehrt is, jagen einem diese fremden Dinger immer Furcht ein." Auf dem Nachhauseweg fühlte Mause die Freude in sich aussteigen, weil sie nun ihren Manu wiedersehen sollte— weil sie jetzt wußte, was in dem Brief stand, und auch wegen des Briefes selbst— weil sie an sie gedacht hatten— dies schätzte sie besonders. Boll froher Erlvartung eilte sie nach Hause. Schon von
lveitem liefen ihr die Buben entgegen und überhäuften sie mit Fragen. „Vattcr kommt heim!" rief sie. „Vatter kommt, morgen!" Mit einem Schlage fühlten die Jungen, daß sie sich freuen mußten— weil sie den Vater wiedersehen sollten— aber noch viel mehr: weil etwas im Werke war, etwas sich veränderte, über die Uebcrraschung und am allermeisten: weil er etwas mitbringen würde— weil sie nun alles bekommen würden, was die Mutter ihnen schon monatelang versprochen hatte. Alles, was sie ersehnt, alles, was sie gewünscht hatten, war stets abgewiesen oder bedingungsweise zugestanden worden mit den: ständigen Trostwort: „Wenn der Vater mit Geld zurückkommt, dann kaufen wir alles, was ihr wünscht." Kein Wunder also, daß die unerwartete Kunde große Aufregung erweckte, und abermals wurden alle Wünsche aus- gezählt. Für Manse selbst war diese Rückkehr von viel größerer Bedeutung; es war zunächst die Erlösung aus drückender Armut— alles, was sie drei Monate lang für den Haushalt nötig gehabt, mußte aus Borg geholt werden, und schon mit dem Ällernotwendigsten war die Schuld bereits so schrecklich hoch aufgelaufen, daß sie sich selber nicht mehr zu dem Krämer traute und die Kinder schickte, die in aller Einfalt den aus- wendig gelernten Spruch hersagten: „Die Mutter wird bezahlen, wenn der Vatter aus Frank- reich wiederkommt." Den genauen Betrag ihrer Schulden kannte sie nicht, aber sie hatte eine bange Ahnung, das nagende Bewußtsein, daß das, waS in zwei, drei Kramläden des Dorfes auf ihrem Konto stand, ständig anwuchs. Mit einem solchen Haufen Buben braucht man auch so viel, und wenn kein Geld ins Haus kommt, gehen die Schulden wacker in die Höhe. Die Heimkehr Ivos sollte nun ihre Ehre wieder herstellen bei dem Bäcker, dem Bauer und dem Krämer. Diese Heim» kehr würde alles wieder gut machen: Ivo würde Geld mit- bringen und sie würden wieder obenauf sein! Dazu kam noch etwas: daß ihr Manu zurückkehrte, daß Ivo heimkam, nichts weiter I Das pure Verlangen, ihn wiederzusehen, ihn wieder daheim zu haben; die festliche Stimmung beim Einzug, daS Abholen, der Empfang, morgen, am Sonntag! Und die darauf folgenden Tage, den ganzen Winter, würde sie ihn daheim haben, hier im und um das
Haus; sein Gesicht sehen, seine Stimme hören, ihn mit den Buben sich abgeben, ihn in der Hcrdecke sitzen sehen; und mittags bei Tisch die Geselligkeit, der Respekt bei den Buben, abends Besuch, mit dem man schwatzen konnte, das Vertrauen in seine Macht und Meisterschaft, wenn sie nachts zusammen im Bett liegen würden— bei ihr, die sich allein so sehr fürchtete. Sie empfand es als die Befreiung aus ihrer Einsamkeit und aus ihrer weiblichen Wehrlosigkeit. Den ganzen Sommer hatte sie hier gelebt in ihrem Häuslein, das einsam und verlassen im Felde stand. Es war beinahe, wie wenn eine Witwe plötzlich ihren Mann wieder bekommt und sich an- schickt, ihr häusliches Glück in vollen Zügen von neuem zu genießen. Sie sehnte sich nach ihrem Mann, sie hatte ihn schwer entbehrt die ganze Zeit, dazu kam auch die Bewunde- rung, er stieg in ihrer Achtung noch mehr bei dem Gedanken. daß er drüben im Französischen so viele schwere Arbeit ge- leistet, um mit einem hohen Lohn nach Hause zurückzukehren. Sie nahm sich vor, ihn gut aufzunehmen und ihm das Leben angenehm zu machen— ihn tüchtig ausruhen zu lassen, den ganzen Winter durch. „Und du, mein Herzchen!" rief sie plötzlich begeistert und küßte das Kindlcin in der Wiege.„Du hast deinen Vater iroch gar nich gesehn! Wie er sich freuen wird! Morgen darfst du mit." „Wir auch— Ich auch, Mutter?" „Ja, alle zusammen!" Aber über viele Dinge, von denen ihr das Herz voll war, konnte sie mit den Buben nicht sprechen. Sie konnte ihr Gemüt nicht erleichtern, und es war ihr peinlich, ans ihre schmeichelnden Fragen antworten zn müssen, während sie von ihrer eigenen Rührung überwältigt war. Sie mußte ihre Freude mitteilen. Da"fiel ihr ein, daß in dem Briefe auch etwas stand von Vervaecke nnd Rylandt, und die Mutter mußte es doch auch erfahren. „Ha. der Schlaukopf!" dachte sie plötzlich.„Es geschah darum, daß ich es Emma sagen soll und daß sie morgen mit- kommen soll! Er hat sich nich getraut, an sie zu schreiben und nach Hause auch nich! Er ivußte, daß ich es ihr sagen werd'! Er hat nur nicht den Mut, sie zn nennen!" Manse dachte an die Liebschaft des jungen Sehnaeve mit Eulma, ihrer Schwester, die noch daheim bei der Mutter wohnte. (Forts, folgt.)