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Nr. 122 1917
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Sonnabend, 5. Mai
Wilhelm wirö Lehrer. Erinnerungen von P. H> Haupt. In der Küche saßen Böhmers beim Abendbrot. Wie jeden Sonnabends gab es Pcllkariofiel und Hering. Frau Böhmer und ihr dreißigjähriger Sohn Erich aßen einen' ganzen, die sechzehn« jährige Tochter Marie und der vierzehnjäbrige Wilhelm einen halben Hering. Die Familie Böhmer bestand nur aus diesen vier Personen. Der Vater, Maurer Böhmer, war vor fünf Jahren bei einem Akkordbau vom dritten Stockwerk heruntergestürzt und nach viermonatigcm Siechtum, das das geringe Ver- unögen vollends verzehrte, gestorben; die mittlere Tochter war kurz nach ihrer Geburt einer Krankheit erlegen. Mit Mühe verdienten Frau Böhmer, Erich und in letzter Zeit Marie, die auch lange Zeit im Krankenhause gelegen hatte, genügend, den Lebens- unterhalt zu bestreiten. Nur zu einer aus Küche, Zimmer und Kammer bestehenden Wohnung in einer der Mietskasernen im Norden Berlins   langte der Verdienst; die Möbel hatten außer zwei Betten, zwei Tischen, Schrank. Waschständer und sechs Stühlen während Maries Krankheit an den Trödler verkauft werden müssen. Frau Böhmer, eine robuste, aber zerarbeitete Gestalt, mit scharfen Sorgenfallen im Gesicht, warf von Zeit zu Zeit einen ärgerlichen Blick auf Wilhelm, der scheu, mit zitternden Händen seine Kartoffel schälte, dem von Zeit zu Zeit eine Träne die Wange hinunterlief, trotzdem er das Weinen zu unterdrücken suchte. Dann lachte Marie, die ihn lauernd beobachtete, jedesmal frech auf. Erich, der anfangs teilnahmslos bastig gegessen hatte, wurde aufmerksam. DaS Lachen reizte ihn, schon ost hatte er den kleinen Bruder gegen die ihm mißgünstige Scliwester in Schutz genommen..Wat is denn nu wieder," herrichte er sie an.Ach", legte sich seine Mutter ärgerlich ins Mittel.Willem hat wieder mal Raupen in'n Rovp. Lehrer will er wer'». Da is iVn junger Lehrer, der hat ihn uff den Blöd- sinn jebracht. Ick mechle mal wisi'n, ob der det bezahlt?"Ich krieg ja Stipendien." wandte Wilhelm schüchtern ein.Stille biste! Stipendien! Da kannste nich' von leb'n, soville kriegst de nich! Det hat man nu davon, det man'n in Ruhe hat seine Schularbeiten machen lassen. Krüjers Emil hat schon mit zehn Jahren mit- jearbeit't! Und du verlangst woll, det man sich ewich vor dir ab- schind't? Ostern kommste aus de Schule un' denn jehtS zu Löwe. Ruhich!" Sie hatte sich gewaltsam müde geredet, denn es schmerzte ffe sehr, ihren Liebling, dessen Lerneifer ihr schon oft aufgefallen war. zur hoffnungslosen Fabrikarbeit zu schicken, ihn, der körperlich viel zu schwach für schwere Muskelarbeit war.Det mechte den woll so pasf», mal den Herrn zu spiel'n, uns für ihn arbeet'n zu laff'n un' nachher nich anzukicken," höhnte Marie, der Mutter aufmunternd zuplinkend.Halt's Maul! Neidisch biste! Willem is nich so!" riet die ihr aber wild zu, so daß sie furchtsam verstunimte. Das gab Wilhelm Mut:Ich werde ja Nachhilfestunden geben. Ich möchte doch so gerne."Ich mechte kann jeda sag». Kannst doch nich ver- lang'n, det Iva uns noch mehr schin'n. Wa kön'n uns so kaum üba Wasia halt'n." Bitter, hoffnungslos brummte es Erich vor sich hin. Ihn ekelte vor diesem nutzlosen Gespräch, müde setzte er hinzu: »'S hat ja alles keinen Zweck. Mutter, ick jeh schlai'n." Er stand auf, schritt schweren Schrittes zum Zimmer, wo er und Wilhelm in dem einen Bette schliefen. Hastig stand Frau Böhmer auf, sah beharrlich an Wilhelm vorbei. Das Gespräch hatte Wünsche, Hoff- nungen in ihr wachgerufen, die sie nur mehr erbitterten, ver- ärgerten, da sie ihr ihr Elend in grauenvoller Deutlichkeit zeigten. Härter als sonst klirrten die Teller beim Abwaschen; verschüchtert ichlich sich Wilhelm aus der Küche, ging schlafen. Erich lag ganz still, sein unregelmäßiger leiser Atem verriet, daß er noch nicht schlief. Leise, vorsichtig stieg Wilhelm in das Bett und wagte kein Glied zu regen, kaum zu atmen. Desto stürmischer pochte sein Herz, ein dumvfes, bangendes und doch wieder hoffende? Gefühl erfüllte ihn. Erschreckt fuhr er zusammen, als ihn der Bruder mit gezwungen gleichgültiger Stimme fragte:Wie is'n das gekomm'n? Ick meine, mit'n Lehrerwerd'n?" Mit belegter, bebender Stimnre antwortete er:«Ich bin doch schon immer der erste gewesen. Und jetzt hab'n wir seit Ostern bei ein'n jung'n Lehrer. Herrn Böninger, Deutsch  . Einmal hatte er schon ge- sagt, aber so nebenbe i:Böhmer, du müßtest eigentlich was wer'n, wo Du mit'm Kopp arbeiten kannst." Ein andermal hat er jesacht: Was willst Du ei'ntlich werd'n? Als ich sachte, ick soll bei Löwe ansang'n, meinte er. ich glaube nicht, day das für dir passend wäre. Nu' hab'n wir doch denWilhelm Tell  " durchjenomm'n".IS det des mit den Appelschuß?"Ja. ja. Da hab'n wir'n Aussatz
jeschrieben, den hab'n wir gestern zurückgekriegt und ich habeSehr gut" jehabt. Da hat er mich nach der Stunde gerufen und jefragt, ob ich nicht Lehrer wer'n will. Die Schule hat Stipendien zum Austeil'n bekommen, da würde er dafür sorjen, det ich eins bekäme. Ich habe gesagt, ich möchte so gerne Lehrer werden... Aber ich will jetzt jarnich' mehr, ich wer' es Herrn Böninger sag'n... wenn ich nich' kann-- wenn Mutter nich' will-- ich sollte ja Montach Bescheid bring'»." Ganz ängstlich war er geworden und sein Bangen wuchs, als sein Bruder nichts erwiderte. Der aber dachte anWilhelm Tell  ". Die Erzählung Wilhelms hatte Vorstellungen aus seiner Jugendzeit in ihm wachgerufen. Er sah sich wieder als Statist in der Apfel- schußszene als Landsknecht  ; er sah sich in anderen Stücken, erinnerte sich des jungen Seeger, mit dem er immer nach dem Theater nach Hause gegangen war. Er hörte ihn wieder reden von der Schönheit der Theaterkunst, wie er sich freue, daß er einst als Lehrer den Kindern vordeklamieren könne, denn Seeger war ein armer Präpa- rand, der statieren ging, um sich die Klassiker anzusehen und ein paar Pfennige Taschengeld zu verdienen. Mahnend stieg ein warmes Gefühl mit den Erinnerungen in ihm hoch, dasselbe Glücksgefühl, das ihn erfüllt hatte, wenn er. in den Feuerwehrstand gedrückt, die Vorgänge auf der Bühne ver- folgen konnte. Vorwurfsvoll fast drängte sich in sein Bewußtsein, wie er Seeger um seine Zukunft beneidet hatte, wie er sich damals bei den bühnengrellen Menschenschicksalen gesehnt hatte nach unklarem Glück. Warmes Verstehen mit dem Bruder schufen ihm die Bilder der Vergangenheit.   Das war vorbei. Der Unfall seines Vaters war gekommen, er mußte seine Schlosserlehrzcit abbrechen und von früh bis spät in die Fabrik gehen, Geld verdienen. Und nun stand Wilhelm vor demselben Schicksal. Er überlegte... Schon ließ Wilhelm die letzte Hoffnung auf Erfüllung seines Wunsches fahren, schon fühlte er die Tränen kommen, da sprach Erich:Hör mal. Besser ist's doch, wenn de was wirst. Für de Fabrik biste ooch ville zu sckiwach. Ick wer dir monatlich IS bis 20 M. jeb'n. Ick laß... Morjen is Sonntach, ick wer' mal mit'n Lehrer red'n. Weeste, wo er wohnt?"Ja, ja I" In überquellen« der Freude aufschluchzend, lachte Wilhelm leis:Denn is ja alles jut." Schluchzend drückte er sich in die Kissen, fühlte eine schwielige Arbeitshand ihn streicheln, hörte einlullend, gutmütig seines Bruders Stimme:Dummer Junge, dummer Junge, wird schon wer'n."_ Der Hamburger   Dranö. Eine 7S-Jahreserinnerung. Den Himmelfahrtstag des Jahres 1842, den S. Mai, dachten die Hamburger   besonders festlich zu begehen: die erste Eisenbahn in Rorddeutschland, die Hamburg   mit Bergedorf   verband, sollte er- öffnet loerden. Ein strahlendschöner Frühlingstag begünstigte das doppelte Fest. Seit Wochen hatte Ostwind geherrscht, kein Tropfen Regen war zur Erde gefallen,»nd die Tausende von Ausflüglern, die nach der neuen Eisenbahn, an die Ufer der nördlichen Älster, an die Unterelbe oder sonst wohin pilgerten, hatten die denkbar besten Aussichten, nach einem froh verlebten Tage ver- gnügt heimzukehren. Der Tag sollte der schwärzeste Un- glückstag werden, den Hamburg   seit der Schreckensherrschaft Davousts erlebt hat: ein Brand brach aus, der die halbe Stadt in Trümmer und Asche legte und viele Tausende ihrer Heim- stätten beraubte. Bis auf den heutigen Tag ist unerklärt geblieben, wie das Feuer entstand irgendwie brach es in den frühen Morgen- stunden in der Deichstraße aus. Fllür in de Diekstraat I" Der Ruf weckt die Schläfer in der Gegend des RödingsmarkteS. Die Glocken von St. Nikolai sind die ersten, die das Großseuer der Stadt melde», St. Petri und St. Michaelis  , St. Jakobi und St. Katharinen Helsen ihnen bald. Die Spritzenleute kommen an gemächlich: sind sie doch des großen Feuers in der großen Reichenstraße vor 15 Jahren Herr ge- worden, haben sie doch den gewaltigen Brand auf den Versetzen zwölf Jahre sind es her bewältigt! Allein diesmal hat das Feuer fürchterliche Helfershelfer: in der Deichstraße drängt sich Speicher an Speicher; Kampfer und Schellack, Holz nnd Sprit, Zucker und Horn, Oele aller Arten lagern da im Werte von dreien Millionen. Bald brennt all dies lichterloh. Aus der furchtbaren Glut schießen die Feuergarben ringsum und fliegen Millionen von Funken durch die Luft, in das ausgedörrte Holzwerk der Häuser, auf die dickgeteerten Dächer, überall zündend; donnernd platzen in den Speichern die Fässer mit brennbaren Flüssig keilen, und als Feuerströme ergießen sie ihren Inhalt in das fast trocken liegende
Fleth. Es wird zu einem Flammenmehr. Hier muß die Spritzen« Mannschaft weichen, wie die Bewohner der Straße, die schon längst vergeblich versuchen, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen, und jetzt nur das nackte Leben retten. Schon sind die Flammen nach Weste» auf den Rödingsmarkt übergesprungen j sie fressen sich West-, ost- und nordwärts weiter, es brennt nicht eine ganze Straße. es brennen ganze Straßenzüge, es brennt der ganze Stadtteil. Die Neugierigen, die das grausig-schöne Schau- spiel von der Höhe des Nikoleiturmes betrachten, Inüssen den fliegen- den Funken weichen; im Holzwerke des Turmes beginnt es ver« dächtig zu krachen, die vielen Vogelnester der Turmspitze gehen Plötz- lich in Flammen auf, dann wird das Holzwerk zu einer Feuerfackel, der Kupferbeschlag beginnt zu schmelzen, eine gewaltige Flammen- säule ragt anstelle des Turmes, weithin sichtbar, grünlich schillernd vom brennenden Kupfer, empor, die Glocken schmelzen, gegen 3 Uhr abends bricht der Turm in sich zusammen, überschüttet das Kirchen« schiff und die benachbarten Predigerhäuser mit Trümmern und Feuer, und so wird die ganze Kirche und ihre Umgebung zu einer Riesenlohe, die über die ganze Stadt die verderbenden Funken sprüht. Weiter und weiter verschlingen die Flammen die Häuser. Schon scheint der Katharinenturm in Gefahr, da springt der Wind nach Westen um, und die Kirche ist gerettet. Das Feuer wählt an seiner statt andere Opfer. Nachts ist die alte Hansestadt vom Feuerschein taghell erleuchtet, und weithin in die Umgebung sieht man in Dörfern und Städten den Riesenbrand. Und man hört ein Donnern aus der Stadt, als sprächen Geschütze. Die Hamburger  suchen der Feuersbrunst Dämme zu setzen, indem sie große Häuser, ja ganze Häuserzüge sprengen. Die Kanoniere der Bürger- artilierie schleppen zentnerschwere Pulverladungen in die Häuser des JungfernstiegeS. Viele Gebäude springen in die Luft, auch das Rathaus, aus dem man in aller Eile die wichtigsten Urkunden in die Michaeliskirche geschafft hat, geht so zugrunde. Allein, was auch geopfert wird, das Feuer überspringt die Dämme von Trümmern. Wieder dreht sich der Wind. Jetzt treibt er die Glut vom Jungfernstiege auf die Petrikirche zu. Am Morgen des dritten Brandtages sucht man durch neue Sprengungen das Feuer von ihr fern zu halten: Vergeblich hoch durch die Luft fliegen Funken in das Holzwerk der Spitze, und gegen 10 Uhr abends erleuchtet sie als helle Riesenfackel die Nacht. Stärker und stärker wird der Wind; eine dritte Kirche, die zierliche gotische Gertrudenkapelle fällt den Flammen zum Opfer. Jetzt scheint die Wut der Flammen gestillt; der Wind treibt sie der Alster zu, in deren Fluten sie erlöschen. Brands Ende, so heißt bis auf den heutigen Tag die Straße, da der Brand sein Ende nahm. Drei Tage hat die Stadt in Flammen gestanden. Noch eine Woche später waren die Spritzen im Gange, um die letzten Brände zu löschen, lieber 1200 Häuser waren verbrannt, über 20 000 Menschen, ein Achtel der Bevölkerung, waren obdachlos, an die hundert Millionen Mark Wert waren durch das Feuer vernichtet. Die Hanseaten aber ließen den Mut nicht sinken. Schon am zweiten Tage des Brandes begann am neuen Jungfernstieg ein Hilfsbureau für die Abgebrannten zu sorgen. Reiche Hamburger   waren die ersten, die sich der Notlage ihrer Mitbürger annahmen; alle deutschen Staaten halfen der schwer getroffenen Stadt. Selbst aus dem Auslande kam Hilse. Für Speise, Trank und Kleidung sorgten zunächst die Nachbarorte; große Geldbeträge kamen von überall her zusammen, zunächst erbaute man Barackenstraßen für die Obdachlosen, allmähliich räumte man die Stätte der Verwüstung auf, dann ging man rüstig an den Wiederausbau und im Laufe von einigen Jahren entstand aus der Asche ein neues Hamburg   mit prächtigen Bauten und ragenden Türmen zwischen Elbe   und Alster  . Notizen. Das Reinhardt-Ga st spiel wurde in Stock- h o l m mit.Othello' und S lrindbergsGcspcnstersonate" mit starkem Erfolge eröffnet. Der König   derBohömeistmit Danny Gürtler   ge- starben. Er hat sich selber dazu ernannt. Vor ein paar Jahren zog er mit großem Trara durch die Lande und wußte seine mannigfachen Talente in Kabaretts an den Mann zu bringen. Er klopfte den Spießern die Pelze aus. Heinrich Heine   wollte er ganz allein ein Denkmal setzen und die Arbeiter bedachte er mit Vorliebe. Dann wurde es plötzlich still mit ihm, er hatte inzwischen mit Irren- anstalten Bekanntschaft machen müssen und nun ist der fahrende Sänger sang- und klanglos in Berlin   dahingeganzen erst 41 Jahre alt.
Arbeiter.
Von Stijn StreuvelS  . Emma hatte schnell ihren Liebsten erkannt, und von Aus regung überwältigt, vergaß sie ihre Schüchternheit, steckte den Arm durch das Gitter, um zu winken, und rief mit freudiger Stimme seinen Namen: Sarel!" Manse erkannte alle Männer; bei jedem neuen Gesicht. das sie in der Gruppe geivahrte, nannte sie im Stillen einen Namen, und dann suchte sie in der Gesellschaft weiter nach Ivo. In ihrer Aufregung und Ungeduld, ihn zu finden. hatte sie schon zweimal einen Mann angeschaut, der ihr fremd schien und doch bekannt, mit dem sie sich aber nicht zurecht finden konnte er hatte einen braunen Bart und trug einen Schlapphut, dessen Krempe ihm über die Augen hing sie hatte keine Zeit ihn näher zu betrachten, und suchte weiter in der Gesellschaft der Zurückgebliebenen. Aber als dieser Mann dem Pförtchen näher kam, durch das sie alle der Reihe nach mußten, um bei dem Beamten ihre Fahrkarte abzugeben, sah sie ihm in die Augen und hatte ihn im Augen- blick erkannt. Ha!" rief sie, wie jemand, der plötzlich vor einer Erscheinung sieht, die Enttäuschung hervorruft. Ha, wie häßlich! Schau nur. Emma, ich Hab ihn nich erkannt er hat seinen Bart wachsen lassen!" Und indem sie plötzlich wieder ihre Freude äußerte, weil auch er sie erkannt und ihr zugelächelt hatte, rief und winkte sie: Gu'n Tag, Ivo I Willkommen! He, Jungens, der Batter is da!" Sie eilte vom Gitter weg. um rechtzeitig beim Pförtchen n sein, aus dem die Männer herausquollen. Dort, sogleich beim Heraustreten, war das Zusammen- reffen. Die Begrüßung bestand aus einem glücklichen Lächeln, einem Gruß und einem kräftigen Händedruck. Bei diesen Leuten, denen nichts angelernt ist und die frischweg ihre Ge- fühle äußern, ist der Händedruck nicht zu einer alltäglichen Gewohnheit oder zum Mißbrauch einer Höflichkeitsform ge- worden, man tut es höchst selten und nur bei der Rückkehr nach langer Abwesenheit oder bei großen Lebensereignissen, wenn man tiefbewegt ist. Darum behält dieser Händedruck beim Wiedersehen alle Kraft des Ausdrucks, der Herzlichkeit und der Freude. Andere verfeinerte oder erkünstelte Gefühlsäußerungen kamen hier bei der Begegnung ebensowenig zur Anwendung,
manchmal blieb man schon nach einem einzigen Wort wieder stecken der bewundernde Blick sagte das übrige, wenn man keine Worte mehr fand; erst als die größte Bewegung gewichen war und man sich an den Anblick des Zurück- gekehrten wieder gewöhnt hatte, brach die Sturzflut von Fragen und Mitteilungen los; andere benahmen sich vom ersten Augenblick an, als ob nichts geschehen sei, in dem Be- wußtsein, daß man noch Zeit genug habe, das Versäumte einzuholen. Ich Hab Dich nicht erkannt mit Deinem häßlichen Bart, Ivo, warum tust Du das?" sagte Manse mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. Ivos brummende Antwort verlor sich in seinem dunkeln Bart. «Wie geht's?" fragte er.Und die JungenS?" Schau, hier!" rief sie und zeigte ihm das Kindchen, das sie auf dem Arme trug. Ei.'s is ja wahr," sagte Emma,Du hast Dein Bübel noch gar nich gesehn." Nee, is es'n Bübel?" Ein hübsches Kindchen, ntch wahr?" Is es gut abgelaufen?" Gut! Ha,'s is schon längst vergeffen.'n tüchtiger Lursch, he?" Die anderen Buben sollten auch herankommen, aber sie standen schüchtern vor dem bärtigen Mann, der wie ein Räuber aussah sie erkannten ihren Vater nicht mehr, und ganz zaghaft reichten sie ihm von weitem die Hand hin. Ivo sah sich um, sein Name wurde gerufen. Es waren Männer, die Abschied nehmen wollten. Hier auf dem Bahn- Hofsplatze standen sie noch in einer Herde beisammen, mit Weibern   und Buben zwischen sich, aber nun mußten sie sich entschließen und auseinandergehen. Nach- langem Hin- und Herrufen, Weigern und Zaudern willigte man endlich ein, den Abschiedstrunk in der Kneipe an der Ecke zu nehmen. Den guten Trunk ihrer Heimat hatten sie in der Fremde lange entbehren müssen, und nun tat es ihnen doppelt wohl, die großen Pinten zu sehen und das kühle, schäumende Bier in vollen Zügen in die Kehle zu gießen. Die Weiber und Kinder mußten mittrinken, und mit breitem Schwung wurde das Geld auf die Schcnkblätter oder auf den Marmortisch geworfen. Die Kneipe war von Leuten gefüllt, und es war ein Gelage wie bei der Kirmeß. Die aufgeregten Männer gerieten jetzt noch mehr in Feuer: jetzt tvaren sie wieder in ihrem Element, wieder bei ihren Bekannten und beim Bier I Aber neben diesem aufmunternden Gefühl war noch etwas anderes, und das wollten sie vertreiben, ertöten, über-
schreien nicht mehr dran denken... Sie hatten sich so sehr nach dem Ende der schweren Arbeit gesehnt; sie hatten da- nach gelechzt, wie nach einer Erlösung, um wieder daheim zu sein, aber unbewußt war in ihrer rauhen Männerbrust das Gefühl der Gemeinsamkeit entstanden, und zeitweise bekam eine Empfindung die Oberhand, die ihr Gemüt mit Groll und Bedauern erfüllte wenn sie nun von hier aus zurückdachten an die schwere Arbeit da drüben, erinnerten sie sich nur noch der Schönheiten davon, des Zusammenseins mit Bekannten im fremden Lande der Brüderlichkeit der Arbeiter in der fremden Umgebung, wo sie durch die gleichen Interessen zusammengehalten wurden. Dann hatten sie zusammen die ganze Lustigkeit der weiten Reise genossen das Lachen und Jubeln, das Singen und Anstoßen es war die reine Kirmeß gewesen im Zuge... und wenn sie jetzt daran dachten, daß es vorbei war, daß sie scheiden mußten und jeder wieder auf sein eigenes Dorf ziehen würde, fühlten sie Groll und Trauer in sich auf- steigen. So lauge sie beisammen getvesen waren, hatten sie nicht darauf geachtet, sie hatten zusaminen über die Arbeit gesprochen, über ihre Tätigkeit zu Hause; während sie bei der Arbeit waren, dachten und taten sie alles gemeinsam, wie die Eroberer, die in dichter Schar zusammen für das gleiche Ziel kämpfen: sich abrackern, um einen großen Lohn zu erzielen und viel Geld nach Hause zu bringen. Sie er- langten das gemeinsame Gefühl des Stolzes und unermüd- licher Arbeitskraft- keiner wollte hinter dem anderen zurück- bleiben... und so war allmählich und unbewußt die Freundschaft und die Zuneigung entstanden. Dieses gegen- seitige Gefühl hatten sie nicht in schönen Worten oder durch zarte Umgangsformen geäußert; äußerlich waren sie rauh geblieben in ihrem Tun und ihrer Redeweise, aber sie nannten sich gegenseitig mit Spitznamen, und wenn ein Schelt- oder Schimpfwort oder eine Drohung fiel, war in dem Tone etwas beinahe Unmerkliches, das die Bedeutung des rauhen Wortes milderte. Zur Verteidigung ihrer Interessen waren sie niemals gemeinsam aufgetreten daran dachten sie nicht alle waren sich einzeln der Kraft ihrer Arme bewußt sie wußten, daß sie ihren Teil verrichteten, und wenn sie dann auch ihren Teil bekamen, war es genügend. Aber im übrigen ivarcn sie sehr wohl bereit, etwas für einander zit tun, und es geschah zuweilen, daß der eine dcni andern behilflich war, wenn es mit der Arbeit haperte; besonders aber gegen Fremde ertrugen sie nicht, daß auch nur die geringste verletzende Anspielung gegen einen Kameraden gemacht wurde. Das wurde im Augenblick Hand- greiflich gerügt.(Forts, folgt.)