ttr. 170 ♦ 34. Jahrgang
t* Seilage öes Vorwärts
Sonntag, 24.�unll417
Die neue Neichsgetreiöeorönung für Sie Ernte 70? 7. Beschlagnahme aller Getreibeartev.—©rohere Heranziehnvg des Handels.— Erweiterte MachtdeHugnisie der verbände. Der Bundesrat hat in sein« letzten Sitzung dem Eni- wurf einer Reichsgetreideordnung für die Ernte IS 17 seine Zustimmung erteilt. Die Erfahrungen de» letzten Wirtschaftsjahres liehen es geböte« erscheinen, im kommenden Srntejahr nicht nur das B rotgetweid e, sondern auch Gerste, Hafer, Hülsenfrüchte, Buchweizen und Hirse re st- los zu beschlagnahmen, diq'e Früchte durch eine Hand zu erfassen und sie durch e i n e O r g am i sa t i o«, die ReichSgetreide- stelle, zu bewirtschaften.. An dem bisherigen Shsstem der Erfassung de» Brotgetreides, das auch auf die übrigen Früchte ausgedehnt worden ist, ist grundsätzlich festgehalten: die Lieferung der Früchte wird künftig wie bisher entweder durch den Kommunal- verband als Selbstlieferer oder durch die Kommissionäre der Reichs- getreidestelle, bei deren Bestellung der Kommunalverband mitzu- wirken hat, erfolgen. Dabei ist die Selbstwirtschaft der K o mm unalverbände auf diejenigen Kommunalbestände b e- Schränkt worden, die nach den Erfahrungen der Erntejahre ISlö und 1916 voraussichtlich zur Versorgung ihrer Bevölkerung bi» zum 15. März 1918, also neun Monate, ausreichen: die Lieferung be- fchlagnahmter Früchte durch den Kommunalverband an die Reichs- getreidestelle als Eigenhändler(Selbsstlieferung) wird ferner nur den selbstwirtschaftenden Kommunalverbänden und auch diesen nur dann gestattet, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen, insbe- sondere eine kaufmännisch eingerichtete Geschäftsstelle unterhalten, für den Einkauf mindestens zwei Kommissionäre bestellen, die gegenseitig in Wettbewerb treten und die Kommissionsgebühren restlos überwiesen erhalten, ferner der Reichsgetreidestelle wöchent- lich eine genaue Nachweisung der eingekauften Mengen«insenden. Selbstwirtschaft wird eS übrigen» nur b e i Brotge- treibe und in gewissem Ilmfang zweck» Bewirkung de» Futter- ausgleichs bei Futterge-treide geben: der Aufkauf von Hafer und Gerste zur Nährmittel» und Bierherstellung auf Grund besonderer Bezugsscheine wird nicht mehr statt- finden, die Zuweisung geeigneter Qualitäten für diese» Zweck wird vielmehr ausschließlich Sache der Reichsgctreidestelle sein. Dem Handel w'rd künftig eine größere Betäti. gungsmöglichkeit als bisher gegeben sein. Die bezüglichen Verhandlungen mit den amtlichen Handelsvertretungen nähern sich dem Abschluß. Um die Kommunalverbände in den Stand zu setzen. den ihnen obliegenden Pflichten zu genügen und für die Abernwng, den Ausdrusch und die Ablieferung der Früchte Sorge zu tragen, find ihnen gegenüber dem bisherigen Rechte wesentlich er» wetterte Machtbefugnisse«ingeräumt worden. cntspechend den schon für den Frühdrusch vorgesehenen Maßnahmen: namentlich können sie erforderlichenfalls zur Erfüllung ihrer«er- pflichtungen alle in ihrem Bezirke vorhandenen landwirtschaftlichen Gerate und Betriebsmittel jeder Art, also auch, soweit nicht die besonderen Anordnungen d«S Kohlenkommissars entgegenstehen. Kohlen m Anspruch nehmen. Die Pflicht des Kommunalverbande-, für die Ablieferung der in seinem Bezirk angebauten Früchte zu sorgen, ist zu«mer Haftung fiir die Ablieferung in der Art der- dichtet worden, daß der Kommunalverband eine Kürzung der für seine versorgungsberechtigte Bevölkerung und seine Selbstversorger festgesetzten Verbrauchsmengen an Brotgetreide. Mehl und Nähr- niitteln zu gewärtigen hat, wenn er e» etttu schuldhaft unterlassen sollte, seinen Lieferpflichten rechtzeitig zu genügen. Die Feststes. lung der Lieferpflichten soll auf Grund der im Sommer stattfinden. den Erntcschatzung und der früher vorzunehmenden Nachschätzungen erfolgen. Dabei sind die festgesetzten Mengen innerhalb der be- stimmten Fristen, die darüber hinaus verfügbaren, also die sonst schon ausgedroschenen oder durch die Festsetzung nicht erfaßten Mengen, jeweils sofort nachdem sie lieferbar geworden sind, der Reichsgetreidestelle zur Verfügung zu stellen. Dieser Haftung des Kommunalverbandes mit ihren Folgen entspricht eine Haftung der Gemeinden gegenüber dem Kommunalverbande und eine Haftung der ein- z einen Erzeuger gegenüber der Gemeinde oder, wo die Umlage durch den Kommunalverband unmittelbar auf die Er. zeuger vorgenommen wird, der letzteren gegenüber dem Kam-
munalverbande. Die Folgen der Haftung sollen insoweit nicht eintreten, al» die Unterlassung rechtzeitiger und vollständiger Ab- lieferung<nif einen llmstmtd zurückzuführen ist, den ein abliefe- rungSpflichtiger Betriebsunternehmer nicht zu vertreten hat, iu?- desondere also, soweit der Ausdrusck infolge Kohlenmangels nicht möglich war oder Vorräte nachweislich ohne fein Verschulden zu- gründe gegongen find. Die Grundlage für die Ueberwachung der Er- fasfung werden die Wirtschaftskarten bilden, die für jeden landwirtschaftlichen Betried bei dem Kommunalver- bände, wahlweife auch bei der Gemeinde zu führen sind. Den Kommnnalverbänden und Gemeinden wird durch die Neu- vegelung eine erhebliche Mehrarbeit auserlegt. Zu ihrer Erfüllung sollen in möglichst großem Umfang die Lehrkräfte sowie Hilfsdienst- Pflichtige herangezogen iverden' die Verbände sollen ferner zur Erfüllung der erweiterte« Aufgaben durch Gewährung von Zu- schüssen auS den Mitteln der Reichsgetreidestelle instand gesetzt werden. Hierbei ist in Aussicht genommen, die Zuschüsse nicht nur nach der erfaßten Menge, sondern auch nach der Zahl der geführ- ten Wirtschaftskarten zu bemessen. Dem Kommunalverbaud ist die Möglichkeit gegeben worden, KveckS rascher und nachdrücklicher Durchführung der gesetzlichen Vorschriften, namentlich der B e- kämpfnng des Schleichhandel», Vorrät«, die einer gesetz- lichen Vorschrift zuwider hergestellt oder in den Verkehr gebracht werden, ohne Zahlung einer Entschädigung zugunsten der Reichs- getreidestelle für verfallen zu erklären. Ueber die Mengen, die die Landwirt« au» ihren selbstgebauten Früchten zur Ernährung d« Selbstversorger, zur Fütterung de? im Betriebe gehaltenen� Vieh» und zur Bestellung der zum Betriebe gehörenden Grundstücke verwenden dürfen, konnte in der Verord- nung ebensowenig etwas gesagt werden wie über die Mengen von Brot und Mehl, die der einzelne Verbraucher im kommenden Ernte- fahr zugewiesen erhalten wird. Dies alles hängt vom Ausfall der Ernte und von den Forderungen für Heereszwecke ab und kann daher erst später festgesetzt werden. Hierbei wird auf die Sicherung der Aufrechterhaltung der landwirtschaftlichen Erzeugung durch ausreichende Ernährung von Mensch und Tier entscheidender Wert gelegt werden. Die Erntevorschätzungen. Amtlich wird mitgetteilt: -Die Ergebnisse der Ernte der wichtigsten Nährfrüchte bilden die Grundlage unserer Ernährungspolitik. Der ganze Verteilungs- plan kann nur aufgestellt und die für die Sicherung unserer Volks- ernährung notwendigen Maßnahmen können nur getroffen werden, wenn wenigstens in großen Zügen ein einigermaßen zuverlässiger Ueberblick über die zu erwartende Erntemenge gewonnen ist Ilm diesen notwendigen Ueberblick so rasch wie möglich zu erhalten, hat der Bundesrat, wie bereit» im vorigen Jahre, ein« Erntevor- s ch ä tz u n g der für die Volksernährung besonders wichtigen Feld- früchte angeordnet. Diese findet für Brotgetreide unbs Gerste im Juli, für Hafer im August und für Hülsenfrüchte, Kartoffeln, Zuckerrüben, Runkel- rüben, Kohlrüben, Herbstrüben, Möhren und für Weißkohl Ende September und Anfang Oktober statt. Da» Kaiserliche Statistische Amt soll bi» zum 1. August bzw. 1. September und Id. Oktober im Besitze der Zahlen der Vor- schätzung sein. Die Durchführung der Erntevoisschätzung wird in der Weise erfolgen, daß für die einzelnen Gemeinden durch S a ch- verständige und Vertrauensleute Durchschnitts- tektarerträge festzustellen sind. Di« gesamten rntemengen sind dann auf Grund der Angaben der vor kurzem angeordneten Ernteflächrnerhebung zu berechnen.' » Mit Rücksicht auf die bereit» beginnende Gerfienernie gibt das KriegSernährungSamt bekannt: .Durch die neue Reichsgetreideordnung vom S1. Juni 1S17 ist die Serst« allgemein beschlagnahmt. TS können also von den Landwirten nicht, tvie im abgelaufenen Jahre, bestimmte Mengen zurückbehalten oder freihändig veräußert werden, auch nicht zu Saatzwecken. Der Handel mit Saatgerste wird durch die in der ReichSgetreideordnung vorbehaltene, d e m n ä ch st er- scheinende Verordnung über den Verkehr mit Saatgut geregelt werden. Bezüglich der Sommergerste, insbesondere wegen der den Landwirten zu eigenem Verbrauch zu überlassenden Mengen, wer- den ebenfalls noch besondere Bestimmungen ergeben."
GroMerlw Großstaötkinöer. Sie war immer etwas blaß, die Blüte der Großstadt- Menschheit, besonders die Nachkommenschaft des Proletariats, der kein Seewind oder die herbe Luft oberbayrischer Sommer- frischen wenigstens einmal im Jahre Rosen auf die Wangen zauberten. Die Sonne hat es nicht leicht, in den Steinhaufen der Riesenstadt einzudringen und über zahllosen Winkel« und Schächten brütet der Alp ewiger Dämmerung. Der Dunst des Werkeltages hängt schwer über den ozonhnngrigen Lungen der Kinder, deren einzige Tummelplätze die Straße und muffige Hinterhöfe sind. Die Straße ist meist auch ihre einzige Erzieherin und gibt ihrer Psyche die eigene Richtung: sie sind neugierig und dreist wie die Spatzen, zudem frühreif dcmo- kratischen und kritischen Sinnes— und allzeit mit dem Munde vorweg. Haben sie dazu noch einen Schuß Berliner Lokal- Patriotismus und großstädtischer Ueberlegenheit im Blute, so mag es begreiflich erscheinen, daß sie den Herren Pastoren, die sich im.Rcichsboten" und in der„Deutschen Tages- zeitung" über die Wildheit der auf dem Lande untergebrachten Berliner Kinder beklagen, nicht in den Kram passen. Man vermißt den demütig dankbaren Augenaufschlag, den die Herren Landwirte angesichts ihres heroischen Opfers doch zum mindesten verlangen können. Vorerst: Die christliche und deutsche Gesinnung der Herren Landwirte und Pastoren dürfte sich doch kaum der Tatsache verschließen, daß die Unterbringung in der Hauptsache bezweckt, einer drohenden körperlichen Verelendung unserer städtischen Jugend vorzubeugen— nicht zum wenigsten im Interesse künftiger Wehrkraft, für deren Erhaltung utid Benützung gewisse agrarische Kreise ja so lebhaft plaidiercn— selbst unter Verzicht darauf, daß damit eine sittliche Veredelung der Land- jugend in ihrem Sinne verbunden ist. Vielleicht kommen sie auch bei tieferer Betrachtimg des Problems zu Gedanken- gängen, die ein besonderes Licht über ihre Meinung von der sittlichen und ertüchtigenden Kraft deS Krieges werfen— vielleicht versagt der Himmel ihnen die Einsicht nicht, daß die baldige Heimfahrt der Männer auS dem Kriege, daß �ic Er- lösung der Mütter aus der zermürbenden Onal der Schwer- arbeiter auch ein Krtegsziel ist, worüber sich reden läßt. Vielleicht empfinden sie den Vorwurf, der aus den dürftigen Körpern und den umschatteten Augen der Kinder spricht und auS ihren eigenen Anklagen auf sie zurückfällt, daß sich sowohl ihre Duldsamkeit wie ihr VerantwortungSgefithl stärke. — Aber man soll nicht zu viel erwarten. Denn die Ab- neigung gegen die Großstadtkinder hat noch andere Gründe als die vorgegebenen, und iver zwischen den Zeilen lesen kann, der merkt die Absicht— und ist verstimmt.
Gemüsehändler ans der Warenjagd. Die Knappheit de? Angebots von Gemüse hat in Berlin nicht nur für die verbrauchende Bevölkerung zu sehr unerfreulichen Zuständen geführt. Auch der Kleinhandel senkt und klagt über die bei der Warenbeschaffung sich täglich wiederholenden Unannehm- lichkeiten, mit denen er infolge der Gemnseknappheit zu kämpfen hat. Wenn unser« Hausfrauen im Gemüseladen ihr Gemüse kaufen wollen, kostet das gewöhnlich eine harte Geduldprobe und nick: selten müssen sie noch Grobheiten einstecken. Aber die meisten ahnen nicht, waS der Kleinhändler selber hat durchmachen müssen, ehe er sein bißchen Ware zusammenkrieate. Auch Großhändler und Produzenten wissen, daß sie„jetzt nicht nötig haben, den Abnehmern nachzulaufen." Wie es in den Grünkramläden den sich drängenden Kundinnen ergeht, genau so und oft noch schlimmer ist man ein paar Stunden vorher in der Zentralmarkthalle mit den kleinen Händlern bei ihren Einkäufen umgesprungen. Für sie beginnt die Jagd nach Ware im Dunkel der Nacht, und wenn sie nach vielstündigem Warten und Drängen und Hasten endlich im hellen Tageslicht heimlehren, haben sie ihrer Kundschaft oft leider wenig zu bieten. Wir haben schon vor einigen Tagen darauf hingewiesen, wie zur Nachtzeit die Zufuhren bereit» vor der Berliner Zentralmarkt- halle, auf Vorortmärkten und sogar auf den Landstraßen abgc-
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Der starte Mann.
Eine schweizerische Offiziersgeschichte von Paul Jlg. „Versteht sich, lieber als bei Zeiten die Vermmft walten zu lassen!" hörte er den Schulmeister noch zetern. Die beiden -Obersten schienen überhaupt kein Gewicht auf seine Worte zu legen. Vermutlich hatte Erismann seinen Standpunkt dem lenkbaren Platzkommandanten bereits gshörig klar ge- macht. Von dieser Seite war also nicht auf Beistand zu rechnen. Lenggenhager wäre kaum mehr in Erstaunen ge- raten, wenn der„siegreiche" Pöbel seine Auslieferung gefor- dert und durchgesetzt hätte. Ihm tat es nur wohl, sich ein solches Handgemenge auszumalen. Einer gegen tausend! Gerade darnach trug er jetzt Verlangen. Welle um Welle überschlug sich in seiner Brust, und jede erzeugte wieder das gleiche glühende Gefühl: Recht muß Recht bleiben, und wenn alle gegen dich aufstehen I Nach einigen Minuten betrat er neben seiner Dame die kleine Winkelgasse hinter der Zunft, von wo die beiden auf Umwegen unbehelligt nach der Seestraße gelangten. Ren-e Steiger hatte den Kragen ihres Pelzmantels aufgeschlagen. Vom Gesicht waren nur die Augen zu sehen. Wer sie mußte sich im Gehen fest auf seinen Arm stützen. Wenn vom Markt- platz, wo die Polizei endlich aufzuräumen begann, wieder ein hundertstimmiges„Hoool" herllberschallte, schüttelte sich die Patrizierin vor Furcht, als erinnerte sich ihr Blut aller grausamen Volksaufftänd« und Abschlachtungen vergangener Zeit. Sie fühlte«bei auch, daß der entschlossene Mensch an ihrer Seite von einem r»mantischen Beschützergeist durck- drungen war und nicht zögern würde, sein Haupt für sie auf den Richtblock zu legen oder sich in Fetzen reißen zu lassen. Forderte die Zeit solche Opfer nicht mehr— der Mut hierfür mußte dem Manne dennoch aus den Augen schauen. Das war es! Nie konnte Adolf Lenggenhager als Schirmer der- sagen. In Feuers- oder Wassersnot, in jeglicher Lebens- gesahr durfte sie dem starken Arm, auf den sie sich stützte, trauen. Seltsam erregt durch den Gleichtakt der Schritte, warm an den Begleiter geschmiegt, fühlte sie in ihrer furch:- bewegten Seele schnell ein Gefühl dankbarer Zuneigung auf- steigen, die sucht, ihm den verborgenen Garten liebender
Fraulichkeit unverstellt zu erschließen. Noch nie hatte sie der trauliche Lampenschein hinter flockenumwirbelten Fenstern so bezaubert, noch nie hatte sie so wie heute die Verlockung eines eigenen Herdes verspürt. O, jetzt von feinem Retter- willen aufgehoben und fortgetragen zu werden— fort auS dieser Welt des Aufruhrs in eine glückumftiedete Heimlich- keitl Der Wind zischte bedrohlich in den engen Gassen, die Gaslaternen flatterten, zuckten, wimmerten, die Wolken hingen wie schwarze Euter eines Riesendrachens auf die Dächer herab, und wo unter einer Tür oder an einer Straßenecke Menschen zusammenstanden, schienen sie über Raub und Totschlag zu tuscheln. Oft mußte Ren�e sich umsehen, ob niemand hinter ihnen herschleiche. Sie atmete erst wieder auf, als die Altstadt, das Spinnennetz unheimlicher Gassen hinter ihnen lag, die Straßen breit, übersichtlich wurden und Wohlstand ankündigten. Adolf Lenggenhager merkte nichts von dieser herzhaften Wandlung. Ihn trieben Haß und böse Zweifel vorwärts. Wenn er beim Anblick herumstreifender Burschen in die Man- teltasche fuhr und seine Hand ein gewisses Etwas umschloß, wäre die Begleiterin vom Ausdruck seiner Züge schwerlich erbaut gewesen. Er dachte:„Wie anders sah das Leben gestern mittag aus!" Dann stieß er auf der. traurigen Befund, daß es für ihn am besten wäre, sich Hals über Kopf in den Strudel der Volkstollheit zu stürzen und solange blindwütend dreinzuhauen, bis er selbst den Todesstreich empfing. Der Wind schrie es ihm ins Ohr. und die flackernden Lichter forderten ihn dazu auf. War das nicht männlicher als diese Flucht durch Hintertüren und Winkelgassen, um am kommen- den Morgen die erduldete Schmach in allen Zeitungen zu lesen?„Ueber hundert Offiziere von einer rasenden Volks- menge auseinandergesprengt— Dazu die nähern Um- stände.... Ein Gelächter für die ganze Welt!„Die Söhne Mars' beim Volk der Hirten I" konnte die Ueberschrift lauten. Was mochten erst die deutschen Musiker ihrer Gar- nison für einen Bericht über diesen Ehrenabend der Treu- städter Offiziere geben! Mitunter empfand der weißbuschige Reiteroffizier ein tolles Verlangen, seinen Degen zu zer- brechen und sich die Uniform vom Leibe zu reißen. „So eine Schändlichkeit ist überhaupt noch nicht dage- Wesen. Der ganze Stand beschimpft, das reinste Kasperle- Theater!" knirschte ac, üie Mgen wie ein Betoakener rollend i
und vor dem Klang sein« eigenen Stimme erschauernd.„Es war ja unbezahlbar.... Zuerst der halbbatzige Hymnus auf die einträchtigen Eidgenossen-- dann der klotzige Segen von unten. Und wir wie ertappte Glücksspieler nach allen Windrichtungen onseinandergefahren. Der rote Klüngel kann sich freuen!" „Was blieb uns weiter übrig? Wir konnten doch nicht gut im Treppenhaus und in der Küche weitertafeln. � Ach. wozu sich lange darüber ärgern. Es ist jetzt schon einmal so!" versetzte Renex, die nichts bedauerte, sondern nur darauf bedacht war, bald unter das schützende Dach zu kommen. Daß er es nicht spürte, wie nahe sie ihm war! Allein er war jetzt keiner zarten Regung fähig. In ihm kochte eine wahre Hölle von Wut. Nur der Krawall beschäftigte ihn noch.„Aber stellen Sie sich vor," fuhr er fort,„daß die Kaserne von oben bis unten voller Leute steckt. Hundert Mann mit anfge- pflanztem Bajonett hätten geniigt, um den ganzen Markt abzusperren. Bloß ein klarer Manneswille war nötig. Ein Platzkonimandant, der dem Polizeihänptling kategorisch erklärte: ,Das ist ein Komplott gegen den Offiziersstand. Verfassung hin, Verfassung her. Ich stelle Militär hin und nehm's auf meine Kappel' Da hätten Sie sehen sollen, wie ruhig unser Abend verlaufen wäre. Aber einer wie der andere verkricht sich vor den bundesrätlichen Paragraphen- Wächtern. Sie sagen, in Friedenszeiten müsse man sich eben nach der demokratischen Decke strecken; im Ernstfalle werde man dann schon andere Saiten aufziehen. Ja, können vor Lachen! Diese Schlappheit wird sich einmal rächen, daß den windigen Herren Hören und Sellen vergeht..Laßt es nur zum Kriege kommen, d«iin schießen wir zuerst einm«l unsere Scharfmacher über den Haufen!' ist ja bei uns heute schon die beliebteste Losung. Meinetwegen. Ich gehe meinen eigenen Weg und lasse mich nicht durch Paragraphen einschüchtern. Mögen sie mich in Gottes Namen absägen, wenn sie keine Männer brauchen können." Dieser Gedanke gewann je länger je mehr an Wahr- scheinlichkeit. Lenggenhager wußte kaum, wohin er ging und mit wem er sprach. Was ihn am meisten erbitterte, war das Gefühl absoluter Ohnmacht. Er konnte nur die Hände in den Schoß legen und zusehen, wie die andern alle Begriffe von Ehre und Mannhaftigkeit mit Füßen traten. (Forts, folgt.)