tTr.m— 1917
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Sonnabenü,14.?uli
Zrau von Stadl.
Zur hundertsten Wiederkehr ihres Todestages am IS. I uli. Bei dem Namen dieser Frau wird ein freischauendes, geist- tüchtiges Antlitz sichtbar, über dem sich der Schmuck eines Turbans mit buschender Feder wölbt. Mit einem Schlage ist die Zeit des ersten Napoleon beschworen, die Zeit, wo der Strom der großen Revolution auf europäische Schlachtfelder abflutet« und das unge- beure Ringen, das jahrelang Frankreich und die Welt eingebannt hielt, anderen Gedanken, Einpfindungen, Zielen Raum ließ. Zu- gleich aber springt bei dem Namen ei» Kreis deutschen Literatur- lebens im Erinnern auf. Der fremdartig gezierte Frauenkopf mit den sprühend bewegten Augen Pflegt aiicht zu fehlen in den deutschen Literaturbüchern, wo sie von den großen Zeiten von W c i m a r erzählen. Denn im Tell-Jahre 1804 kehrte die Stael bei Schiller , dem schon todesnahen, und bei Goethe, der in Vollkraft stand, und tveiter im Kreise der jungen romantischen Ge- neration, die Dichtung, Philosophie, Leben in eins zusammen- schmelzen wollte, als eine unermüdlich plaudernde, streitende. suchende Fragerin ein. Revolution, Kaiserreich, Weimar und Jena und schließlich ein Buch der Stael, in dem nach sechsjähriger Arbeit die Eindrücke sich vereinten, die diese empfängliche, begeisterungs- fähige Frau über deutsches Dichten und Denke,: an den Ouellen eingeheimst hatte: immer wird dies ihr Merkmal sein, daß in ihr wesentliche Züge ihrer stürmischen Epoche un» gesammelt nah«. kommen. In der von JaureS herausgegebenen„Sozialistischen Ge- schichte" heißt eS von der Stael, sie sei einer der freiesten Geister der napoleonischen Zeit gewesen. Bei diesem Wort sei an daS Buch -lieber Deutschland " gedacht, das ohne Zweifel nach seinem Wollen eine Kulturtat gewesen ist. Von französischem Denkungskreise aus stellte es eine Entdeckerarbeit dar. Mit über- zeugter Hingabe machte ei begreiflich, daß das Volk jenseits des Rheins, das geringschätzig angeschen wurde, hohe geistige neue Verdienste und eine schätzenswerte sittliche Eigenart habe. AuS Philosophie und Dichtung war auf die Stael eingeströmt, was sie selber gesucht: ein sichere» Glauben an die Freiheit, an die Selbst- Herrlichkeit deS Einzelmenschen, dessen Handeln sich nach einge- borenen. willensstark entwickelten Pflichten bestimmt: kein« lähmende AbhängigkeitSIehre mehr, und kein« enge Nützlichkeit»- moral. AIS da» Buch niedergeschrieben war und an die Oeffentlichkeit sollte— 1810— machte die napoleonische Zensur sich darüber her. Sie setzte den Rotstift an und erlaubte schließlich den Druck. Wie aber das Buch zum Verkauf fertig war, wurde ihm trotz der Druck- erlaubnis der Wog verlegt. Ein Dekret trat in Aktion, das einst — und eigens' in Rücksicht auf die gefürchtet« Feder der Frau V. Stael— ausgesonnen worden war. DaS Amt der Zensoren erstreckt« sich nur auf die Textherrichtung einer Schrift, über daS Buch selbst aber entschied mit unbegrenzter Vollmacht die Polizei. Und ihr freies Willkürrecht beschlagnahmte jetzt im letzten Augen- blick das Buch„Ueber Deutschland", ließ die zehntausend Exem- place zerstören, zahlte dem Verleger ein dürftige? Schmerzensgeld, forderte das Manuskript ein und verwies die Verfasserin, die ohnedies längst von Pari» ausgesperrt war, endgültig aus Frank- reich Höhnend schrieb der Polizeiminister: ihr schein« die Luft Frankreichs nicht zuzusagen, ihr Werk sei„nicht französisch". DaS Buch kreuzte also die obrigkeitliche Politik. Indem eS fremd- völkische Leistungen rühmte, beschwor c» die Gefahr herauf, daß daS kaiserliche Frankreich in dem Dichtung und Philosophie nur schwächlich krauteten, dem unterjochten Lande gegenüber in Schatten geriet. Wie hat aber diese Vernichtung deS Buche? den weiten Abstand gekennzeichnet, der zwischen den Wegen Napoleon ? und den Ideen klafft«, die in der Revolutionszeit im Volksempfinden mächtig gewesen waren! Die Revolution hatte der Völkerver- brüderung zugejauchzt, die sich aufbauen sollte auf der Gleichheit alles dessen, waS Menschenantlitz trägt; da? Kaiserreich war zu dem Empfinde?» alter Eroberervölker zurückgekehrt, deren über- steigert«? Selbstbewußtsein den Wert anderer Völker immer herab- gesetzt und verkannt hat. Die Stael ist die offen erklärte Gegnerin Napoleons gewef«,. Er galt ihr als ein„Robespierre zu Pferde". Fn seinen Anfängen al» blutjunger General hatte sie ihn mit Briefen bedacht, deren Leiden schaftlichkeit mehr war als nur die Bewunderung seiner Leistungen. Aber dieS Einpfinden schlug in Haß um; al» er zum Ersten Konsul aufstieg, sab sie in ihm nicht? al? den Feind der Freiheit. Man braucht nicht zu bezweifeln, daß politisch: Gesichtspunkte an dieser Wandlung s«br wesentlich mitwirkten. Sie, als die Tochter de? einst populären Ministers Nccker, der den Ausbruch der Revolution verhindern sollte und den die Revolution dann schnell als ersten Minister wegfegte, war in die gewaltige neue
Epoche eingetreten in den Gefühls- und Gedankenkreisen, die Rousseau seinem Jahrhundert angefacht hatte. Sie meinte,- ihr Vater sei berufen, Rousseaus Lehren in der Gesellschaft zu ver- wirklichen. Als die wilde Macht der Revolutton rauh aufstürmte, blieb Germaine Necker — sie war die Gattin des schwedischen Gesandten Stael-Holstein— im Bannkreise der Königsanhänger, und sie ist immer Rohalisttn geblieben, allerdings keine, dix das alte absolutistische Systein zurückwünschte. An dem englischen Muster hatte sie sich daS Ziel einer parlamentarischen Verfassung gebildet, für das sie von ihrem namhaften Salon aus, der aber durchaus kein politischer Mittelpunkt war, wirkte. Dies und der Friede Europas waren ihre Ziele und beides hatte in Napoleons Cäsarentum seinen schroffen Gegensatz. Trotzig hat sie in der Gegnerschaft anderthalb Jahrzehnte auSgehalten, standhaft gegen Werbungen um den Einfluß ihrer Stimme wie gegen Verfolgun- gen, gegen Mudtotmachen, Ausweisen und Verbannen. Schicksale, die sie schon in den wildesten Jahren der Revolution, wo sie für die Rettung des bedrohten Königs gewirkt, erfahren hatte, kamen in der Kaiserzeit mit verzehnfachter Last über sie. Der Gang ihres Lebens trägt den schweren Stempel ihrer Zeit. Als Goethe 1796 daS Buch der damals Dreißigjährigen„Vom Einfluß der Leidenschaften auf das Glück der In- dividuen und Völker" las, schrieb er an Schiller :„ES ist äußerst interessant zu sehen, wie eine so höchst passionierte Natur durch daS grimmige Läuterfeuer einer solchen Revolution, an der sie so viel Anteil nehmen mußte, durchgeht und, ich möchte sagen, nur das geistreich Menschliche an ihr übrig bleibt." Er kam ihr mit diesem Wort nah und verkannte sie doch. Sie ist immer die einpfindsam leidenschaftliche Natur geblieben, die von Rousseau für ein freiheitliches Kulturideal begeistert wurde. Das Loskommen von dem furchtbar zwängenden, einschnürenden Druck der alten Gesell- schaft, das Befreien alles Fühlens, Denkens, Handelns von der Wucht fälschender Vorurteile ist durch ihr ganzes Leben hin das Ziel gewesen, daß ihre Kraft bewegte. Abtun den„zerlöcherten Man- tcl", daS„alte Lumpengewand"! Das hat sie, die ohne ein Mit- entscheiden ihrer Neigung eine VorteilSehe hatte schließen müssen, mitveranlaßt, ein Romanwerk niederzuschreiben, da? sich gegen die „wahnwitzige und barbarische Einrichtung" kehrt,„die von so vielen schuldlosen Geschöpfen die Aufopferung aller natürlichen Neigungen fordert". Sie warf diesen Roman-Delphine", in dem das Recht der Ehescheidung ersehnt ist, 1802 in die Oeffentlichkeit. gerade als die Ehegesetze verschärft wurden. AIS Motto stand freilich auf dem Buche:„Ein Mann muß der öffentlichen Meinung zu trotzen ver- stehen, ein Weib sich ihr unterzuordnen", aber war dies und der entsprechende Verlauf der Erzählung nicht ein Mittel, dem, waS anklagend gesagt werden sollte, den Weg in die Oeffentlichkeit zu ermöglichen? Die Stael rang um Glück für sich und alle, und nun zeichnete sie den Widerspruch der Gewalten, die„die Dauer der Glücklosigkeit garantieren". In diesem Befreierkampfe steht sie in der französischen Literatur, wie wenig auch ihre Romane die künst- lerische Kraft bleibender Werke besaßen, als eine Vörläuferin der Ro- mantiker von 1830 und als eine Wesensverwandte der George Sand da, deren Werk in alle Welt hinauSstrahlen sollte. DaS Höchste aber in diesem Ringen der Stael gegen da? um- strickende Gespinst der Vorurteile bedeutet jene» Buch„Ueber Deutsch- land". Au» dem Exil in Coppet bei Genf , in dem sie zehn Jahre lang von der napoleonischen Polizei überwacht lebte, entwich sie 1811 über Oesterreich und Rußland nach Schweden und England und hier kam 1813 da? verfemte Büch gedruckt ans Licht. Auch diese? Werk ist hervorgegangen au» dem Acker, den Rousseau bestellt hatte. Sein vorbedingcnder llnierbau ist der MenschheitSgedanke, den der Glaube durchseelt, daß hohe menschlich« Werte in allen Völkern wachsen kön- nen. Indem daS achtzehnte Jahrhundert diesen Gedanken der Hu- manität emporhob, sorgte e? vorahnend für eine Forderung neu- zeitlicher Kultur, die an die Stelle kriegerischen Erobern? und Unter- Werfens da« friedliche Verbinden der Völker setzt, das aufgedeihen soll auf dem Grunde gesicherter nationaler Einzelentwicklung. Wir Menschen deS Weltkrieges haben freilich erschreckend erfahren, daß in den Beziehungen der Völker zu einander alte trennende Kräfte, die wir im Absterben wähnten, immer noch zu furchtbarer Macht aufwuchern können. Aber das gerade rückt uns den Wert der Tat wieder unmittelbar nahe, mit der die Frau von Stael die Binde von den Augen zu reißen unternahm. Fr. D,
die richtige künstliche Atmung. Im Kriege hat die Verwendung der künstlichen Atmung in der Lebensrettung erhöhte Bedeutung gegenüber der FriedenSzeit gewonnen. Jeder weiß, daß mit dem Ausseyen der Atmung da» Leben gefährdet ist, auch daß die künstliche Atmung schleunigst ein- setzen muß, und jeder glaubt auch zu wissen, wie er sich dabei zu benehmen hat. Es ist ja so einfach, hat man ja tausendmal ge-
lesen, gesehen, vielleicht sogar, wenn man„ausgebildet" ist, geübt. Die Arme des Patienlen werden gegen den Brustkorb ge- drückt, dann nach rückwärts hinter den Kopf zuriickgesübrt. und nach einer kurzen Pause wird dies Anpressen und Ausstrecken der Arine wiederholt. So steht eS in vielen Lehrbüchern, einer bat die Vorschrift voin andern über- nommen und bei Vorfübrung und Besichtigung war die Durch- führung der künstlichen Atmung stets ein beifallsichere« Schauspiel. Und doch bedeutet diese Art der künstlichen Atmung, wie Stabsarzt Dr. Haedick« in der„Münchener Medizinischen Wochenschrift" nach- weist, in der ernsten Wirklichkeit geradezu eine Gefahr. Der Sinn der lllnstlichen Atmung besteht doch darin, mösslichst schnell und möglichst viel frische Lust in die Lungen des Scheintoten zu bringen und durch möglichst getreue Nachahmung der naliirlichen Atmung diese wieder anzuregen. Nach dem allgemein üblichen Verfahren der künstlichen Atmung, wie sie oben geschildert wurden, erfordert ein Atemzug in, Mittel. 8 Sekunden. ES lassen sich daher nur knapp acht Atemzüge in der Minute durchflihrei,, da? ist die Hälfte de« Normalen. Mit anderen Worten, gerade in dem Fall, wo der Organismus nach Sauerstoff hung'ert, wird ihm nur die Hälfte dessen zugeführt, wa« er schon unter normalen Verhältnissen zur Erhaltung seine? Lebens braucht. Außerdem wird bei der ge- schilderten Behandlung die volle Hälfte der auf die liinstlube Atmung verwendeten lebenswichligei, Zeit für de», Kranken nicht nur nutzlos, sondern sogar zu seinem Schaden vergeudet, denn für diese halbe Zeit wird sein atemloser Zustand mit allen Folgen für Lebensfähigkeit der inneren Organe verlängert. Au« weiteren AuSsübrnngen HaedickeS geht aber klar hervor, daß nicht einmal die Hälfte der gewöhnlichen Sauerstoffmenge, sondern nur der vierte Teil auf diese Art dem Kranken zugeführt»verde» kann. ES ist also tatsächlich recht verwunderlich, daß diese Vor- schrist der künstlichen Atmung so weit verbreitet ist, um so mehr, da ja auch ein anderes Verfahren bekannt ist, daS der Kürze halber al» da« militärische Verfahren bezeichnet werden kann, da c« als einzige» in die Krankenträgerordnung aufgenommen wo» de», ist. Bei dem militärischen Verfahren drückt der Helfer den Brustkorb de» Scheintoten mit seinen Händen und bewirkt dadurch die Ausatmung, durch Entfernung der Hände die Einatmung. Nach der Vorschrift ist dies iSmal in der Minute zu wiederholen. DaS Verfahre», läßt aber bequem die Möglichkeit zu, die Zahl der Alemzüge in der Minute noch zu erhöhen. Bei dem militärischen Verfahren koinin, e« von selbst dazu, daß der Helfer und der Scheintote gleichzeitig oft atmen. Nicht zu unterscheiden ist bei dem militärischen Ver- fahren auch die mechanische Einwirkung auf den Herzmuskel und den Blutkreislauf. Es wäre daher nur zu wünschen, daß da» mili- tärisch« Verfahren auch für die erste Hilfeleistung im Frieden all- gemeine Verbreitung finde._ Notizen. — llnfer neuer Roman Ander» Hjarmsted ist von dem dänischen Pfarrer und Schriftsteller Jakob Rnudsen, der diesen Winler gestorben ist. Er ist der kraftvollste Gestalter der neuen dänischen Literatur. Er läßt hier auf dem harten Boden Jütland » von einem einfachen Bauernsohn alle Höhen und Tiefen ernster Tragik durch« leben. Der Kampf ums Recht, den er führen muß. rühr, an die höchsten Probleme de» Lebens und der Kunst. Auch in den Wetter», de« Weltkriegs wird sich diese Kunst bewähren und erhebend und befreiend wirken.— Die Uebersetzung hat mit gewohnter Treue H. Kiij besorgt. — Direktor Altmann hat EternheimS dramatische» Ge- dicht.Ulrich und Brigitte ' zur Aufführung am Kleinen Theater in dieser Spielzeit erworben. Ebenso geht der .Bürger Schippe!" mit Alfred Abel in der Titelrolle in den Spielplan dieser Bühne über. — Mutterschutz im Film. Die Aufnahmen der Deut- schen B io s ko p- G e s e l l scha s t in Neu-BabelSberg für ihren Propagandafilm, über den der Bund für Mutterschutz da« Protektorat angenommen hat, sind nahezu vollendet. Sic zeigen in erschütternder Darstellung da» Schicksal der unehelichen Mutter und ihre» Kindes in der heutigen Gesellschaft. Verfasserin des IilmS ist Gertrud David . � D i e Zichorie, die jetzt so häufig al» Kaffeesurrogat b»- nützt wird, wurde früher vielfach nur zur Fütterung angebaut, Di» wilde Zichorie findet man überall in Europa an Wegen und Ack:r- rändern. Wegen ihrer Wurzel, aus der man den sogenannte» Zichorienkaffee bereitet, wird die Pflanze in einzelnen Gegenden stark angebaut, so im Magd eburai schen, in Thüringen , Böhmen , Oesterreich- Luxemburg, Belgien usw. Sie wird im April uz,d Mai gesät, liebt wie die Runkel einen reichen, lockeren Boden niit tiefer Ackerkrume und verlangt ebenfalls ein fleißiges Jäten. Sie reist in 70 bis 110 Tagen. Die Blätter geben ein gutes Viehfuttcr.
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/lnüers hjarmfteü.
Von Jakob Knudfen. Er lief, so schnell er konnte, und war mindesten« seit einer Viertelstunde so gelaufen. DaS Blut hämmerte in den Schläfen, und der Atem wollte Luft durch den Mund haben; doch er hatte vom Schullehrcr in der Turnstunde gehört, daß, wenn man erst den Mund beim Laufen öffne, die Kraft auS dem Organismus schwinde.— Und wie der Atem sich staute. so beinahe auch das Bewußtsein. Nur funkenartig durchfuhr ein Gedanke oder eine Vorstellung sein Gehirn. Er sah vor sich den Glasschran! drinnen im Kontor des Kaufmanns, mit all diesen hübschen Porzellandingen, die er so viele Jahre lang zu beschauen gewünscht hatte, und die der Kaufmann just heute abend Lust verspüren sollte ihm zu zeigen, heute, wo er so bestimmten Befehl hatte, um zehn Uhr zu Hause zu sein. Er fühlte den Drang, wieder auf seine Uhr zu sehen. Doch dazu war keine Zeit. Er hatte ja auch gesehen, als er aus dem Laden lief, daß es zehn war. DaS war das erste Mal, daß ein Glockenschlag auf seiner neuen Konfirmations- uhr ein wirklich trauriges Aussehen gehabt hatte. Bisher war eS jedesmal so erfreulich gewesen, zu sehen, wie sie gehen konnte. Er wollte über den Graben springen, auf den Rasen, längs des Weges hin. wo es für seine nadtten Füße weicher war. Im Sprunge entfernten sich seine Lippen voneinander, und er begann zu schnaufen, mit weit geöffnetem Munde und auS voller Lungenkraft zu stöhnen— unausgesetzt laufend, so schnell er konnte. Dabei war es, als schlüge ihm eine heiße Luft glühender Gedanken entgegen, und sein Gesicht ward in Schweiß ge- badet. Wie in einen Ofen, eine Welt rotglühender Möglich- leiten, so sah er hinein in seines Vaters Zorn. Das war eben das Fürchterliche an dem Zorne seines VaterL, daß er dessen Möglichkeiten gar nicht überschauen konnte. Er kannte das ja schon von früher, aber jedesmal war er so überwältigt gewesen, daß er sich eigentlich deS Geschehenen nie entsinnen konnte. Nicht die Prügel waren eS,— es war dieser Feuer- regen von Zorn und dieses Gefühl, verdammt zu sein.-- Und wieder jgh erde« GlaSschranj bevn Kaujmsnn. vor
allem dieses porzellanene Heinzelmännchen für Streich Hölzer--- daß ihn die Figur wirklich so hatte fesseln können, obwohl er wußte, was auf dem Spiele stand! Er hielt plötzlich an einem Heckenpfahl an und setzte die Hände dagegen, ächzend und schnaufend, indem er einen Buckel wie eine Katze machte.— Denk einer an, wenn er sich gegen seinen Vater empörte l— Aber der Gedanke war so fern, so unwirklich,— und doch merkte er, wie seine ganze Welt im selben Augenblick untergehen würde,— daS Bild Samsons oben in der Schule fiel ihm ein, auf dem Samson gegen die zwei Strebepfeiler drückt und den ßanzen ungeheuren Bau über sich niederzwingt.— Dann würde da nichts anderes übrig sein als Gott im Himmel,— denn der bliebe doch wohl übrig? Er begann wieder, aus allen Leibeskräften zu laufen,— durch einen Nebel, einen Rauch, eine Verwirrung, so schien eS ihm,— doch oben darüber war doch gewiß ein Stück blauen Himmels I Auf einmal waren alle phantasttschen Bilder weggeweht. Er lief am Ententeich, am Düngerhaufen vorbei,— jetzt stand er an dem Pförtchen zum Hof, unten an der Brauerei. Er zog daß Pförtchen auf— es wurde durch einen Holzklotz an einem Strick verschlossen gehalten.— jetzt war er auf dem tos drin, aber ungesehn drüben in der Ecke der Brauerei. ein Vater ging auf dem Hof drüben beim Westgebäude um- her. Er war in der Weste und trug Lederjackenärmel. Er ging etwas vornübergebeugt und rückte hin und her, mit den Händen auf dem Rücken. Der Knabe lief über den Hofplatz auf seinen Vater zu; doch da dieser nichts sagte, so bog er im Laufe ab, der sich so gleichsam ohne Resultat verlor. Er suchte sein gewaltiges Schnaufen zu unterdrücken, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, am allerliebsten»väre er eine Weile in die Erde verschwunden. „Hast Du den Brief zum Kaufmann besorgt. Anders?" sagte der Vater mit ganz ruhiger Stimme. »Ja." „Du kannst hineingehen und Dich in die Wohnstube setzen. Ich bin noch nicht fertig damit." Anders eilte durch die Haupttüre ins Haus. Nein! daß aus all dem nichts geworden war I— Eine so angeschwollene, unförmige Masse von Möglichkeiten war hier plötzlich ver- schwanden oder in sich zuMgegapgev, drö iiN L'v« eK jasi
nicht zu bewältigen vermochte; es war beinahe so wie mit dem Atem, der sich auch nicht niederdämpfen lassen wollte. Und fast gleichzeitig erhob sich etwas Neues— eine neue große Frage: was hatte sein Vater vor?—„Ich bin noch nicht fertig damit."— Er ging immer noch draußen im Hof umher,— jetzt eben legte er die Stangen auf dem Auslüfte- gestell zurecht. Ja, aber das war doch nicht das, womit er erst fertig sein wollte,— und er, Anders, würde mit dabei sein. Er war geschwind in ebenso neugierige Spannung ver- setzt, wie er vorher in Angst gewesen war.— Jetzt stand der Vater still und sah zum Stallflügel hinüber.— Der Viehknecht hantierte dort drüben mit ein Paar Tüdcrn. Jens konnte am Abend doch auch nie fertig werden. ES war ja gleich halb elf Uhr.— Anders meinte bestimmt, sein Vater stünde und wartete. Wartete er darauf, daß Jens hinein- gehen würde? Warum ließ er den Knecht nicht zu Bett gehen? WaS hatte sein Vater doch nur im Sinn? Jetzt hatte er wieder begonnen, drüben beim Westgebäude umherzuwandern in seinem wiegenden Gange, vornüber- gebeugt, mit den Händen auf dein Rücken.— Viehknecht Jens raffte einen ganzen Haufen von Tüdern zu einem Bund zusammen, daS er über den Nacken warf. Darauf ging er durch die Stalltür hinein und verschloß sie von innen; in der völligen Stille auf dem Hofe konnte man hören, daß er auf der Innenseite den eisernen Riegel vorschob. Im selben Augenblick sah Anders, daß sein Vater stehen blieb, sich ein wenig aufrichtete und wahrscheinlich lauschte. Darauf ging er, mit viel schnelleren Schritten als vorher, auf die Haustüre zu. „Kannst Du nun mitkommen, Anders?" klang es in die Wohnstube hinein.--- Sie gingen durch die Hoftür hinaus, an der langen Wagenscheune vorbei. Davor stand der Wagen, mit dem der Knecht heute zur Mühle gewesen war. Der Vater ging z« dem Wagen hin und zog die Eisenstange heraus, die vor dem hinteren Brett sitzt. Die Matrize, die er von der Stange ab- geschraubt hatte, steckte er in die Westentasche. Dann setzte er seinen Gang fort, indem er die Eiscnstange, die er an einem Ende hielt, mit der Hand gleichsam wog. Von dem Dorftveg bogen sie aus den Weg ab, der nörd- lich ins Feld führt. iDortj. folgt.)