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Nr. 267 1617

Unterhaltungsblatt öes vorwärts

Sonnabend, 26. September

Der neue Sudermann. der Katzensteg"' im Königgrätzer -Theater. Sudermann , der jetzt seinen sechzigsten Geburtstag feiert, ist die Gunst des großen Publikums trcugebliebem Van allen lebenden deutichfn Dramatikern wird er in Deutschland wie im Auslande am meisten gespielt. Aber die Kritik, die seinen ErstlingEbre" zum Teil merkwürdig überschätzte, ihn in die Nähe des so völlig anders gearteten jungen Hauptmann rücken wollte, schlug nach den ersten Jahren des Erfolges in das entgegengesetzte Extrem um. Es wurde da zum Sport, sich über die Entgleisungen ins Theatralisch« Posenhaste zu mokiren, ihn als blohen Routinier, der sein Hand- Werkszeug aus der Rumpelkammer französischer Salonstücke beziehe, zu verhöhnen. Man übersah, wieviel wirkliches Theatcrblut bei alledem in seinen Dramen steckt und wie selten solche in ihrem Denken und Empfinden unmittelbar auf Bühnenwirkung eingestellte Talente find. Ein artistischer Geschmack, der jede Fühlung für solche Wirkungen verloren hatte, erklärte sein Schaffen in Bausch und Bogen für billiges Banausentum. Doch ohne daß er seine Popularität dadurch zu mindern vermochte. Einer so straff in den Kontrasten durchgeführten Szenenfolge, wie in seinem.Fritzchen' begegnet man nur selten in der ganzen Einakterliteratur. Und einen ähnlichen Rang nimmt seine .Schmetterlingsschlacht' unter den Stttenkomödien ein. Die Auf- gäbe, SozialzuständlicheS in Handlung und Bewegung abzuspiegeln, ist da mit ungewöhnlichem Geschick gelöst, der Dialog voll Leben, die Figuren tragen jede ihre eigene Physiognomie. Ja die Gestalt des Handlungsreisenden besitzt im Typischen solche Konzentration und Anschaulichkeit, dah sie sich dem Gedächtnis unvergeßlich ein- prägt. Jeder Satz trifft da ins Schwarze. Und auch in seinen Schauspielen aus der späteren Zeit, von denen manche freilich in die Irre geht, find einige, die, wieEs lebe das Leben' und .Stein unter Steinen', bei aller Beimischung von Konstruiertem doch durch bühnenmäßig intensiv bewegte und eigenartige Momente fesseln. Leider läßt sich vomKatzensteg' nicht das Gleiche sagen. Was in dem Roman interessieren konnte, ging hier so wenig wie in der neulich von den Kammerspielen aufgeführten Dramatisierung von JensensMadame D'Ora " in die Bühnenform hinein. Was bleibt, charakterisiert sich als abenteuerliches Durcheinander. Der Bersasscr nennt's, wohl um die lose Fügung zu entschuldigen, ein Volksstück. Dock als solches fehlt ihm eine Hauptfigur, die durch den Eindruck überwiegend wahrer Menschlichkeit die Primitivität des Uebrigen vergesse» lassen könnte. Frl. O r S k a, deren Be- gabung sich bisher in weiblichen Strindberg- und Wedekmdrollen erwiesen, überraschte durch die Jnstinktsicherheit, mit der sie sich ins Wesen der Regine, des armen, gehetzten und verwilderten, aus der Tiefe entwürdigenden Elends zu reiner, opfervoller Liebe auf- steigenden Mädchens, fand. Das Spiel hatte in seiner schlichten Einfachheit und impulsiven Leidenschast ganz prachtvolle Höbenpunkte. Aber herausgerissen aus den vermittelnden psychologischen Entwicklungen, die die Erzählung bieten kann. in lauter abgehackt gewaltsame Situationen hineingepreßt, bleibt die Figur im ganzen doch ein Schema, das in dem Stück um des Effektes willen, nichl aus dem Zwange eigener Natur zu handeln scheint. Sehr gut war gleichfalls Friedrich K a y ß l e r als der junge Freiheer, der, wie Regine vom Haß der Bauern verfolgt, die Schuld seines landesverräterischen und geächteten Vaters das Stück spielt in den Freiheitskriegen zu sühnen sucht. Doch auch diese Figur läßt kalt, sie handelt unter dem Diktate eines bunten Sensaiionsbedürfnisses. Alle Augenblicke geht der Borhang über neue Bilder auf. Der Held, aus dem Feldzug kommend, zieht in? verbrannte Schloß des loten Vaters, der mit Regine dort gehaust. Bei dem Begräbnis des verhaßten Alten droht der Ausbruch blutiger Kämpfe. Ein Pfarrer, für deffen Tochter der junge Mann geschwärmt, verflucht ihn. In dem verfallenen Gemäuer schlägt er mit Regine seine Wohnung auf. An ihrer stummen demütig harrenden Liebe entzündet sich sein eigenes Gefühl. Dann wieder giblS Gerichtsverhandlungen, in denen der lVersemte das eiserne Kreuz erhält usw. Bis schließlich RegineS halbverrückter Vater mit einem Schusse, der dem Freiberrn galt, das Mädchen niederstreckt. Abermaliges Begräbnis und Begräbnisreden und aber« maliger Auszug zum Kampfe wider die Franzosen. Am Schlüsse demonstrierte ein Teil der Zuhörer mit Zischen gegen den sich endlos wiederholenden Applaus. Unter den Mit- spielenden wäre noch Herr M i e r e nfd o r f f als fanatischer Pfarrer und Richard Leopold als intriganter den Volkshaß schürender Gastwirt zu nennen. Sven G a d e hatte für das szenische Getümmel stimmungsvolle Dekorationen beigesteuert. ckt.

Klaffe unö Degabung. Bald hat jede Wissenschaft herhalten müssen, die Begabungs- Überlegenheit der Oberschichten über die unteren zu.beweisen'. Biologie, Erblichieitslehre, die Gesellschaftswissenschaft alle sollten sie eine Minderbegabung der Massen.bewiesen' haben, ob- wohl die Frage z. Z. noch gar nicht experimentell untersucht worden war, z. Z. auch gar nicht mit den Hilfsmitteln dieser Wissensgebiete erfaßt werden kann. Die Behauptungen waren immer nur ein Weitersagen des Hörensagens. Wirkliche Untersuchungen der etwaigen Begabungsabstufung nach Gesellschaftsschichtungen sind überhaupt nur der angewandten Psychologie möglich und sind auch bisher nur von ihr angestellt worden. Die Begabungsforschung, eine Sonderaufgabe der angewandten Psychologie, hatte sich der Frage nach dem Begabungsaufbau der Gesellschaft gewidmet. Sie steht zwar auch noch in den ersten Anfängen: aber schon waren die wenigen Ergebnisse, die auch nur leise auf eine Minderbegabung der Unterschichten hinzudeuten schienen, mit begieriger Eile auf- gegriffen worden, um den vom alten zerkasteten Indien bis zum modernen Europa geheiligten Lieblingssatz der Oberschicht neu zubeweisen': Die gesellschaftliche Schichtung folgt aus der Be- gabungsverschiedenheit, die oberen Schichten enthalten die Tüchtigen, die unteren die Minderbegabungen. Eine Preisarbeit der Robert-Rißmann-Stiftung,Die bis- herigen Forschungen über die Begabungsverteilung nach sozialen Schichten" von Dr. O. Karstädt bietet nun zum erstenmal eine Dar- stellung, Uebersicht und Nachprüfung aller irgendwie in Betracht kommenden wissenschaftlichen Untersuchungen. Das Ergebnis ist überraschend. Karstädt teilt die Untersuchungen ein in Vergleiche der Prütungsergebnisje 1. in verschiedenen Ländern szwischenstaat- licher Vergleich), 2. innerhalb eines Schulorts, wobei wieder Ver- gleiche der Kinder verschiedener Schulgattungen(höhere und niedere Schulen), verschieden gelegene Schulen(wohlhabende und ärmere Stadtviertel) und der reicheren und ärmeren Kinder einer Schule unterschieden werden. Bei den zwischenstaatlichen Vergleichen zeigte sich nun, daß nur starke Voreingenommenheit und gröbste Uebersetzungsirrtümer die üblichenFolgerungen" verschuldet haben. Die.bewiesene' Rück- ständigkeit ärmerer Kinder war zum Beispiel gefolgert aus dem PrüfungZergebniS an russischen, fast buchstabenlosen, zu spät ein- geschulten Kindern, der geistige Entwicklungsvorsprung vornehmster Kinder aus einem begünstigenden Prüfungsverfahren eines Brüsseler PrivatschulleiterS an den Schülern seiner eigenen Anstalt; VolkS- schulkinder mit gutem Ergebnis waren wegen starker Vorein« gcnommenheit der Forscher sogar als ausbesten Kreisen' stammend angenommen worden und leider! so weiter I Den stärksten BegabungS- und EntwickelungSvorsprung nach den Ergebnissen der zwischenstaatlichen Untersuchungen zeigen nicht Kinder höchster Gesellschaftsschichten, sondern Volksschüler. Bei den Vergleichen innerhalb desselben Schulorts zeigen sich solche wirren Widersprüche und Schwankungen der Ergebnisse gegen- einander, daß sie sich einfach aufheben. Im ganzen hat Karstädt 20 Untersuchungen nachgeprüft. Seine Uebersicht zeigt folgendes Ergebnis: Von 20 Untersuchungen scheiden 4 als gänzlich unzulänglich aus; von den übrigen 16 zeigen 6 eine Beziehung zwischen Begabung und GesellscbaftSschichtung. 4 keine und 6 eine umgekehrte Besiehung, d. h. nach 6 Untersuchungen waren tiefer siehende soziale Schichten den höher stehenden an Be- gabungsleistungen überlegen.Es ist demnach ein Irrtum, daß die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begabungsforschung eine Minder- begabung der unteren Schichten bewiesen hätten. Von einer Ueber- einstimmung dieser Ergebnisse, die auch oft behauptet wird, kann erst recht keine Rede sein.' Karstädt behauptet aber keineswegs eine höhere Befähigung der unteren Schichten, nicht einmal die Unabhängigkeit von Tüchtigkeit und Gesellschaft«- gliederung, sondern er zeigt nur so starke Abweichungen in den Forschungsergebnissen auf, daß er zur Folgerung berechtigt ist: die gegenteiligen Behauptungen über eine eindeutige Abhängigkeit der Begabung von der sozialen Schichtung finden in den bisherigen Untersuchungen keine Bestätigung. Es handelt sich bei den Be- gabungsprüfungen noch um Vorfragen, und aus Vorfragen folgert man keine Gesetze. Die merkwürdig weitgehenden Folgerungen über die Begabungsverteilung nach Gesellschaftsschichten sind schon darum ganz unzisiässig und entbehren jeder wissenschaftlichen Be- gründung._ Eügar Vegas f. Edgar DegaS , einer der merkwürdigsten modernen Künstler, ist in Paris , 83 Jahre alt, gestorben. Merkwürdig war er als Mensch,

der nichts als seine Kunst kannte und darüber zum Sonderling wurde, merkwürdig war seine Stoffwahl: Anfangs malte er Weit- rennszenen, dann aber kannte er nur»och einen Gegenstand: die Balletteuse. Dieses deformierte Produkt einseitigen KörperdrillS, das an seinem Körper das Kainszeichen der Kultursklaverei trägt, wurde er nicht müde, immer wieder in allen Situationen, im Lampenlicht der Bühne, oder übend und ausruhend darzustellen. An diesem zunächst häßlichen Stoffe entfaltete er die Magie seines Pinsels oder seines Pastellstiftes, seiner bevorzugten Technik. Wie kein anderer moderner Maler verstand er es angeregt durch die Japaner das ganz Momentane einer Bewegung, die Spitze eines Augenblickes festzuhalten und in sein impressionistisches Kolorit um- zusetzen. Von den Japanern hat Degas auch den immer ungemein lebendigen, offenbar auch seltsamen Ausschnitt übernommen. Er will den unmittelbarsten Eindruck erzielen, und es kommt ihm nicht darauf an, eine Figur zu halbieren. So ist seine Kunst sprühend von Leben, ein feinstes Rervenspiel. Stoff, Zeichnung und Farbe, die Komposition, die keine zu sein scheint, aber mit sorgsamster Ab- wägung drin steckt das alles vereint sich zum wirbelnden Tanze des Momentbildes. Degas ist der sinnfälligste Ausdruck einer rein sinnlich gewor­denen Kunst, die nur noch Augenreize kennt, der Meister einer höchstentwickelten Technik, die Selbstzweck wird, der Vertreter einer Kunstrichtung, die keinen Zusammenhang mit dem Volksleben mehr hat. Er hat der Manie seiner Leidenschaft gelebt und ist scheints ein reiner Mensch geblieben. Die Liebhaber, die Wildgeschmack in seiner Kunst witterten, haben, selbst Opfer einer überreifen Kultur, ihn entdeckt undgoutiert". Der Knnsthandel hat Millionen an ihm verdient, während er nur sein Leben hatte. Seine Art zu sehen, die er niemandes Schüler entwickelte, hat unter den strebenden Künstlern alser Völker begeisterte Nachfolger geweckt. Auch in Deutschland sind seine Werke verbreitet, Liebermann war hier sein Prophet. Der seltsame Alte ragte wie ein Ueberlebeiider einer zu Ende gehenden Kunst in eine Zeit, die nach neuen Zielen unklar und schwärmend drängt. Li. 14. D. vas neue Fremdwort. Der kecke und unterhaltende.Zwiebelfisch', den Hans von Weber in München herausgibt, erzählt ein zugleich lustiges und lehrreiches Geschichtchen, das bezeichnend ist für die glühende Verehrung, die in weiten Kreisen deutschen Bürgertums das Fremdwort noch immer genießt nur, weil es eben etwas Fremdes ist. Zuni Beweise hierfür hatte einmal Erich Schlaikjer den Einfall, ein vollkommen sinnloses Fremdwort künstlich rinzuführcu, und erfand zu diesem Zweck das schöne Wort.repunsieren'. Mau begab sich gemeinsam in eine bessere Wirtschaft und voller Würde, jedoch mit einem gewissen verräterischen Zucken der Mundwinkel fragte Schlaikjer die Kellnerin:.Sagen Sie, Fräulein.... wo kann man hier gut repunsieren?' Das Fräulein wurde Puter- rot, blitzte ihn mit beleidigte» Blicken an, sagle Pfui und sie müsie sich das schon verbitten, er wisse wohl nicht, daß hier ein anständiges Lokal sei, und rannte weg. Der Dichter aber ging zum Wirte, klagte ihm, er habe das Fräulein gefragt, wo man hier repunsieren könne, und sie habe ihn offenbar gänzlich mißver- standen. Der Wirt entschuldigte sich mit viele» Bücklingen, das Personal sei ganz neu eingestellt, man müsse oft Leute von ge- ringerer Gewandtheit nehmen usw., im übrigen.bitte, hier rechts um die Ecke'... Schlaikjer und einige Freunde gingen, sahen. schienen ratlos und machten weiter die Runde in zahlreichen besseren Kneipen. Einige Wochen später wurde die Eröffnung eines neuen .Etablissements' angekündigt mit allemRasfinement und Kom- sort' der Neuzeit. Die Anzeige schloß:.Erstklassige Gelegenheit zu repunsieren.'_ Notizen. Ein Flug JCutin London in sieben Stunden. Nach Meldung der Ententepresse hat der italienische Flieger Laureati mit einem Beobachter am 25. September eine Luftreise von Italien nach England ohne Zwischenlandung glücklich zurückgelegt. Das Flugzeug legte die Strecke Turin London (1050 Kilometer) in sieben Stunden und 12 Minuten zurück. Während der ganzen Fahrt hatten die Flieger starken nordwestlichen Wind. Sie hielten eine Durch- schnittShöhe von 2970 Meter. Der Weg führte über Modena , durch Frankreich zum Kap GriS Nez und hierauf quer über den Kanal. der in 15 Minuten und in einer Höhe von nur 60 Meter überflogen wurde. Beim Flug über die Alpen , der in einer Höhe von inehr als 3000 Meter vor sich ging, hatten die Flieger niit starken Wind- stößcn und Rege» zu kämpfen. Es war das erstemal, daß ita- liemsche Zeitungen am ErscheinungStag nach England gelangten.

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Der Weizenkönig.

Von Otto R u n g. In derselben Sekunde, da er es gesagt, bemerkte er, daß die s�ront des Wagens nicht gegen das walzende Band der Straße, sondern gegen einen Uebersteig wies, welche vom Straßenrande aus tief hinabführte in daS ver­senkte Niveau der Felder. Er stieß einen entsetzten Warnungs- ruf aus, aber schon hatte der Chauffeur die Maschine mit einem gewaltsamen Ruck herumgeworfen, um anscheinend einen am entgegengesetzten Straßenrande aufragenden Ueber- steig als Ziel zu wählen. So schlingerte der Wagen auf seiner Blitzfahrt die Straße weiter; in jähen Sprüngen, in heftigem Zickzack hin und her kreuzend zwischen den tiefen Gräben, die zu beiden Seiten des Weges lauerten. Sind Sie toll?' heulte Hotkins.Wollen Sie uns beiden die Hälfe brechen?" Im selben Augenblick fiel seine Theorie, daß er es mit einer Kreatur Wilsons zu tun habe, in sich zusammen. So manövrierte nur ein Wahnsinniger. Rasch griff er unter den Sitz, holte die langläufige Magazin- Pistole, die er immer mit sich führte, hervor, wandte sich und zielte auf die gelbe Wachstuchmaske, die in gepanzerter Un- beweglichkeit über den Silberrahmen der Kalesche ragte. .Jöalt!" schrie er.Hände hinauf!' Wiederum knirschte das kurze trockene Lachen, und eine tiefe, von der Maske gedämpfte Stimme begann zu sprechen: Ich versuchte es vorgestern und gestern, Sie auf Ihrem Kontor zu sprechen. Aber Sie hatten keine Zeit. Heute er- fahre ich, was Ihre Zeit Ihnen in Dollars wert ist. Aber trotz alledem Hube ich nun doch Gelegenheit zu einer Gratis- Unterredung mit Ihnen gefunden." Nonsens!' sagte �Hotkins.Stoppen Sie, oder ich schieße Sie nieder, daß Sie so tot daliegen wie ein Türbolzen I" Ueberlegen Sie doch!' erwiderte der Chauffeur. Wir laufen 1<X> Kilometer. Mit einem Mann am Steuer, der so tot ist wie ein Türbolzen, ist dies ein Risiko, das Sie im Interesse Ihrer eigenen Person nicht wagen sollten, nicht einmal für die fünf Sekunden, die Sie brauchen, um Ihre Sünde statt der meinen um das Steuerrad zu legen.' Und otkins sah. wie ihr Kurs in diesem Moment direkt auf einen seitwärts vom Wege stehenden Wellblechschuppen eines Tele- graphentransformatorS zielte. Ein heftiger Pumpenschlag der Angst klemmte ihm die Kehle zusammen. Aber schon im nächsten Augenblick waren sie wieder in der Straßenlinie. Hotkins kniete auf den Sitz nieder, das Gesicht in gleicher Höhe mit dem Helm des Chauffeurs. Umsonst! Er

erhaschte keinen Blick durch die konvexen Brillengläser der grauen Totenmaske. Was wollen Sie von mir?" zischte er. Ich suchte Sie gestern und vorgestern auf,' wurde ihm geantwortet.Aber Sie waren nicht zu sprechen. Ich wollte Ihnen Vorstellungen machen." Was wollen Sie?' wiederholte Hotkins.Nennen Sie Ihren Preis, ich bin zu Verhandlungen bereit." Es galt ja bloß Zeit zu gewinnen. Einige Meilen von hier war auf der Chaussee, wie er sich erinnerte, ein Motortrap postiert eine Falle von Konstablern, die mittels Kontrolluhren die Fahrtgeschwindigkeit vorbeikommender Automobilisten no- tierten. Es hieß diesen verrückten Desperado solange munter zu erhalten, bis sie den Polizeiposten erreicht hatten. Betrachten Sie diese Fahrt immerhin als eine Art Kursus,' sagte der Wagenführer." Ich habe Ihre Manöver seit langem verfolgt und mir vorgestern vorgenommen. Ihnen Ihr Vorgehen gegen uns andere auf friedlichem Wege klar- zumachen. Aber diese Methode erwicS sich als undurchführ- bar: der Weg zu Ihnen war blockiert. Ich war daher ge- nötigt, die Rollen zu tauschen und Sie selbst zu blockieren. Ich habe Sie hier auf Ihrem eigenen Wagen festgenommen. Stellen Sie sich vor, wir beide seien die einzigen Wesen auf einem Planeten, der das Universum durchkreuzt, und Sie werden kaum den Versuch machen, abzuspringen. Ich fürchte, Sie werden keinen Grund für Ihre Füße finden. Es hieße direkt in den leeren Weltenraum hinausspringen. Nein! Das einzige, was Ihnen zu tun erübrigt, ist. aufmerksam vor sich hinzublicken. Ich will Ihnen eine praktisch anschauliche Vorstellung geben, wie Ihr KurS sich in diesen letzten Mo- naten für vital interessierte Augen ausgenommen hat. Ich habe Sie sozusagen vor eine Kanonenmündung gebunden, um Sie zu gespannter Aufmerksamkeit zu zwingen. Sie sind mit Leib und Leben an den Vorgängen um Sie her beteiligt." HotkinS zuckte die Achseln.Sie machen mir nicht angst. Mein Leben ist ja an das Ihrige gebunden. DaS scheinen Sie zu übersehen. Sie werden schon Ihren eigenen Gliedern zuliebe gut aufpassen." Als aber der Wagen in eben diesem Augenblick einen heftigen Seitenhieb gegen die Eisenstützen einer zu passierenden Hängebrücke vollführte, erschrak er dennoch.Sind Sie verrückt?' schrie er.Passen Sie doch besser auf!Oder haben Sie etwa Selbmord im Sinn? Der Wagen parierte in der letzten Sekunde und der Chauffeur lachte auf.Selbstmord ist im Dienste einer höheren Sache zuweilen ganz vernünftig. Oder haben Sie nie davon gehört, daß es Leute gibt, die Ihr Leben für die Sache

anderer opfern? Sic glauben offenbar noch immer, daß es nur sinngemäß sei, anderer Leben der eigenen Sache zu opfern?' Sie sind also Anarchist?" prustete Hotkins hervor. Aha! Sie sortieren mich schon»vieder wie eine Probe auf der Warenbörse und bekleben mich mit einer Etikette! Ich habe Ihnen doch zu verstehen gegeben, daß Sie sich in diesem Kursus einfach als meinen Schüler zu betrachten haben. ES gibt sehr ernsthafte Dinge für Sie zu erlernen, ehe ich Sic entlasse." Halt!" fauchte Hotkins.Sie gehen selbstredend von der üblichen falschen Vorstellung aus, daß ich und meine Kollegen irgendwelchen tatsächlichen Einfluß auf die Schwan- kungcn des Marktes, auf Baisse und Hausse haben, irgend- eine Verantwortung für Katastrophen und Paniken. Sic glauben vermutlich in Ihrer kindischen Art, daß wir bloß auf einen Telcgraphenknopf zu drücken brauchen, um alles ganz allein zu dirigieren. Aber das ist ein totaler Irrtum. Ich bin nichts als das Werkzeug eines tieferen Systems, das Organ für verborgene und unsichtbare Prin- zipien, die die ökonomische Entwicklung leiten, für gewisse ge­heime und unkontrollierbare Kräfte, welche produzieren und umsetzen und uns Börsenmänuer mit unserem telegraphischen Nachrichtenwesen und unserer Praxis bloß als Ordner, Mittler und Mäkler benützen. Nein, Sie schießen weit über das Ziel hinaus. In mir treffen Sie nur die Hand, nicht das Hirn. Sie sind ein fanatischer Idiot I Lassen Sie inich fort I" Aber der Wagenführer schüttelte den Kopf.Diese Lektion höre ich nicht zum erstenmal", sagte er.Ich be- zweifle aber, daß die Herren für alle Tage so bescheiden sind. Und das sage ich Ihnen: wohin ich in der Welt gereist bin, habe ich nie Prinzipien gesehen, sondern nur Menschen. Aber wenn ich einem Menschen Aug in Aug zu begegnen suchte, war der Mann nie zu sprechen. Dann verkroch er sich hinter eine Schirmwand von Theorien und sagte, er per- sönlich sei gar nicht zur Stelle, aber ich könne mit seinen Prinzipien verhandeln, und, wenn es mir beliebe, auch ganz ungeniert auf sie loshauen. Theorien sind aber nun mal stockstaub und ohne einen Funken von Gefühl. Nun denn: Es gibt wirklich tiefe und ewige Gesetze für alles menschliche Genieinwesen, aber wir Lebenden sind es, die diese Gesetze kraft unserer Zivilisation in Händen halten, und einige unter uns, vielleicht vier oder fünf. haben mehr Macht als die andern, wenn sie auch so tun, als verteilten sie sie höchst demokratisch vermittelst Aufsichts- raten und allgemeinen Stimmrechts., jSortj, folgt).