Nr. 22— 23—1918
Unterhaltungsblatt des vorwärts
Mittwoch, 23. Januar
Der Tatar. Von Oskar Wöhrle. Ter?alor, den iS hier auf dem Korn habe, trieb sich in Wilna hauptsächlich in der Gegend der unteren Popowschysna umher. Später aber, als seine Unternehmungslust stieg, machte er die Saschetschestro�e und— wenn'S hoch kam und es frische Maz�n gab.— am Schabbes auch die FKrbergasie unsicher. Ueber diesen engen Beirrt hinaus ist er aber meines Wisiens nie gekommen. Dieser hierher ver'prengte Vollasiate war ein höchst merkwürdig gewandeteS Bündel Mensch. In Deutschland hätte man ihn in seinem Aufzug nicht frei umherlaufen lassen: Hagenbeck hätte ihn sicherlich in seine Tier- und Lölkerichau mitgeschleppt. Hier aber in Wilna lieh man ihn ruhig gewähren— zur Bereicherung des Stadtbildes und zur Belustigung der Gassenzungen. Bon hinten merkte man an ihm weiter nichts Ausfälliges. Er wies da den breiten, dem Soldaten gewohnten Anblick des pelzbedeckten, harmlosen Panje-BuckelS auf. Damit aber der Tatar zum Vorschein kam, brauchte er nicht gekratzt, sondern nur um- gedreht zu werden. Da sah denn das erstaunt sich weitende Auge ein Gesicht, wie man eS wohl in schlechten Bilderbüchern dem Hunnenkönig Attila aufgemalt findet: gelb wie getrocknete Zitrone, backenknochig, schlitzäugig, niederstrrnig; kurzum der Abklatsch Chinas . Es wurde vorhin von einem Buckel gesprochen, der pelzbedeckt war. Das stimmt nicht ganz; denn es war kem Pelz, in dem der Tatar eingemummt ging, sondern nur eine Sammlung von Teilen von Kleidungsstücken, die ursprünglich einmal zu einer Art Wimsr- pelz gehört haben mochten. Was aber nicht ausschloß, daß der Ta- tor diese Ueberreste von Kaninchen-, Katzen-, Hund- und Schafsfellen auch im heißesten Sommer trug. Freilich, um diese Kleidung er- träglich zu machen, war ein Lustloch vonnöten, das sich in Gestalt eines länglichen Schlitzes Vorsand, der sich über die zotiige Brusiwand hinzog. Aber die Bezeichnung dieser Einrichtung mit Luft- oder Lüfiungsloch stimmt auch nicht. Es müßte Fangloch heißen; denn diesem nützlichen Zwecke diente es. Nie, wenn die vom Schmutz schwarzgebeizie Hand hineinfuhr, sah man sie ohne reiche Beute zurückkehren. Schuhe und Hemden trug der Tatar keine; dafür schwang er aber einen Filzhut ohne Krempe, der aus- sah, als od allmittäglich Kartoffeln drin gesotten würden. Doch so wild, rinaldinimäßig und herzbeklemmend er auch auZ - sah, sein Herz war zahm und mild, tierhaft schüchtern beinahe. Zornig habe ich ihn nur dreimal getroffen. DaS erstemal wollte er von einem Feldwebel, der ihn abge- knipst halte, einen Rubel Trinkgeld haben. Da wurde er ausgelacht. Zornig schnappte er Gestell und Strahlenialle und sauste damit, von einer großen Schar Menschen verfolgi, bis zum alten Judenftiedhof hm und warf das Ganze in eine Kalkgrube. Hernach kletterte er gewandt wie eine Eichkatze auf einen Baum hinauf, meckerte wie eine Ziege, streckte allen Leuten die rote Zunge heraus und war durch keine Machi der Erde zu bewegen, herunter zu lommen. DaS andere Mal hatte er irgendwo eine Brotkruste aufgegabelt und saß nun damit auf einem Straßenbord und aß und aß. Da kam nun eine alte Bettlerin gelaufen, stellte sich vor ihn hin. redete mir Mund, Hand und Krückstock und wollte etwas von dem Brot abhaben. Die Alte kam vom Reden ins Schreien. Der Tatar Hörle mtt Kauen auf und fing zu knurren an, wie ein Hund, den man beim Fressen stört. Ei» böses Funkeln kam in seine Augen. Fauchend sprang er auf. steckte den Rest der Kruste in den bekannten Schlitz und entlief schimpfend in einen Hof. Die Alte, zeternd, keifend, hinterdrein. Da» drttie Mal stam er, von einer Kinderichar aufgeschreckt, unter einer Treppe hervorgekrochen, wo er geschlafen hatte. Die Kinder ärgerten den plumpen Gesellen, riefen ihn mit Schimpf- namen. Nicht genug damit, fingen sie an. Steine aufzulesen und nach ihm zu Wersen. Als der erste, klatsch, den Kopf traf, faßte den Tataren unbändiger Zorn. Bon einem Zaun brach er eine Latte los und sprang, das Holz wie ein Nichischwert schwin- gend. in sturmner Wut den Kindern nach. Das sah aus wie der Teufel aus der Jagd nach armen Seelen. Die Kinder retteten sich auikreischend in den nächsten HauSgang. Da stand der Taiar ohne Macht, weinend vor Zorn, krampfhaft die Fäuste schüttelnd. Als zuviel Leute kamen, warf er den Lattenprügel in die Gosie, spuckte aus und zottelte davon. Er lebte das natürliche Leben eines Tieres. Was kümmerten ihn die Satzungen wohlanständiger Menschen! Wenn Regen, wenn Nacht war, kroch er irgendwo unter. Schien die Sonne, so war er da schlafend zu treffen, wo fie am heißesten hinschien. Hatte er Durst, so legte er sich lang über den Brunnen bin und soff aus d-m
Troge. Und die MuitergotteS im Brunnenstock hielt auch über ihn segnend die Hand auf. Hatte er Hunger, so wußte er schon, wo's Abfälle gab. So erschöpfte sich sein Leben in wohlgerundetem Kreis. Und seine Tage würden vollkommen gewesen sein und ohne jede Bs- schwernis, wenn nicht im Hintergrmid der Miliziant mit dem Holz- knüppel, das drohende Gespenst der Einziehung zum Arbeiter- bataillon gestanden hätte; denn vor der Arbeit hatte er eine beilige Scheu. Ein einziges Mal nur habe ich tyn einen Wassertrug schleppen sehen. Seit dem ersten Schneefall ist der Tatar von der Straße verschwunden. Wie von der Erde verschlungen. Gestorben? Von der Kopfsteuer vertrieben? Aufgegriffen und im Lukiichki? Oder doch von Hagenbeck für seinen Zirkus gewonnen? Ich weiß nicht. Ich weiß nur. daß seine an hellem Sommer- tag von jenem Feldwebel photographierre klobige Gestalt, in das Viereck einer Postkarte gezwängt, beinahe schon in jedem Papier - laden zu kaufen ist. Und da fie bloß zehn Pfennig kostet, ist der gute Tatar auf dem besten Weg. eine Wilnaer Berühmtheit zu werden.
Eine für experimentelle Siologie. An der Universität Jena wird aus Mitteln der Karl-Zeiß- Stiftung zur Pflege der Entwicklungs-Phystologie eme Anstatt für experimentelle Biologie errichiet, die erste in Deu '.schland. Ueber dieses wichtige Institut, das unter der Leitung des Zoologen Julius Schaxel stehen soll, bat die»Frankfurter Zeitung ' Näheres erfahren. Der experimentellen Arbeilsweise die technischen Hilfsmittel zu bieten, die sie zu der Lösung von Problemen der allgemeinen Lebenskunde bedari, ist der Zweck der Anstalt für experimentelle Biologie. Vorläufig werden die Ein- richtungen für zwei Gebiete erstellt: für die Physiologie der Enl- Wicklung und Formbildung und die Erforschung des tierischen Ver« hattens. Die EntwicklungS- Physiologie und E n t w i ck- lungs- Mechanik steht zu den Grundfragen der allgemeinen Biologie in engster Beziehung. In den dreißig Jahren seu ihrer Begründung durcki Wilhelm Roux hat sie nicht nur höchste theoretische, sondern auch praktische Bedeutung für Chirurgie und Orthopädie ge- wonnen. In der neuen Anstalt werden für ihren Betrieb Anlagen zur Haltung und Zucht kleiner Tiere in Aguarien, Terrarien und Jnseklarien, ein Laboratorium für die Ausführung von Operationen am lebenden Objekl und Einrichtungen für Gewebekulluren vor- banden sein. Dazu kommt ein mit besonderer Sorgfalt ausge- stattetes mikrolechnisches Laboratorium, da die Verbindung des Ex- perimenis mit biologischen und cyiologischen Untersuchungen einen sich immer mehr vertiefenden Einblick in das organische Gestaliungs- geschehen verspricht. Die Erforschung des tierischen Verhalten« hat bisher in Deutschland fast gar keine Förderung erfahren. Sie ist aber der erste imbedingt notwendige Schritt zu der Befaffung mit dem lebendigen Objekt, die bisher in der Zoologie einigermaßen vernachlässigt wurde. ES gilt, das Tier in seiner natürlichen Be- iäiigung und in der Abhängigleit von seinen Lebensbedingungen kennen zu lernen. Mit Hilf- des Versuchs unter künstlichen Bedingungen wird dazu das Zustandekommen der einzelnen Leistungen in ihren besonderen Beziehungen zur Umwelt ermittelt. Physiologie und Psychologie haben davon Nutzen, und die Lehre vom Haushalt in der Namr. die sogenannte Oekologie, wird schärfer, als es gemein- hin geschieht, ersaßt. Auf diesem Wege werden zugleich die Vor- ausietzungen und Grundlagen gewonnen, die für die angewandten Wissenschaften zur erfolgreichen Pflege nützlicher und Bekämpfung schädliäier Tiere nötig find. Der technischen Bewältigung dieser Aufgaben dienen die bereits vorhin genannten Einrichtungen zur Tierhaltung, die für gewisse Kulturzwecke einen besonderen Ausbau erfahren. Die Apparatur für Beobachtung und Experiment muß für dieses Gebiet zum großen Teil erst geschaffen werden. Dafür dürften die äußeren Umstände an keinem Ort so günstig liegen wie in Jena , wo dem neuen Institut die Zusammenarbeit mit den Firmen Karl Zeitz und Schott u. Genoffen möglich ist. die Jagö nach dem verlorenen Radium. Im Rochus-Spital in Budapest wurde ein Krebskranker mit Radium behandelt. Durch einen Verbandstreisen wurden zwei Röhlchen des kostboren Stoffes befestigt. Bei Abnehmen des Ver- bandes ereignete sich aber ein unangenehmes Versehen. Es wurde nur ein Röbrchen entfernt, das andere mit dem Verbandstoff be-
seitigt, so daß damit 20 bis 23 000 Kronen verloren gegangen wären. Glücklicherweise ist man nun im Kriege mit Verbandstoffen sparsam geworden und beseitigt sie nicht ohne weiteres, sondern sührt sie nach gründlicher Reinigung geeigneter Wiederverwendung zu. Der Verlust des Röhrchens mit Radium aber war erst nach einigen Tagen bemerkt worden, und alles Suchen in dem abgelegten Verbandzeug führte zu keinem Ergebnis. Man glaubte schon an einen Diebstahl. Da wandte sich der Direktor des Spital«»n den Budapester Radiologen Dr. Wesielszky, uno diesem gelang eS, wie die»Zeitung des Allgemeinen Oesierreichischen Apolhekervereins' mitteilt, mit Hilfe eines Exnericken Elektroskopes das Radium zu entdecken. Im Keller des"Spitals befanden sich die gebrauchten Verbandstoffs und bei ihnen zeigte der Ausschlag des Elektroskopes die Anwesenheit des kostbaren Ausreißers an.
Walter hasenelevers„Mtigsne�. Am Sonnabend las in der Gesellschaft für ethische Kultur im Rathaussaal Direktor Moest von der Reicherschen Hochschule für dramalische Kunst Walter HassncleverS„Amigone'-Drama. Es ist der Kampf um den Sieg sittlicher Ideen, den der junge Dichter in dem antiken Stoffe, den er neu ergreift, zu verkörpern versucht. Gegen da? Recht der Gewalt stellt er das Gesetz der Liebe, das die Macht vernichtet und die Welt aus Haß und Zwang in die Freiheit allgemeiner Menschlichkeit führt. Antigone wird zur Verkünderin einer neuen Sittlichkeit und zum Opfer für ihren Sieg. Dig Tochter des OedipuS. die den Bruder wider den Befehl Kreons begräbt, sagt von der Schuld ihres Vaters:»Nicht daS war seine Schuld, daß unerkannt der Sohn den Vater schlug— nein. daß der Mensch im Haß den Menschen tötet, der ihm Feind'.»Ich kenne ein Gesetz, noch ungeschrieben, von keinem Herold in die Weil posaunt, so alt wie Du und ich: es heißt die Liebe.'„Ja, Oedipus war arm und blmd, doch seine Augen brannten in das Gute. Das Blut von ieinen Augen tropfte nieder auf eine Erde mörderischer Lust von Krieg und Lüge, Haß und Eitelkeit. Dieser Bettler, den die Bosheit, Rache der unsichtbaren Menge hungern ließ, ist das nicht unier König?' Aus den Ideengehalt kommt eS an. wesentlicher als auf die Ge- ftaltung. AnligoneS Tod wird zur»Tai des lebendigen Herzens', die »umstürzt Mauern der Feindschaft'. Kreons Rache erliegend, darf sie zu Kreon die Worte sprechen:»Aus der Tiefe deS Felsens habe ich dein Volk gehauen. Jetzt ist es mein Volk!' Zum Schlüsse ipricht ein Mann aus dem Volke:»Paläste wanken. Die Macht ist zu Ende. Wer groß war, stürzt in den Abgrund. Die Tore donnern zu. Folgt mir! Ich will Euch führen, der Wind steigt aus den Trümmern. Die neue Welt bricht an.' Das Starke cm dieser Dichtung ist die Leidenschaft des sittlichen Willens, die im fortreißenden Pathos der Rede glüht. Die Worte sind Kraft und Flammen, heiliger Zorn und reiner Glaube. Die Gestalt der Antigone ist von seelenhafter Schönheit; die übrigen Figuren aber bleiben im Skizzenhaften. Herr Moest wurde leider der gewiß nicht leicht zu lesendeu Dichtung nicht ganz gerecht.
Notizen. — Volksbühne. In Kleists.Hermannschlacht', deren Erstaufführung am Freiiag stattfindet, wirken in den Haupl- rollen Decarli, Pünkösdy, Dregelmann, Wintcrstein, Krautz und Deutsch. — K l e i n e S T h e a t e r. In der am Donnerstag stattfindeu- den Uraufführung von„ N a n t e' werden die beiden volksiüm- lichsn Figuren aus dem alten Berlin , der Eckensteher Nante und der Rentier Buffey, von Alfred Abel und Lupu Pick ge- spielt. — Verband zur Förderung deutscher Theater- kultur. In Dorrmund wurde die Bildung eines ProvinzialauZ« ichusies für Westfalen beschlossen, der während des Krieges in Ver- bindung mit dem stellvertreienden Oberkommando des 7. Armeekorps Münster ein westfälisches H e i m at fr o n t t h e a t e r ins Leben rufen wird. Dieies Theater soll am 8. Februar im Hildes« heimer Stadttheater eröffnet werden. — Unterrichtskurse in Dänisch. Norwegisch und Schwedisch hälr an der Humboldt-Akademie Freie Hochschule Dozent I. H. Andresen in der Georgenstr. 80/31 und Niederwall« 12 an den Dienstag-, Donnerstag- und Freiiag-Abenden. — Neue große arktische Inseln nordwestlich von Banklsand hat Stesansson nach einem Telegram au« Fair- bauks in Alaska im Frühjahr 1913 entdeckt. Er macht aus sie An> spruch für den kanadischen Staat.
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Töchter öer Hetuba.
Ein Roman aus unserer Zeit von Clara Biebig. Annemarie war achtzehn. Immer kann man doch nicht traurig sein. Und der Krieg mußte doch auch einmal ein Ende nehmen, und dann würde alles wieder gut. Daran. daß ihr Bater dann nicht mehr da sein würde, dachte sie nicht. Wenn die schlauke, gesunde Junge vorm Spiegel stand, lächelte ihr ein roiiges Gesicht mit strahlenden Augen ent- gegen; das Blaß, daß der Kummer um den Bater und die knappe Zeit bei der Mutter darauf gelegt, war hier bald ganz verschwunden. Mit Schwärmerei sah sie zu Frau Bertholdi auf. Die war ihr das Ideal der großen Dame. Die trug so schöne Kleider, wie sie kaum welche gesehen— die Bekannten in Koblenz trugen sich viel einfacher.— Es kam ihr unendlich vornehm vor, so lange im Bett zu liegen und sich vom Mädchen frisieren zu lassen. Oft ruhte ihr Blick be- wundernd auf Frau Bertholdis wohlgepflcgten weißen Händen mit den spitzgeschniltrnen blanken Nägeln und den vielen Ziingen. Die Hände ihrer Mutter waren nicht so geschont gewesen und außer dem Trauring war kein Schmuck daran. Die arme Mutter hatte sich immer sehr plagen müssen— schrecklich, wenn es nach was aussehen soll und ist doch nichts dahinter l Jetzt überlief Annemarie oftmals ein leiser Schauder, wenn sie an manches zurückdachte. Nun, da sie das Behagen des Wohlstandes kennen gelernt hatte, kam ihr manches, was ihr früher begehrenswert erschienen>uar, ja einzig-erstrebens- wert: eine solche Heirat, wie ibre Mutter getan, furchtbar vor. Sie dachte an Heiraten, sie mußte daran denken, sie wußte: ich habe nichts gelernt, und Geld habe ich auch nicht, ich habe nur mein hübsches Gesicht, meine schöne Gestalt und vieine achtzehn Jahre.— Hedwig verzog sie. Alles, was sie an Zärtlichkeit wäh- rend ihres Alleinseins aufgespeichert hatte, schüttete sie über das Mädchen aus. Was für erbärmlich geschmacklose Fähnchen hatte Annemarie mitgebracht! Und sie fuhr mit ihr nach Berlin und stattete sie aus, und alles mußte Anne- matte sehen, und sie weidete sich an ihrem Entzücken. Nun war es fast, als ob kein Krieg wäre, und fast so, als ob sie wieder mit jung würde. Dieses Lachen des Mädchens, dieses tonende, sorglos-rheinische klangerfüllte Lachen!
Kein Brief ging ins Feld an die Söhne, in dem nicht von der„Pflegetochter" ausführlich die Rede war. WaS Annemarie dachte, was sie sagte, was sie tat, wie sie aussah, wie sie andern gefiel, alles war wichttg. ,Ein reizendes Mädel/ schrieb Bertholdi, als seine Frau ihm eine Photo- graphie einschickte. Auch an Heinz ging eine—.Sieht famos aus,' schtteb er. Und an Rudolf. Der erwähnte aber nichts weiter davon. Und das kränkte die Mutter. Ach, ihr Jüng- ster hatte sich doch sehr verändert— überhaupt beide Söhne. Sie fragten kaum mehr: wie steht es zu Hause? Sie waren dem.Einst' völlig entrückt. Als ob es nichts anderes auf der Welt mehr gäbe als.Unterstand, Schützengraben, Minen, Volltreffer, Handgranaten. Gasangriffe'. Und mit einer Kaltblütigkeit, die sie wie Roheit berührte, beschrieb Rudolf, er, der keinem Tier etwas zu leide hatte tun können, der die Vögel im Winter gefüttert, der jeden Hund ge- streichelt, das schreckliche Ende des Feindes, der in seinen Graben eingedrungen war. Die Mutter sorgte: zu lange schon waren sie aus der geordneten Häuslichkeit fort, es wurde Zeit, daß der Krieg aufhörte, damit die Söhne wieder zurückkehrten ins bürgerliche Leben, zu ihren Studien, zu ihren früheren Interessen. Es war ihr manchmal, als seien das ihre Söhne nicht mehr, an die sie schrieb, als seien es frenrde Männer. Längst erwachsene, hatte Männer, ihrem Einfluß, dem Einfluß alles Weicheren entzogen. Das waren die Jungen nicht mehr, denen der Abschied so schwer ge- fallen war. Noch sah sie ihres Rudolf junges Gesicht vor sich mit den Lippen, die so blaß geworden waren. Es hatte seltsam gezuckt in seinen Zügen— wollte er weinen?„Meine liebe Mutter,"— er hatte die Arme nach ihr ausgestreckt. der Zug fuhr ab. Würde sie es denn noch einmal hören, ebenso weich und innig:„Meine liebe Mutter?" Aber Annemarie, der sie die Briefe der Söhne vorlaS, fand es ganz selbstverständlich.„Die müssen doch anders werden, sonst schaffen sie's nicht. Ich finde eS herrlich so. Ich wünschte, ich könnte auch dabei sein!" Und sie fing ein Lied an zu trällern, das sie oft gehört, wenn die Soldaten an ihrem Haus in Koblenz vorbei marschierten, wer weiß wohin, in den Krieg: »Musketier seins lust ge Brüder, Haben guten Mut, Singen lauter lust'ge Lieder Seins den Mädeln gut. Fidera, fidera, fiderallalla!'
Rasend tobte die Champagneschlacht. Es kamen viele Züge durch mit Verwnudeten, lange Lazarettzüge mit dem groß aufgemalten, weithin sichtbaren Roten Kreuz. Manche Nacht fuhr Hedwig Bertholdi jäh erschreckt aus dem Schlaf auf— ihre beiden Söhne standen im Westen— durch die tiefe Stille der Vorortnacht tutete die Dampfsirene vom Turm des Feuerwehrgebäudes ihr klagendes, schauerlich-hohles Signal. Es brannte nicht, es wurden Verwundete auch hier auS- geladen. Die größeren Schüler waren zur Hilfeleistung aufge- boten; die Schülermütze schief auf den Knabenköpfen, am Arm die Samariterbinde, stürmten sie mit ihren Tragbahren zum Bahnhof. Manche Mutter sah ihnen angstvoll nach: Wenn der Krieg noch lange dauerte, kam auch ihr Junge noch daran. Zitternde Gebete sttegen auf zum nächtlichen Himmel. Der stand wunderbar friedsam und herbstlich hoch über der Erde. Er ließ seine Sterne geruhsam glänzen, wie klare Augen, die alles sehen und die nichts kann er» schrecken. Aber den Menschen gab das stille Leuchten da oben von seiner Ruhe nichts ab. Glaubte man nicht Gebrüll zu ver- nehmen, Gebrüll von Kanonen, Gebrüll von Menschen? Wimmern von Granaten, die in Stücke springen, und Wimmern von Menschen, die durch sie zerrissen werden? War die sonst hier so reine, ländliche Luft nicht voll von Pulverdampf, von erstickenden Gasen und Blutgeruch? Nein, bis hierher drang nicht das Toben der Schlacht und ihre schauttgen Dünste, und doch war man mit dabei, mitten in ihr wie in den Schützengräben, und mitten zwischen den stürmenden Kolonnen. Mit all ihren Schrecken war die Oktoberschlacht bis hierher gekonimen. Man wagte nicht frei mehr zu atmen: kamen die Feinde durch? Es waren ihrer so viele: Franzosen , Engländer und all das schwarze Gesindel. Würde es ihnen gelingen, die Unseren z» übe?» rennen? Eine bohrende Angst kroch in die Herzen hinein wie ein Wurm und höhlte sie aus. Die, die nichts mehr zu ver- liereu hatten, startten wehmütig auf die anderen hin; sie kannten es: wer von jenen würde zuerst vergeblich auf Ant- wort harren? Wer bekam dann den Bttef zurück:.Auf dem Felde der Ehre gefallen'? Beneidenswert die Mutter, die dann noch Näheres hötte, die erfuhr, wo ihr Kind gebettet war. Nicht allen ward eS so gut. Worts, folgt.)