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Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Voaaerstag, 7. Jebruar
Vergißmeinnicht und /lffe. Ein Beitrag zur deutschen Soldatensprache. Von Dr. I. S t a n j e k. Der Name des zarten, durch das herrliche Blau seiner Blüten ausgezeichneten Blümleins Vergißmeinnicht, das uns so oft schon auf der blumigen Wiese oder am Rande deS murmelnden Baches entzückt hat und das unsere Dichter und Sänger so überaus häufig als das Sinnbild herzlicher Liebe und treuer Anhänglichkeit ge- feiert haben, muß in der schweizerischen Armee dazu herhalten, um ein sehr wichtiges militärische» Ausrüstungsstück zu bezeichnen, den — T o r n i st e r. Sine ähnliche scherzhafte, ja noch derbere Neber- tragung hat sich der Name des blauen Blümleins in unserer Volks- spräche gefallen lassen müssen. Blaue Flecke im Geficht, die jemand bei einer Prügelei davongetragen hat, werden ebenfalls„Vergiß- meinnicht" genannt, weil sie einen blauen Denkzettel an den GÄer darstelln sollen,„Sonst sollste mit Verjißmeinmcht handeln", lautet eine oft gehöric Drohung in der Sprache des richtigen Berliner ?, in der deutlich genug der Hinweis auf die blauen Flecke zu erkennen ist. Offenbar rührt die humorvolle Bezeichnung des Tornisters in der schweizerischen Soldatensprache als Vergißmeinnicht ebenfalls von blauen Flecken her, die er in vollbepacktem Zustande oft genug auf dem Rücken seines Trägers hervorruft. $11 der deutschen Soldatensprache Gell! seit jeher die Bezeich- nung„Asse " die beliebteste Benennung für den Tornister dar. Auch hier liegt ein hübscher humorvoller Vergleich vor: man denkt an den Affen, der dem Gaukler auf dem Rücken oder auf der Schul- ter hockt. Louis Schneider spricht in dem von ihm begründeten „Soldatenhort" diesem Affen des Soldaten einen besonders„hinter- rücksschen Charakter" zu,„weil er die Leute hinter ihrem Rücken" schikaniert. Aus dem Feldzuge 1870/71 wird uns die Redensart „den ollen Affen verkaufen" in der Bedeutung von„den Tornister ablegen" überliefert. Vergleich« aus der Tierwelt sind ja bekannt- lich im militärischen Leben besonders häufig. Aehnliche zoologische Benennungen, wie sie noch heute auf den Exerzierplätzen umher- schwirren— man denke nur an die unzahligen Rhinozerosse, Hammel und Kamele in der Lieblingssprache der Unteroffiziere—, waren schon. den altrömischen Legionssoldaten geläufig. Bekannt sind auch die Maulesel des Marius, wie der Humor der römischen Krieger die von dem Feldherr» Marius zum bequemeren Tragen und Ablegen des Gepäcks eingeführten Gestelle benannt hat. Bei den Landsknechten hieß der Harnisch Krebs, und wie häufig be- gegnen uns zoologische Namen in der heutigen feldgrauen Sprache! Da gibt es Küchenhengste und Küchenmokbe, Laubfrösche und Wasserratten(die erste Bezeichnung tragen die Jäger, die zweite die Angehörigen der Marine). Feldkaninchcn nennt man die Feld- artillerie, Maulwürfe die Pioniere, Karbolmäuschen die stets hilf?- bereiten Schwestern vom Roten Kreuz, Gefechtsesel heißt das Pferd des 5kompagnieführers allgemein, Himmelsziege, wenn es dem weiblichen Geschlecht angehört, Dienstmops wird das Dienstpferd genannt usw. Der Tornister der Jäger hat die offizielle Bezeichnung „Dachs"; zu den Bezügen der Jägertorister wurden früher aus- schließlich Dachs fell « verwandt. Da die Zunahme der Dachs« in Deutschland mit der der militärischen Jäger nicht gleichen Schritt gehalten hat, so gelangt jetzt bei der Herstellung dieser Art von Tornistern vielfach Dachsfellcrsatz, sei es in Fellen oder aber in fellähnlichen Ersatzstoffen, zur Verwendung, ivas aber den tveitercu Gebrauch der amtlichen Bezeichnung„Dachs" für diese Art von Tornister nicht hindert. Hier also hat ein Tiername sogar die Be- deutung einer offiziellen Bezeichnung für einen militärischen Aus- rüstungsgegenswnd erhalten. Außer dieser Benennung und der humoristischen Bezeichnung „Affe" gibt es aber noch eine groß« Anzahl weiterer Kosenamen für den Tornister, die alle von der reichen schöpferischen Kraft der Soldatensprache und zumeist von ihrem unverwüstlichen Witz und Humor ein beredtes Zeugnis ablegen. Aus der Fülle dieser Namen seien die folgenden angeführt: Kasten, Rheumatismuskasten, Kam- mode. Universalkommode, BundeSlade, Spind, Glasschrank, hol- zerner Ofen, Musterkoffcr, Verdrußkoffer, Rückenwärmer, Lager- schuppen, Schwindsuchtskommode. In Bayern sind besonders die Bezeichnungen Fell, Kaibel und Muckel im Schwange, die schweize- rische Soldatensprache kennt außer der zu Eingang dieses Artikels behandelten hübschen Bennenung„Vergißmeinnicht" noch die nicht minder eigenartigen Bezeichnungen der Alt, der Fründ, Reise- nezessärlei, Schweißkasten, Oergeli, Druckli, Kathri und Liebsti. Di« meisten dieser Namen erklären sich von selbst; der bei schlesischen Truppen verbreitete Ausdruck hölzerner Ofeg deutet darauf hin, daß dieser Ofen seinem Träger trotz der fehlenden Feuerungsanlage gehörig einheizt; man kann sich bann bei plötzlicher Abkühlung den Rheumatismus holen oder sich die Schwindsucht an den Hgls jagen, daher die Bezeichnungen Rheumatismuskasten und Schwindsuchts-
kommod«. Der Name Spinb ist verwandt mit dem niederländischen Wort spinde, daS„Speiseschrank" bedeutet und mit den Wörtern unserer Sprache spenoen und Speise auf denselben Ursprung zu- rückgeht. In einem Spinde in der Kaserne bewahrt ja der Soldat auch sein Kommißbrot und die übrigen ihm etwa zur Verfügung stehenden Speisen auf; den hauptsächlichsten Raum im Soldaten- spinde beanspruchen aber nicht die Speisen, sondern die übrigen Kommiß- und.,EigentumS"-Sachen. Auch im niederdeutschen Sprachgebrauch bezeichnet das Wort„Spind" von Hause aus einen Speiseschrank, wie dies beispielsweise der. schöne Vers zeigt:„Ber - schwinde, verschwinde, wie die Wurst im Spinde!" Es ist also eigentlich eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, wenn der Sol- dalenschraiik in der Kaserne die offizielle Bezeichnung„Spind" führt. Wenn der Soldat im Felde diesen Namen auf den Tornister übertragen hat, so erhebt dieses Feldspind noch weniger Anspruch darauf, ein Speiseschrank zu sein, auch wenn es die sogenannte eiserne Portion enthält oder wenigstens enthalten soll. Die bayerische Bezeichnung„Kaibel" bedeutet soviel wie Kälb- chen; ungegerbte Kalbfelle wurden früher fast ausschließlich zum Bezüge der Tornister verwandt; später hat man bei dem sich unge- heyer steigenden Bedarf an Tornistern zu Ersatzmitteln greifen müssen. Von den zur Bespannung der Trommeln verwandten ge- ? erbten Kalbfellen ist die letzte Bezeichnung auch auf die Trommel ekbst übertragen worden. Der Name„Muckel" ist die liebevolle ironische Uebertragung eines in Bayern häufig gebrauchten Kose- namens auf den gewiß nicht oft mit zärtlichen Empfindungen getragenen Tornister. Oberschlesische Soldaten nennen ihren Tornister auch Ke ister; sie ahnen nicht, daß sie hier einen Ausdruck gebrauchen, där dem griechischen Ursprungsworte Uifferer Bezeichnung Tornister am nächsten steht. Denn das Wort Tornister ist aus dem griechischen Worte kanistron abzuleiten.das mit seiner Nebenform Kanastron von Kann«(Rohr) herstammt und soviel wie einen aus Rohr ge- ftochtenen Tragekorb bezeichnet. In solch« aus Rohr geflochtenen Körbe verpackten die Spanier einst den Tabak, den sie aus ihren amerikanischen Kolonien nach Europa sandten, und von dem spani- scheu Worte canast, das heut« im allgemeinen einen Warenkorb be- zeichnet, erhielt bei uns der Rauchtabak den Namen Knastertabak. Die Form kanistron wurde in die byzantinisch« Militärsprache aufgenommen und nahm in dieser die Nebensorni tanistron an. Die letzte Form ging als militärischer Ausdruck aus dem btMntini- scheu Griechischen die südslawischen Sprachen über und von einem der slawischen Völker ubernahmen wir die T a n i st r a als wichtiges militärisches Ausrüstungsstück unter Umwandlung des Wortes in To r n i st e r. Aus der ursprünglichen griechischen Form kanistron aber entwickelte sich die siaunschc Bezeichnung kaistra für eine auf dem Rücken zu tragende Schultasche, die uns auch heute noch in dem in Oderschlesien gesprochenen sog. Wasserpolnisch begegnet und das dann in der Form Kaister in die Sprache der deutsch sprechen- den Oberschlefi«: aufgenommen worden fft. Die Worte unserer Sprache haben gar oft ganz merkwürdige Geschicke erlebt. Am meisten aber muß es sicherlich unsere Feld- grauen überraschen, daß die beiden Worte Knaster und Tornister, die in ihrem Leben heut« eine besondere Rolle spielen, und die in den Bedeutungen voneinander grundverschieden sind, ihren Ur- sprung von einem und demselben griechischen Worte herleiten.
,Z>fo Verlobung bei der Laterne". Erstaufführung im Deutschen Opernhaus . Die Leitung des Deutschen Opernhauses läßt sich mit Recht die Pflege Offenbachs angelegen sein. Neben seinen Meister- Operetten und Opern sind dort dem Berliner Publikum auch bereits verschollene Einakter-Singspiele vermittelt worden. Sie stammen. wenn man so sagen kann, aus der ersten Schaffensperiode Offen- Vachs, als«s für ihn. den kleinen Ttzeatsrdirettor galt, sich nicht bloß final, ziell über Waffer zu halten, iondern die Pariser an seine Art zu gewöbuen und, was die Hauptsache war, sie für burlesk- satirisch gehaltene, abendfüllende Operetten aus seiner Feder empfänglich zu machen. Nun sind ja jene Singspiele zumeist ziem- lich barmlose Kleinigkeiten, mehr kann man auch die ländliche„Per- lobung bei der Laterne" nicht nennen. Aber Offenbach , der Musiker, interessiert darin schon im hohen Grade; ja sein«, niez mals und von keinem späteren Komponisten mehr erreichte Eigenart offenbart sich schon hier, sowohl in den Orchesterstücken, als in den wenigen GeiangSmelodien und Couplets. Das Trinklied, die Zank- und Prügels, ene der beiden heiratslustigen, gegeneinander eifer- süchtigen Landschönen, endlich das Quartett sind reizende Köstlichkeiten des Offenbachschen Humors. Die Aufführung beweist die Kurzweiligkeit diese« kaum eine Stunde in Anspruch nehmende» Werkchens auch noch beute. Man hätte ja wohl manche» parodistischer herausarbeiten können. Bei- spielsweise gleich die beiden Weibien: als feiste„Nudel" die eine.
als magere Hopfenstange dt« andere, wie st« uns noch von der Aufführung unter Gregor In der Komischen Oper vor ungefähr zwölf Jahren im Gedächtnis hasten. Indessen find die Damen F l e i f ch e r- W o l f als jungfesche Witwen auch nicht übel. Dazu gibt Harry Eteier den Peter mit erfrischendem Humor und Lotte Ste-tn asfistiert annehmbar als naives Muhmchen. ok. «in SerUuer Mnachtsscherz in alte« Zelt. Ecke Liesenstraße und Chausseestraße existierte noch bis bor etwa vierqia Jahren ein großer Wirtshaus garten,— jetzt stehen große Geschäftshäuser dort,-.Bei LicsenS", von welchem Per- anügungsloknl die erstgenannte Straße ihren Namen erhalten hat. Hier fanden viele Volksbälle statt, auch sogar im Sommer, denn mitten in, Garten Ivar ein sogenannter Pariser Tanzplatz, eine be- tonierte Fläche, auf der im Freien getanzt wurde. Muten durch diesen Garten floß die Panke . die noch übrigens an jener Stelle in der Chausseestraße sichtbar ist. Hier soll sich nun einmal Ende der zwanziger Jahre em elser- süchtiger Friseurgebilfc. als er seine Liebste mit einem Andern auf den Fastnachtsball � bei Liesen? gehen sah, in die Panke gestürzt haben So behauptete natürlich nur der FastnachtSscherz und wahrscheinlich lediglich zu dem Zweck, um den Satz„Er stürzte sich bei Liesens in die Panke " in drolliger Weise verdrehen zu können, und zwar in folgender Weise: „Er lieste sich bei PankenS in die Stürze.' „Er lankte sich bei Pürzen« in die Stiese.' „Er pankte sich bei Stürzen« in die Liese.' „Er stürzte sich bei Stiesen« in die Lank.' „Er stirste sich bei LankenS in die Pürz«.'. So ging es weiter. Diese Verdrehungen grassierten Jahre lang i bielleicht waren sie vom Besitzer des Vergnügung« lolalS in Berkehr gebracht worden als Reklan,-mittel. Harmlose« Berlin von anno Dazumal, da« an solchen Scherzen sein Vergnügen fand. katholische SibliothekstStigkeit. Ein in ihrer Rührigkeit vorbildliche Organisation ist der „Verein vom heil. Karl Borromäus ' in Bonn , die BibliothekS- organisation der Katholiken. Nach dem Jahresbericht für 1916 hat er noch dem starken Rückgang im Jahre 1915 wieder 20 175 neue Mit- glieder gewonnen und damit einen Mitgliederstand von L48 849 erreicht;'dagegen ist die Zahl der Vereine um 46 auf 4449 zurück- gegangen. In den Bezirken Trier , Münster , Paderborn und Köln sind 2.2 bis 2,1 Pro,, der katholischen Bevölkerung im Berein. JnS- geiamt verteilte er 482 412(i. V. 401 493) Bücher. Die berichtenden 3243 Bereine(73 Proz.) hatten einen Bü-berbestand von L 179 282 Bänden, darunter ivaren 194 546 neue Bücher. Ausgeliehen wurden 9149 650 Bände<1,2 Millionen mehr als im Vorjahre). Von den OrtSvereinen wurden rniS eigenem 127 000 M. für die Bibliotheken aufgewendet. An der Zentrale wurde ein literarischer und technischer Kursus abgehalten, der von 200 Personen besucht war. In den Bereiuen sind u. a. 292 Konferenzen abgebalten worden. Wie der BorromäuSverein in die Breite wirkt, darüber noch folgende Zahlen: In den letzten 8 Jahren haben die berichtenden Bibliotheken nahezu 37 Millionen Bücher ausgeliehen! Zur Ber- sorgung der Soldaten mit Lesestoff wurden bis 31. Dezember 1917 nickt weniger al« 8 Millionen Bücher und Hefte versandt, darunter 1 354 314 Bü»er! Monatlich verlassen 190900 Bücher und Hefte die Sammelstelle! Die Größe der Zahlen darf allerding« nicht darüber hrnweg- täu'chen, daß man diesen Aufwand nickt als einwandfreie Volt«- bildungsarbeit bücken kann. Alles ist auf konfessionelle Beeinflussung angelegt, die an Zielsicherheit aber alles hinter sich läßt, was von anderer Seite auf dem Gebiete des Vibliotdeköwesens geschaffen worden ist. Die Arbeiterbibliotbelen stehen organisatorisch jeden- falls nock weit dahinter zurück, während ihre Bildungsarbeit unver- gleichlich höher zu bewerten ist. Notizen. — Borträge. Im Deutschen Monistenbmrd spricht Freitag 8V« Uhr im Pschorr-Haus, Tauentzienstr. 13/1 Dr. O. Stillich übir: da« Probien» der Entwicklung und des Fort- schritt«.— Pros. Rassow au« Leipzig spricht am Freitag in der Reihe der Gclehrten-Borträg« über„die deutsche Chemie im Kriege" in der Urania . — K u n st ch r o n t k. Die Zeitschrift„Die Aktion' deranstakiet vom 6. bis 20. Februar Kaiierallee 222 eine Ausstellung von Werken de« Münchener Malers Heinrich Strohmryer. — Ein Deutsche « Erfindung Sinstitut. Eine ge- meinnützige Orgaiitiation der Ersinderiatigkeit in Deutschland ist da» Ziel einer Gesellschaft, die in Gieße» begründet wurde. Sie ging aus Anregungen der in Frankfurt erscheinenden bekannten Wochenschrift„Umschau" hervor.
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Töchter der hekuba.
Ein Roman aus unserer Zeit von Clara Biedig. „Ach Gott . Fräulein Hieselhahn!' Das kleine Gesicht der Frau erschien heute noch kleiner.„Gretchen ist nicht da." „Hat sie noch Dienst?" „Dienst? Sie ist doch gar nicht mehr auf dem Amt. Wissen Sie daS denn nicht?" Die Mutter war sehr er- staunt. „Ich habe sie lange nicht gesehen." „Und ha sagt sie doch immer, sie ginge zu �hncn. Gott nee, Fräulein Hieselhahn",— die Frau fing plötzlich an zu weinen:„ich weiß gar nicht, was das mit Gretchen ist. Sie ist zu nervös. Bald sagt sie so, bald sagt sie s o. Sie war 'ne Weile beurlaubt, jetzt haben sie sie aber ganz entlassen. Der Dienst ist auch zu schwer..Mutter', sagt sie. ,du glaubst gar nicht, was alles zusammentelephoniert wird. Und dabei hat man doch auch seine eigenen Gedanken.' Ich bin froh, daß sie den Beruf aufgegeben hat. So schwer es auch für mich ist; ich muß nun für alles alleine aufkommen." „Sie wird sich ja bald verheiraten," tröstete Gertrud. »Meinen Sie?" Die verängstigten Augen der Mutter wurden noch verängstigter. »WaS hört sie denn von ihrem Bräuttgam? Geht es ihm gut? Kommt er nicht bald her?" »Fräulein Hieselhahn," die Frau trat ganz dicht an sie heran und flüsterte,„das ist es ja gerade! Bald sagt sie: ,Er kommt übermorgen,' und lacht und freut sich wie toll— bald sagt sie:.Er ist verwundet," und hat sich wer weiß wie. Und dann sagt sie wieder: ,Er kommt nie l' und weint sich halbtot. Fräulein, �ich sage Ahnen, man kann verrückt drüber tverden. Das war ja noch nicht mal so schlimm, als mein armer Mann damals so lange krank lag an Wassersucht und dann stark als wie ich es jetzt mit Gretchen habe. Denken Sie bloß, fällt sie doch neulich einem Feldgrauen um den Hals, der hier im Laden steht und sich Zigarren kauft. Sic hat einen Aufschrei dabei ge- tan, der gellt mir noch in den Ohren. Der Mann hat sich eins gelacht:.Man»ich so stürmisch',—'» war eiu ver- heirateter Mann, gar nich mehr jung. Sie hat ihn � nur von hinten gesehen, die Feldgrauen sehen sich ja alle gleich.
Aber dann hat sie sich eingeschlossen. Vergebens habe ich an der Tür gebettelt:.Mach doch mal auf!' Ich hatte richttge Angst. Und dabei muß man doch hier im Laden stehn und freundlich fein, und kann noch nicht mal sagen warum man falsch zusammenrechnet oder nicht richtig 'rauSgibt. Die Angst sitzt mir noch in den Knochen, ich werd' sie gar nicht mehr los. Wenn bloß der Krieg bald ein Ende hätte!" „Ich muß jetzt gehen." sagte Gertrud beklommen. „Ach bleiben Sie doch noch'n bißchen," bat die Frau, „sie wird ja vielleicht gleich kommen." „Wo ist sie denn hin?" „Das weiß ich nicht, fragen darf ich Fa nicht, dann wird sie böse. Ich mutz sie ganz gewähren lassen. Aber so schlimm wie jetzt war'S noch nie: immer an ihn schreiben, nichts als an ihn schreiben und Paketchen schicken. Sie glauben gar nicht, was sie alles schickt: Kuchen. Schoko- lade, Pral'inees, Cholcratropfen. Pfefferminz. Wurst, Strümpfe. Sie spart sich's vom Munde ab, wir haben's ja auch nicht dazu." Die Frau rang die Hände:„Fräulein, ich weiß nicht, mir ist es so bange!" Bange war es auch Gertrud Hieselhahn. Wenn man Gretchen doch nur beeinflussen könnte, daß sie ruhiger würde! Noch dachte Gertrud darüber nach, als sie sich plötzlich von zwei Armen stürmisch umschlungen fühlte, ihr Schritt wurde gehemmt.„Trude!" Da war ja Gretchen! Heiße Küsse brannten aus ihrem Mund. „Fein, daß ich dich treffe! Ich bin so glücklich, so glück- lich. Trudchen. nun kommt er bald, nun machen wir Hoch- zeit! Heut war ich bei Hertzög, Hab' mir weiße Seide zum Kleid gekauft. Schön bin ich ja nicht, das weiß ich. aber dann werde ich schön sein. Trudchen. Trudchen!" Immer wieder umarmte sie die Freundin; ihre Augen glitzerten im Halbdunkel der trüben Straßenbeleuchtung. »Hat er denn geschrieben, wann er kommt?" „Noch nicht genau. Aber weißt du—" Margarete Diettich hing sich schwer an den Arm der andern und ging mit ihr weiter—„heute nach Tisch hatte ich. mich'n bißchen hingelegt, ich war eingenickt, da trat er ins Zimmer. Er kam iu mir ans Bett. Er beugte sich über mich und gab mir'n !uß— o, Gertrud!" Sie holte ttef Luft, ihre Arme zitterten, eS lief ein Schauer über ihre ganze Gestalt.»Und er sagte:
.Halt dich bereit— ich komme!' Da bin ich gleich auf- gestanden, Hab mich fertig gemacht und bin nach Berlin zu Hertzog gefahren. Einen Myrtenkranz habe ich mir auch gleich besorgt. Willst du mal sehen, Trudchen?" Sie wollte eine Rolle und ein Kästchen, da? sie trug, aufmachen. „Nein, nein, jetzt nicht!' Gertrud wehrte hastig ab, das Mädchen war ihr unheimlich.„Geh nach HauS, Gretchen, deine Mutter ängstigt sich um dich." Die Dietrich schüttelte ungeduldig den Kopf.„Laß sie warten! Ich Hab ja auch warten müssen. Du"— sie drängte sich dicht an die andere—„willst du dir nicht doch den Ltranz ansehen und daS Kleid? Sie sind so schön. Komm, da unter die Laterne!" Gertrud riß sich los.„Geh nach HauS, ich muß auch nach Haus!" Sie rannte davon, sie hörte nicht mehr, was die andere ihr drein schrie. Von unbestimmtem Grauen durch- rieselt, lief sich schnell. O Gott, der Krieg, der Krieg— die war ja ganz verstört! Scheu � sah sie sich um: hörte deun nicht auch sie heute abend überall Gefüistcr? Unterdrücktes Lachen, ein Geräusch wie vom Küssen? In der Dunkelheit schlichen die Pärchen. Sie hatten der frostigen Luft nicht acht und nicht des Schmutzes der Straße. Die Kriogsbräute hingen ihren Soldaten am Halse. Seit Anfang Winters war Militär her verlegt, die Einsam- keit de? Vororts Ivar wie gemacht zu Licbcständeln. Wer ging � denn hier sonst noch über die abendlich verödete Straße?! Niemand störte den Soldaten und sein Mädchen. Manch einer, der zu Hause schon eine Braut sitzen hatte, fing jetzt noch einmal aufs neue an. Der Krieg drängt zum Leben. Je grausiger draußen das Grausen, desto zärtlicher drinnen die Zärtlichkeit. Und man mußte die Zeit, die noch blieb, ausnutzen. In den dunklon Alleen standen sie— wenn die Bäume auch jetzt entlaubt waren, die breiten Stämme gaben doch Schutz.— In die Türnischen der Villen drückten sie sich. hinter den Gittern der Gärten verbargen sie sich. Es war kalt, und doch ging es wie ein Odem der Erbitzung durch die Winternacht, ein Wind der Aufregung peitschte die kahlen Aeste und die Seelen der Menschen. Gertrud war jetzt draußen auf der Chaussee, von den Feldern wehte es, schnob sie an, als sei sie nackt und bloß, und zerrte an ihrem Leide.(Forts, folgt.)