Nr. 54— t41§
Unterhaltungsblatt des vorwärts
SotiftßbertS, 23. Jebrua?
Rätselhafte Grgane öes Meafthen. Bon Dr. van Troy.
Hatte man noch vor weniger als zwei Jahrzehnten geglaubt. nicht nur olle Organe des menschlichen Körpers zu kennen, sondern auch über ihre Bedeutung und ihre Funktion orientiert zu sein, so haben die Forrschrilre der Forschung gezeigt, dag diese Anschauung aus einem Irrtum beruhte. Nicht nur sind— io merkwürdig es klingen mag— überhaupt� noch neue Organe ausgefunden worden, wie die in der Nähe der Schilddrüse befindlichen'Nebenschild- d r ü s e n oder Epithelkörper, sondern eS hat sich auch er- wiesen, datz eine ganze Anzab! von Organen, die man zwar kannte, aber für nutzlos und überflüssig hielt, geradezu lebenswichtige Funktionen auszuüben haben. Dazu gehören vor allen Dingen die genannten Epithelkörpcr nebst der Schilddrüse, der Hirnanhang oder die Hypophysis, der TbvmuZ oder die Brie- und die Neben- nieten. All diesen Organen gemeinsam ist, daß sie chemische Pro- dukte in den Blutkreislans absondern. Daher der Name„Driiien mit innerer Sekretion"— und auf ferne Organe im Körper einen Einfluß ausüben, dergestalt, daß sie hemmend oder reizend wirken. Zwei Beispiele mögen als Jllustralion dienen: das Sekret des hinleren Lappens der Hypophysis wirkt weit entfernt im Körper auf die Muskulatur des schwangeren Uterus und erzwingt >n ihr Kontraktionen, d. h. Wehen , die für die Geburt des Kindes notwendig find. Der Extrakt der Hhvo- vhysts ist daher als geschätztes,'wehenbeförderndes Mittel in die Geburtshilfe aufgenommen worden. Aber so klein auch die an der Gehirnbasis sitzende Drüse ist. so eingreifend und mannigfach ist ihre Tätigkeit. Der vordere Lappen dient noch ganz anderen Funktionen. Sein Sekret übt einen starken LRlchStumsreiz aus. Ja bei krankhaiten Veränderungen diese- Gewebeabschnittes, wie z. B. bei Geschwülsten, wird wahricheinlich infolge einer reich- licheren oder konzentriertercn Absonderung dieser Wacb-tumsreiz so mächtig, daß auch bei eiwachienen Menschen einzelne Gliedmaßen oder Körperteile ins Ungemessene zu wachten beginnen. Dies sind die Erscheinungen des sog. Niesenwuchfos oder der Akro- in e g a l i e. Nicht bei allen Drüsen mit innerer Sekretion liegen aber die Aerhältnisie so, daß man schon heute ihre Funktion aus direktein Wege ermitteln könnte. Vielmehr rührt der Forlschritt unseres Wissens von der Erkenntnis der Ausfallsericheinungen her, die auf- treten, wenn die Drüie gar nicht oder falsch arbeitet. Man weiß schon seit längerer Zeit, daß nach totaler Entfernung der Schild- brüse bei Kropsoperationcn der Oraanismus deutliche Verände- mngeu, das Bild des sogenannten Myxödems zeigt. Die Haut wird teigig und schwillt an. Dabei wird sie trocken, die Haare fallen aus. Zudem nehmen die geistigen Fähigkeiten des Patienten ab. und eö entsteht das, was man einen Kretin nennt. War das«rkrankle Jndividnum in einem Alter, in dem das Wachs- tum noch nicht abgeschlossen war, so bleibt eS nach Entfernung der Schilddrüse dauernd im Wachstum stphen. Dafür, daß es wirklich Ausfallserscheinungen von feiten der Schilddrüse sind, kann der schlagende Beweis durch Behandlung solcher Kranken mit Schild- drüsenexlraklen erbracht werden, dann geht das Myxödem zurück, und jene erhalten ,hr nonmales Aussehen wieder. Aber die moderne Chirurgie bat diese Konsequenzen überhaupt zu um- gehen gelernt. Man verzichtet, bei den kropfigen Er- Irankungeu der Schilddrüse darauf, das ganze Organ zu ent- fernen, sondern läßt einen Teil, der möglichst unverändert ist, stehen. Dieser zerniert dann das spezifische Produkt der Drüse, da? eirze Jodphosphoreiweißverbindung, das Thyrevidin ist. Bei der toialen Ausrottung der Schilddrüse ist cs zu sehr Übeln Zufällen nicht selten dann gekommen, wenn die Operierten noch in jugendlichem Alter standen. Es traten Kämpfe auf, die zum Tode führten. Lange bat man nach den Ursachen dieser Erscheinungen gesucht. Schließlich kam man durch Ueber- legungen und Experimente darauf, daß die oben erwähnten Neben- oder Anhangsschilddrüsen, die man bis dahin als versprengte Schilddrüsensubstanz angesehen hatte, Organe von eigenem Bau und eigener Bedeutung seien. Ließ man diese Nebenschilddrüsen oder, wie man sie jetzi besser nennt, die Epithelkörper, stehen, so setzen auch keine Krämpfe.Tetanie " ein. Auch die von dem Merseburger Arzt Basedow im Jahre I8t0 zuerst beschriebene und nach ihm genannte .»rankheit, die.Glotzaugenkrankheit", die mit Schilddrüsenschwellung, Glotzaugen und Herzklopfen einhergeht, beruh! auf einer Störung der inneren Sekretion der Schilddrüse. Das Sekret ist krankhaft verändert und vermehrt und besitzt Giftwirkung. Man hat lange vergeblich verflicht, der Kranheit mir allen möglichen Mitleln Herr zu werden. Schließlich ist man auf den Vorschlag der bekannten Chirurgen Mehn in Franlfurt a. M. und Kocher in Bern ebenfalls zur chirurgischen Behandlung der Basedowschen Krankheit übergegangen. Dank den Fort-
schritten der chirurgischen Technik sind die Erfolge zufriedenstellend, aber immer noch verbesserungsfähig. Durch die Operation gelingt es, die Krankheit, die sonst unaufhaltsam vorwärts drängt, zum Stillstand zu bringen. Unsicherheit aber brachten an die Operation sich anschließende Todesfälle, bei denen es schwierig war. die Ursache zu ermitteln. Schließlich stellte sich heraus, daß der Tod gar nicht eine direkte Folge dgr Schilddrüsenoperation darstelle, sondern ein sog.. T h y m u st o r" sei. d. b. auf die'Thymusdrüse zurück- geführt werden müsse. Auch die Thymus oder der Brie-— bei Tieren bekanntlich Milch genannt, verqleiche Kalbsmilch— ist eine Drüse mit innerer Sekretion. Von ihrer Bedeutung weiß man heute auch noch wenig. Offenbar aber steht auch sie in irgendwelchen Beziehungen zu Wach-tumvorgängen. Denn bei Neu- geborenen ist fie relativ zu ihrer Körperstärke tmr stärksien entwickelt. Bis zur Pubertät nimmt sie noch weiter än Umfang zu, um dann allmäblich, wenn das Wachstum vollendet ist, zu„atrophioren". Im Alier ist an. Stelle der Drüsenzellen Fettgewebe getreten. Wenn »ach den neueren Befunden die Todesfälle bei Basedow eigentlich Thymu -tode mit Schwellung der Drüse waren, so haben die Chi-
rurgon geglaubt, auch diese so lange unbeachtete Drüse mitsamt der
Schilddrüse entfernen zu sollen, jenen Zufällen vorzubeugen. In der Tat scheint die Rechnung zu stimmen, denn die Ausgänge der Baiedowoperationen mit Thymusexstirpation waren günstiger als die früheren obne eine solche. Die angeführten Beispiele'von den zwei Sekreten der Hyvophysis, den der Schilddrüse.und des Thymus, machen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es sei biet nur noch an die Neben- nieten kurz erinnert, deren spezifisches Produkt, doS Adrenalin oder Suprarenin, eine blutdrucksteigernde Wirkung ausübt. Aber obgleich sedes von ihnen seinem eigenen Zweck dient. ordnet sich ihre Gesamtheit doch wieder einem einzigen großen aemeinsamen Zwecke unter. Sic beziehen sich insgesamt auf die Regulierung des Stoffwechsels, fie bewirken durch den Reiz, den fie fernerhin mit ihren chemischen Kräften ausüben(in den Körperzellens eine Ueberernährung, die sich als Wachstum darstellt, andererseits nehmen sie aber auch dort weg. was zu viel ist und verhindern die Anhäufung schädlicher oder un- nützer Substanzen. Diese Aufgaben sind zu vielseitig, als daß eine Drüse mit einem Sekret dazu ausreichte. Nur durch das harmonische Zusammenspiel aller, bei dem die eine Tätigkeit die anderen reguliert und kontrolliert, können sene erfüllt werde». Daß aber diese gesamte.Korrelation"(Wechselbeziehung) auf da- empfindlichste gestört werden muß, wenn ein Glied ausgeschaltet ist oder falsch funktioniert,. ist nur zu begreiflich. So entstehen aus kleinen Mängeln Schädigungen, die das Leben des Organismus auf daS schwerste bedrohen.
Sasner als Süchersammler. Nnserm unvergeßlichen Emil Basner widmet Max Grun- wald auf Grund jahrelanger intimer Zusammenarbeit einen Nach- ruf, in dem besonders da- Talent des Verstorbenen, Bücher aufzu- spüren und zu sammeln, beleuchtet wird. Von einer wahrhaften Unerfctzlichkeit BasnerS— schreibt Max Grunwald t- kann auch die sozialdemokratische und gewerkschaftliche praktische Geschichtsforschung sprechen. Er war natürlich kein Systemaliker, kein gelehrter Geschichtsschreiber, und er selbst hätte solche anmaßende Signatur sehr eindeutig zurück- gewiesen. Er war aber ein ganz unvergleichlicher Sammler und Finder. Was er in langen Jahren für sich und seine Freunde an alter sozialistiicher und gewerkichaitlicher Lite- ratur gesammelt hat, das ist schwer zu beschreiben. Er wurde dabei freilich unterstützt von einer Kenntnis der Personen und einer Kenntnis möglicher Fundgruben, die ihm nur iein langes Leben in der vrakliichen Arbeilerbewegung, iein langes Wanderleben und seine vieltältigen Reisen harten verschaffea können. Dabei war er�übiigeu- auch von einer besonderen naivey Rück- siittSlofigieit und gerissenen Geichäsrigkeit, die er durchaus offen zugab und ohne die er viele seiner Erfolge nicht möglich gemachr Härte. Seine Methoden auf dem Gebiete des Büchersuchens und Bücherfindens erinnerten dabei vielfach an die Erwerbsmittel, die nach Marx der uriprünglichen Akkumulation anhaften.(Vergl. KapiHvl I, 24. Kapitel...) Aber der Zweck beiligte bei unserem verstorbenen Freunde hierbei sehr wohl die Mittel, und schließlich verstand er doch alles durch einen veriönlichen Ausgleich zu mildern. Seine Sammleriäligkeit hat der wissenschaftlichen Geschichts- forschung und Geschichtsschreibung unvergloichlich genützt: ohne seine Hilfe hätte weder die Geschichte der Berliner Arberterbewegung noch die der Hamburger io geschrieben werden können, wie sie dann ge- schrieben wurden, und auch die dokumentarische Geschichte der Jnter- nationale wäre nicht so vollzählig, wenn Emil Basner nicht ge- Holsen hätte. Der Dank war freilich meist nur der, daß er ganz beiläufig an irgendeiner veriteckien Stelle des Vorworls oder der Anmerkungen genannt wurde. Er selbst hat sich mit literarischen
Darstellungen nicht gern abgegeben und sie gern anderen ge" wandteren Federn überlasten. Seine Geschichte der Schmiede- bcwegung ist deshalb ebenfalls mehr eine Chronologie von Doku- menten als eins ausgearbeitete geschichtliche Darstellung. Seine Dokumenten-, Bücher- und Zeitschrifteilsammlung dürfte nächst einer bekannten Privalsammlnng in Wien und neben unserm Parieiarchiv die reichbaltigstc, mindestens aber die kompletteste Sammlung darstellen, die e- in der Welt auf diesem Spezialgebiet gibt, und man möchte ivünsche». daß ihre Schätze nicht zerstreut werden, sondern vereint an eine öffentliche Stelle übergehen. Diese private Sammlertätigkeit hat in der Partei- und Gewerkschafts- geichichte nur das Vorbild Julius MoitelerZ. mit dem ihn übrigens eine tiefe Freundschaft verband.. Mit BasNerS Tode endet eine Generation von Sammlern, die in unserer modernen, raschlebige?. auch das Sammeln industiialisierenden Zeit keine» rechten Platz mehr findet. Wer nicht über unbegrenzte Geldmittel verfügt, müßte über- unbegrenzte Zeit zum Suchen vertilgen; dem gewöhnlichen Sammler der Gegen wart wird weder das eine noch das andere beschieden sein.
Wie öer Colleoni abbeföeöert wurde. Der Schutz der Kunstwerke in den durch den Krieg bedrohten Städten Italiens hat in gewissen Fällen auch technisch recht schwierige Ausgaben gestellt. Dazu gehörte, wie Arduino Colasanti, ein mit dem Schutze der Kunstwerke betrauter italienisckv-r�Kunstforscher. in der römischen„Tribuna" mitteilt, vor allen Dingen die Sicherung des berühmten Reiterstandbildes des Colleoni von der Meisterhand de- Verrocchio in Venedig . Für die Fortschaffung dieses mächtigen Bildwerkes war e- Vorbedingung, sich über sein Gewicht kiar zu werden. Man berechnete es nach dem Beispiele des Gattamelata « Denkmal- in Padua und des antiken Reiterdenkmals des Mark Aurel out dem Kapitolsplatze in Rom , und danach wurden die Gerüste und Hebemaschinen konstruiert. Zuerst wurde dann der eherne Condottiere aus dem Sattel gehoben und� auf ein Floß im N>o Zanipolo gebracht. Nun blieb noch das mächtige Pferd. Da entdeckte man ein Loch im Sattel. J)a3 es ermöglichte, die genaue Dicke der Bronzewandungen des Rostes festzustellen, und dabei eraob sich die auch kunstgeschicbtlich wertvolle Entdeckung, daß ihr Durchmesser die unerhörte Stärke von drei bis vier Zentimeter hatte, und daß die unteren Teile der Beine sogar vollkommen ma'siv waren. Das Pferd ohne den Reiter wog öt Doppel-Zefltner," und zu seiner Hebung mußte die ganze Maschinerie erheblich verstärkt werden. Sie gelang, nachdem ein lb Meter hohes Gerüst errichtet worden war: um aber das auf Rollen, gestellte Roß an Bord des Flosies zu bringen, genügten die angestellten Arbeiter nicht, und so svannten sich die Zuschauer selbst an die Seile. Auf diese Weise wurde der Colleoni von dem Platze verbracht, auf dem er jetzt weit über 400 Jahre gestandeu hat.
Der Änfluß öer Gestiene auf das Wetter. Im Volke ist der Glaube allgemein verbreitet, daß die Ge- stirn-, insbesondere der Mond, Einflüsse auf unsere Witterungsver- bältnisie ausüben. Neuerdings hat nun auch die Wisienschafl die Berechtigung dieser Annahme, der gegenüber sie sich so lange Zeit spöttisch ablehnend verhielt, ernsthafter auf Grund der meteorologi- scheu Erfahrungen geprüft und ist, wie A. Bencke in der Monats- schrift..Untere Welt" mitteilt, zu dem Ergebnis gelangt, daß aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich reckt bemerkenswerte Zusammen- hänge der Ursachen des WetlerS mit Slerneinflüsien vorliegen. Vor allem ist es gelungen, das Auftreten der großen ozeanischen Zhllone- und Wirbelstürme, welche die Meteorologie als sekundäre Ursachen ftir unser Wetter erkannt hat, mit den von den Astronomen schon so lange mit großem Jnteresie verfolgten Sonnen- flecken und Sonnenfackeln in Beziehung» zu setzen. Dieie letzteren, die uns von gigantischen Wirbelstürmen Kunde geben, die in der glutigen Sonnenalmospbäre sich abspielen, tollen vermittelnde Wir- kunoen, wahrscheinlich elektrischer Natur, auf unsere Erdatmosphäre ausüben und so dortse'lbst das Entstehen entsprechender Luft- strömungen veranlassen. Die Planeten, insbesondere solche von große; Masie' wie Jupiter und Saturn, und unser nächster Nachbar, der Mond, wirken je nach ihren Stellungen, modifizierend auf die zwischen der Sonne und unserer Erde sich aus- breitenden Kraftfelder ein. Demnach müßte man durch Beobachtuug der auf der Sonnenoberfläche sich abspielenden Vorgänge unter Be- rücksichtigung der Stellung der Planeten die Grunddaten für die irdische Wettervoraussage gewinnen können. Sollten sich die Er- wägnngen bestätigen, io würde die Meteorologie, die sich bis jetzt nur unsicher tastend vorzuarbeiten vermochte, eine wichtige gesetz- mäßige Fnndierung erhalten. ES scheint also, daß die allen Bauernregeln, die Gestirne und Wetter miteinander in Beziehung setzten, nahe daran find, eine wiffenschastliche Rechtfertigung zu er- langen.
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Töchter öer tzekuba.
Ein Roman aus unserer Zeit von Clara Viebig . Ost hatte Frau Dietrich schon auf die Tochter warten müssen; wenn die gehen wollte, ging sie eben, eigensinnig. da half kein Bitten und auch kein Schelten. Aber heute hielt sie das Warten nicht aus. Etwas Merkwürdiges, Unerklärliches schwebte in dem kleinen Zimmer, hauchte sie an, daß cs ihr bald eiskalt wurde, bald glutheiß zu Kopfe stieg. Ge- danken auf Gedanken kamen, stießen, hetzten sich, trieben der Mutter Füße wieder zilm Hause hinaus auf die Straße. Erst zum Bahnhof. Eine leise Hoffnung führte sie: vielleicht stand die Tochter da und wartete. Niemand hatte Gretchen gesehen. Vergeblich stand die Frau am Bahuhofseingang und spähte die Straße hinauf und hinab; sie hörte noch immer den verlaufenen Hund winseln, j Es war ein hübscher kleiner Hund mit langhaarigem Fell. man sah es gelb schimmern im Laternenschein; mit suchenden Augen sah das Tierchen fie an. es hob bittend die Pfote, sie stürzte an ihm vorbei..Gretchen, Gretchen!' schrie es in ihr. Halb unbewußt schlug sie den Peg zur Hieselhahn ein.---. Gertrud Hieselhahn wollte sich eben niederlegen. Das Kindchen schlief, die Dombrowski war aus. was sollte sie noch so einsani aussitzen;»es war unnütz, daß sie noch Licht verbrannte. Da hörte sie ihren Namen rufen. Durch die große Stille klang,, es langgezogen hohl, wie Käuzchenruf. Das Hoftor war geschlossen, es stand jemand draußen' auf der dunklen Chaussee und rief nach ihr. Sie niachte das Fenster auf:„Wer ist denn da?' „Ich, Fräulein Hieselhahn, ich! Ach, ist Gretchen bei Ihnen?"' „Frau Dietrich? Ztein, Gretchen ist nicht bei mir. Warten Sic, ich komme raus!" Es war etwas in der Stiinme der Frau, was Gertrud mit Mitleid erfüllte und mit Angst ansteckte, die suchte ihr Kind. Klein, noch kleiner als sonst, wie ein verscheuchtes Tierchen, stand die Frag in der Nacht auf der einsamen Chaussee; Bei- stand suchend klammerten sich ihre feucht-kalten Finger um Gertruds Hand.„Gretchen ist fort— ach Gott, die Angst! Fräulein Hieselhahn. verlassen Sie mich nicht l"--
I Sie suchten beide. Nun schon lange. Sie wußten nicht. wie lange schon. Durch die dunklen Felder stolperten die zwei einsamen Frauen. Erst hatten sie rund ums Haus, ums ganze Gehöft gesucht. Warum sie das taten? Es konnte doch sein, meinte Gertrud, daß Gretchen sie hatte besuchen wollen. Nun suchten sie weiter draußen, und riefen und riefen. Immer abwechselnd. Dazwischen wimmerte die Mutter leise: sie hatte es.ja längst geahnt, daß es kein gutes Endenehmen würde mit Gretchen. Sie hatte es nur nicht wissen w ollem, es sich selber immer wieder ausgeredet. Hatte es auch nicht sagen mögen, zu keinem anderen sprechen von ihrer Angst. „Man will das doch nicht, Fräulein Hieselhahn. Abcx heute, heute— ich kann nicht mehr schweigen.- Ach, meinen Sie, ste hat sich etwas angetan?"
Gertrud biß die Zähne zusammen: war das grausig. Ja, oberung von Verbun noch immer nicht mit. Ungeheure An auch sie hatte längst gedacht: ist alles wahr, was Gretchen' stürme, ungeheuere Verteidigungen, auf bei
erzählt? Oder alles gelogen? Nein, Lüge durfte man das nicht nennen. Lüge nicht— oh, das arme Mädchen!„Wir nlüssev umkehrell, Frau Dietrich,' sagte sie weich.„Hier ist Gretchen nicht. Wir wollen nach Hause gehen, vieMcht daß sie Dtzt da ist. Wenn nicht, laufe ich noch aus die Polizei- wache.'
Das war etwas für die Frauen, die am andem Tag vorm Buttergeschäft standen. So sehr fie sonst auf das Stehen schalten, heute wurdL es ihnen nicht zuviel. Das war ja schrecklich mit der Dietrich! Die kan: nun nach Dalldorf."• „Fortjelaufen is sc von Hause," erzählte eine,„in: Hochzeitsstaat. Mit ihr weißes Kleid. Untenrum in die Püffchcn lauter kleine Myrtenstmißchen. An die Taille vorn auch'n Myrtenbukett. Meine Frida hat's jeschn, heute bei's Zeitungsaustragen, als sie ihr brachten. Heute morgen. Dem Polizeiwachtmeister sein Hund hat ihr aufjespürt. Ganz weit draußen ins Feld bei den Tümpel, unter dem Kiefernbusch, dicht ani Rand von's Wasser, soll se jclegcn haben. Die Nacht is noch kalt, sie war jänz der- klammt." Man drängte sich neugierig näher heran. Ob sie sich da hatte ertränken wollen? Und warum? „Nu, weil se verrückt es. Die hat zu lange auf den Bräutigam warten müssen." Ob sie denn wirklich verlobt war? Man hatte den Bräutigam noch niemals gesehen.
Die Frau, die in der Nähe von Dietrichs wohnte, zuckte die Achseln.„Kann sind, kann ooch nich sind. Wer weiß Be- scheid mit die Mächens. So viel is sicher: wenn eine jetzt einen draußen hat. un er schreibt nich, un kommt nich, und se weiß nich, hat se'n noch oder hat se'n nich mehr, denn kann et ihr ooch schon so jehn wie der Dietrich.' Ja, das konnte es l Es ging wie Entsetzen über aller Gesichter, sie blickten scheu. Von ferne nahte sich ihnen einer mit harter Faust, der packte die Herzen, daß sie zerbrachen. Der nahm die Gedanken und schüttelte sie. daß sie unter- einander gewirbelt wurden wie Spreu in einem Sieb— das war der Krieg.> XU. Der Frühling wollte kommen, aber er brachte bte Er-
beiden Seiten ungc- heuere Opfer. Dieses Frühjahr war es besonders zeitig warm geworden, es blühte bereits iin April, aber wer konnte sich daran freuen? Wenn Hedwig Bertholbi jetzt durch ihren Garte« ging, sah sie nicht, daß der Flieder bald Knospen ansetzte. Sie hatte Sorgen, größer« Sorgen, als sie vordem gehabt hatte. Wenn Annemarie lachte, tat es ihr fast körperlich weh. Ihr Aeltester war jetzt der, um den sie am meisten bangte. EZ sei ihm über, als Artillerist ewig im Unterstand zu liegen und sich mit den Ratten herumzuschlagen; er hatte ein Bett da unten, eine ganz nette Wohnung, nur auf den Knopf brauchte � er zu drücken, so war der Bursche auch schon da, aber dieser Stellungskrieg war das Oedeste, was man sich denkeil konnte. Er hatte sich zu den Fliegern gemeldet; da war doch noch Freiheit der Bewegung und ein selbständiges Handeln. Den Hauptmann Bölcke hatte er kennen gelernt, der hatte sein Gesuch unterstützt. Nun wußte die Mutter ihn freilich augenblicklich nicht im Kampf, hinter der Gefahrzone machte er seine Ausbildung durch. Aber ging er nicht noch viel größeren Gefahren entgegen als Rudolf, der als Infanterist vor Berdun lag? Htfinz flog schon, und seine Briefe, die seit dem Urlaub selten- gekommen waren, und die ihr eigentümlich müde und unlustig gedünkt hatten, strömten jetzt über von einer Lebhaftigkeit, die sich wie Begeisterung las. Aber"das feine Ohr der Mutter hörte unter der Be- geisterung doch noch ganz etwas anderes: was war mit Heinz? (Forts, folgt.)
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