!Tr.7$—191«
Unterhaltungsblatt des vorwärts
MZktwoch, 2S. Mürz
Die hanö. Von Haimasn Stenz. Der große Spieler Zufall bgtte uns in einem behaglichen Quartier zusammengewürfelt. Ein paar Wirkliche Ketten standen in dem geräumigen Zimmer, über dem schwarzen Marmorkamiu defand sich ein gewaltiger Barockspiegel. An den Wanden hingen einige gute Radierungen, in dunkle Leistein gefaßt. Die Waffen Und Ausrüstungsgegenstände aber waren in Pen beiden tiefen Wandschränken unrergebracht. So daß wir auS unserer Umgebung den. Krieg beinahe fortgetäuscht hatten. In bequemen Lehnstüblen saßen wir um den runden Tisch und erzählten mancherlei. Ein dadtscher Unteroffizier, dann ein junger Leibgrenadier und ich. Es war bereits stark dämch.erig im Raum und!vir vermieden es Licht zu machen; zufrieden damit, daß die Dunkelheit auch unsere Uni- iormen noch dem Auge verdeckte. Doch standen wir alle drei so sehr im Barme des Krieges, daß wir unseren Gesprächsstoff unter der Gewalt schwerer Erlebnisse, unter dorn dumpfen Willen der Nerven iich zu cntlailen. wie in einem Zanberkreise laufend, nur dem Ge- schehe» dar letzte» Monate entnehmen konnten. Wir haßten das Geschehene und sprachen doch nur davon, so erfüllte es unser ganzes Sein.— Ter llnkerofftzier setzte eine frische Zigarre in Brand. Im flak- ke.rnden Lichts des Streichholzes schnitten sich seine, in hundert Kämpfan kantig gewordenen Züge aus dem Halbdunkel. Die Willensfalta um Nasenwintel und M-md schien wie ein tiesschwar- zur Strich. Dan» sprach er weiter; � .Es war eine ganz bestimmte Stvecke. welche wir damals immer zur Ablösung, wollten wir in den Graben, schnall durch- lausen mußten. Denn die Stelle konnte vom Feinde eingesehen werden. Bei Tage war es unmöglich sie zu paffieren. Man wäre mit einem Fauarhagel überschüttet worden. Nachts spielten die Scheinwerfer vom Fort herüber. Oder es schwirrten die Lencht. LiigQln und erhsktten in u�lche. die Scheinlvevfer nicht einzudringen vermochten. So rannten wir also im Zwielichte des Morgens, wenn das künstliche Licht keine Wirkung mehr hat, itnd wenn es für genanoreS Sehen noch zu gran ist, über den Platz. Viele sind dabei mehr geflogen wie gelaufen, wenn sie den- noch vom Franzmanne bemerk wurden. Oder man mußte sich in den Schlamm irgend eines Granatloches werfen und reglos sieze:: b-eiben. Ihr könnt mir glauben, daß an sener Stelle weder Baum noch aü rauch stand. Jeder einigermaßen über dem Boden befindliche Gegenstand war mithin zu bemerken.' . Tort iah ich die Hand eines Morgens zum erstenmal. Nn- (wränx ttt der Mitte sener Stelle geschah es. Die Feinde waren unserer vorgehenden Gruppen ansichng geworden und schössen mit Schrappnells herüber. Sofort lagen wir. Ach wart mich in den Dreck, wo ich ging und stand, daß es spritzte. Nach einiger Zeit hoo ich Vorsicht!g den Kopf, um nach meinen Leuten auszuschauen. Da war die Hand ein paar Meter von mir. Sie ragte beinahe bis zum Ellenbogen senkrecht aus der Erde. Mit etwas, zurückgeb»!. ä/»*—*■- l s- �*v..—.Yf � x;.- 1. ee____. I.
j Bogen. Ich kam dann zu-weit van meiner Gruppe ab, suchte mich zau verbessern und stand trotzdem jäh wieder vor ihr. So fügte ich j mich denn in das Unabänderliche. i„Es kam Schnee. Tie Hand starrte schwarz hervor und drohte ' wie über einem Leichentuch. Der Schnee schmolz, und dann gefror -die Erde wieder steinhart. Der Boden klang im Springen unter unseren Füßen. Immer und immer starrte mich die Hand an wie ' ein grauenhaftes lebendiges Wesen, etwas heimtückisch Zuschlag- -bereites. Sie drohte mir bis in meine Träume hinein. Die Nerven sind dort vorne ohnedies bis zum Reißen gespannt. Ich hatte keine | Ruhe mehr vor ihr und ertappte mich darüber, daß ich am hellen Tage im Graben an sie dachte. Sie quälte und thrannisierte meine Nerven auch in der Ruhestellung. An den unmöglichsten Augen- blicken sah ich sie zuletzt vor Augen. Man leidet unter st> etwas mehr wie unter den entsetzlichsten Geschehnissen der Schlacht, welche dock ■ ein Ende nehmen!" Es war mittlerweile sehr dunkel im Zimmer geworden. Der Unteroffizier schwieg und griff nach der auf dem Tische liegenden Streichholzdose. Denn seine Zigarre war erloschen. „Und dann, was geschah weiter mit der Hand?" fragte der stmge Grenadier. „Dann," sagt« der Unteroffizier langsam und seine Stimme klang heiser,»dann bin ich eines Nachts aus dem Graben hinaus- geschlichen und habe sie mit dem Säbel abgebauen. Sie brach wie iGlas!" ! Mich durchscheuerte es und der jung« Gardegrenadier sprach ,!em Wort mehr. Der Unteroffizier entzündete ein Streichholz und i brannte die Zigarre an.' Am flackernden Lichtschein war sein Ge- I ficht farblos wie immer. Aber mir schien es, wie wenn feine Stirue fleucht glänze und' seine-Hände unsicher feien. Ach kann mich aber auch getäuscht haben!
WWWW nicht lange Zei noch wenigen Minuten wieder borwäms. „Bei der nächsten Ablösung machten wir einen langen Sprung. Plötzlich im Rennen hielt ich ein. Ich stand wieder vor ihr, prallte an der Gewalttätigkeit ihres Ausdrucks einen Augenblick erschrocken zurück und rannte dam:.um mein warmes Leben"weiter. KH. jedesmal beim Borgehen- zur Ablösung.lah ich. st-.. wieder..-Es war to:e verhext.. Luch andere Kamerad«?» stieße» aus die Hand. ..Me wurde bald. Gejprqch.- Einige der.Rohsren suchten, sie mit zh. Nischen Redensarten aözuwn. Doch sprachen auch sie darüber. Daß dieses geschah, bewies den Eindruck,--«? auch an ihren abgestumpften Gehirnen nicht, spurlos. vorübergegangen war. Jeder suchte einen Bogen um ibre Drohung zu machen, und doch waren aller Blicke auf sie gerichtet, wenn wir dort vorbeistürmteu oder aber Deckung suchen mußten. Einer der Kameraden nahm vom Waldlager einen Lappen mit und warf denselben im Vorbeilansen über die Hand. Nun sah man sie erst recht. Beim geringsten Luftzugs glaubte man, sie lebe und schwenkte jenen elenden, zersckwssenen Zeugietzen uns zur Drohung oder zum Hohne. Bis eines Tages auch jenes Zeugstück vom Winde abgeweht war und die Krallen wieder blank und bloß' in die Luft nach jenem Unsichtbarem zu greifen und zu haken schienen. Mir selber war die Hand wie ein Verhängnis. Joden A5- liffungSmorgen kam ich dicht an ihr writber. Ich mochte wollen oder nicht. Denn sie lag an meinem Wege. Bon diesem abweichen, hieß das Leben noch mehr gefährden. Einmal machte ich doch einen
Gffenbach— s«K Thkelfchee. (Im Theater deS Westens ). Seit Sonnabend bat das Tbeater des Westens seine gedoppelte Attration. Zunächst tut sich»Der Regime ntSzauberer' auf, in dem unschwer eins der rassigsten Singspiele unter den 102 kleinen und großen Bühnenwerken Meister Offenbachs erkannt werden muß. Fast unbemerkbar sind sechs Jabrzebnte oder mehr an dieser köstlichen, wahrhaft geistreich varodistiichen Münk vorübergezogen. Schon allein das Trüffel-'Quintett verleibt den: lanae Zeiten verschollen gebliebenen Werkchen das Recht feiner Neubelebung. Aber es gibt da noch einige andere Kosibarkeirem lo das Walzermoiiv, den Grenadiermarsch, die Koloraioren der Kammerzofe, die Trinkszene. Ja und die diabolische Mummerei des soldatischen Titelhelden und Liebhabers eben des Stubenmädchens ist- schon als Anlauf zum Freund Sthx im Orpheus anzusehen. Das prickelt wie Sekt I— eS ist genialische Laune. Die Wiedergabe des nur eine knappe Stunde beanspruchenden Werkchens wirkt beinah als ein seltenes Ereignis:— so durchnänkt von aus- gelaffrnem Spiel und stimmlichem Vollklang ist sie. Alle Beteiligten. in erster Linie die Damen Lori Leur und Phila Wolff, und die Herren Neinhold Pasch und Franz Groß, an zweiter Stelle das Orchester und Kapellmeister Hauke haben ihren Anteil daran. Die zweite Anziehung aber übt der»tleine Guido" auS. So bezeichnete sich nämlich T bielsch er in einer Bedankrede an das Publikum anläßlich seines 40 jährigen SÄauspielerjubiläums. „Rund um Thielscher" könnten eigentlich die sonst ziemlich iveit- loien, obzwar zum Lachen reizenden drei Akte»Ludwig XIV. " von Paul Frank, und Julius Wilhelm beißen. Nickst der französische »Sotmelikönjg" tritt hie-!- ans. wohl aber Thielscher als Zahl- kekln« Zwiebelfisch. Vom zweiten Akt an ftguriert er als. gemieteten Gast de» Maske eincS.Graken. In dem Monzent jedoch, wo ihn der Kastgeber und Schwiegervater ist sp© vor allen Anwesenden entlarven will, adoptiert ihn der richtig- aehende Gras gleichen Namens. Verlobung. Schluß. Natürlich hat Tbielicher die Lacher für sich, sobald er die Frechdachsigkest seine? Zwiebelfiich durch Wort, Gebärde und Spiel zu erhärten beginnt. Die G r o t e s k- Ä o m i k ist And bleibt seine Domäne. Des »dummen Aujusi" Geste, schlechtweg das»Bus dem MuStopp-kvmmen" kann ihm schwerlich ein anderer Berliner Komiker nachmachen. »y.
Me Kunst als Kapltalsanlage. Einige der besten deutschen Privatiammlungen von alter Kunst sind wäbrend des Krieges zur Versteigerung gekommen. Erben scheine» keine wichtigere Aufgabe zu kennen, als den Lberkommenen Kunstbesitz, worin sich meistens allein Bedeutung und Persönlichkeit der Sammler erwies, unter den Hammer zu bringen. Da keiner
dieser Sammler testamentarisch die Erhaltung seiner Sammlung be- stimmte lvon einer Stiftung zu öffenilichen Zwecken� gar nicht zu reden), muß man annehmen, daß auch sie ihre Kunstsammlung als Unternehmen, als Kapitalsaniaae betrachteten. Meisterwerke alter Kunst, Höbepunkte kultureller Leistungen früherer Epochen wander« so Weiler von Hand zu Hand, an den Meistbietenden. Feder, der sie kauit, kann sie ruinieren, verschließen, ins Ausland verschachern, oder sie ausnutzen, um Titel und Orden dafür einzuhandeln. Fm günstigsten Fall kommen sie an einen sog. Kenner, der seiner Privatwohnung damit Glanz verleiht. Das Feinste. waS Völker und Zeiten hervorbringen, ist gerade recht, Gegenstand der Spekulation oder des privaten Er« götzens einzelner zu sein. Nicht einmal daZ Nntzrecht des Be- rchaucnS hat die übrige Menschheit daran. Da? Elend und der Unfug dieses ZusiandeS hat bei der Versteigerung Kaurmann auch in nichi-sozialistischen Kreisen Bedenken erregt, als Iviedcr einmal die Gefahr sich aufdrängte, dieie hochgepriesenen Werke, entweder Erzeugnisse nationaler oder verwandter Kulturen könnten ins Aus» land abwandern. Daß durch den Privatbesitz solche Quellen der Kultur dauernd ihrer befruchtenden Ausgabe entzogen werden, daran nahmen aber auch die„nationalen" Kritiker keinen Anstoß. Rem» brandt und Rubens, Dürer oder Holbein haben offenbar geichaffeu zu dem Endzweck, daß einige Kommerzien- und ionstigen Räte zeit« weilig ihre Werke erwerben und dann nach Lst— 30 Jahren mit ge» hörigem Gewiim weiterverauklionieren. Wir dagegen meinen: weni: irgend etwa«, so sind große Kunstwerke zuni Monopotbefitz bestimmt, sie können ihre wenerzeiigeifoe Kraft nur �entfalten und tausendfältigen Genuß nur spenden im Eigentum des Staates. Wir verlangen daher die Inventarisierung aller solcher Kunstwerke und Uebersührung in die öffentlichen Sammlungen. Damit ist dann auch der sicherste Schutz gegen die Abwanderung in' das verfluchte Ausland verhindert. Diese für einen jeden wahren Kulturpolitiker selbstverständlichen Gedanken werden bei jeder dieier Aufsehen erregenden Versterge- rungen neu geweckt. Der Zertrümmerung der Sammlung Kauf« mann ist die des Herrn v. Oppenheim jauS Köln) gefolgt.� Sie war-von prächtiger Erlesenheit, lauter gute Stücke holländisch- vlämiicher Malerei, darunter einige Perlen, die kaum ihres» gleichen haben. Einige Stunden genügten, um die geistige Tat. die schließlich in ihrem Zusammenbringen lag, zu vernichten. und das Chaos, das die Sammler zu organisieren beginnen, von neuem an- langen zu lassen. Die Erben können mit dem Resultat zufrieden sein: der mäßig große Saat voll Bilder brachte Willionen Mark. Sie können sich Daimleraktien dafür kauien oder sonstige Bolks- beglückung damit treiben. Die Sammler und Händler ziehen mit ihrer Beute ab und wundern sich, daß sie noch so billig dazu ge» kommen sind. Das berühmteste Bild, die lebendige und faibcn» prächtige Darstellung eines Goldichmiedeladens auS dem IL. Jahrhundert von Petrus Christus kostete 800 000 Mark. Sicherlich eine kolossale Steigerung im Verhältnis zu den Preisen, die das Bild früher erzielt bat. Aber was sind heute 800 000 M.? Der herrliche Terborch,»Zechendes Paar", kostete 176000 M., de HoochS Triumph- lied auf das Schimmern des Lichts(Mutter mit dem Kind) 450000 M., Hobbemas Stimmungslandschaften zwischen 150 000 und 170 000 M. und schließlich RembrandtS entzückender Studienkopf 193 000 M. Ein Bild, das in. der Kulturgeschichte der menschlichen Arbeit eine Rolle spielen sollte, van der Neers Schmiede, ein Vor- läufer von Menzels Walzwerk, brachte»nur" 65 000 M. .Die Ungeheuerlichkeit der Kriegsgewinne läßt uns diese Summe klein erscheinen und doch schlagen sie die frühere bei weitem.� Aber wie groß sind sie angelegt in unproduktivem Luxus und vielleicht erst in Jahrzehnten neu realisiert— im Verhältnis zum Durch« Ichnittseinkommen eines Durchschnittsdentschen, der nickt einmal den Trost hat. diese berühmten Kunstwerke je.vor die Augen zu be» kommen! Notizen. — Mufikchronkk. In der Georgenkirche findet am Mrtt« woch 8 Uhr ein Konzert zur Feier deS Friedensschluffes im Osten statt. — Der Gipfel der�Schauspielkunst. Auf einem Pariser Kinoplokat liest man die folgende Ankündigung:»Richard Löwenherz , Großer, abenteuerlicher Sensationsfilm— dargestellt durch�den Affen Konsul und seine Gattin." — Eine zweite Mündung deS Rhein-Herne- Kanals in den Rhein wird nach dem.Prometheus" projektiert. Der Verkehr auf dem 1914 eröffneten Rhein-Herne-Kanal hat alle Erwartungen übertroffen: 1916 wurden aus ihm 5.7 Millionen Tonnen Güter bciördert, abgesehen von dem Durchgangsverkehr zur Elbe . Die neue Schleuse wird die größ-ie Binnenschleuse Deulich- loudS sein. Der Bau wird über 13 Millionen Mark kosten. AlS Bauzeit werden füui Jahre angenommen.
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Töchter öer hekuba.
Ein Roma:: aus unserer Zeit von Clara Biebig. Hedwig Beriholdi hatte ein paar schlaflose Nächte. Wenn sie denken sollte, daß Emilie sterben müßte! Noch immer lauteten die Nachrichten nicht gut. War es nicht seltsam, wie rasch sich jetzt Ansichten änderten, wie man sich selber änderte? Man brach plötzlich mit allem Hergebrachten. Draußen ging eine Welt in Trümmer, hier drinnen auch— als müßte alles neu werden. Wie betäubt ging Hedwig Bertholdi heute zum Kranken- Haus. Emilie hatte so sehr bitten lassen. Eben war ein Brief von Heinz gekommen; er schrieb nichts davon, aber in der Zeitung hatte sie heute morgen ge- lesen, und mit einem Erschrecken hatte sie's gelesen, das ihr Las Blut in die Wangen trieb:.Leutnant Bertholdi das sechste und siebente Flugzeug abgeschossen'. Dh Heinz. Heinz! Die Mutter streckte die Hände auS. sie hätte ihn halten mögen, herabziehen von der schwindelnden Bahn; zu Ali Rossi war sie gleich hinübergeeilt— auch die hatte es gelesen. Aber sie begrüßte die Mutter mit einem so strahlenden Ausdruck von Stolz und Freude, daß Hedwig sich nichts von Kleinmut zu sagen getraute.— Es war ein toeiter Weg. den Hedwig zum Kranken- haus zu mache» hatte. Aus den Feldern rechts und links der Chaussee stieg ein verwelktes Duften auf. Es war ihr weh ums Herz: ihr Heinz, ihr Heinz! An ihn mußte sie immerfort denken. Und dazwischen auch an die Emilie: wie »Wirde sie die finden? Ihre Gedanken wirrten hin und her.. Oh. wie man immer aus einem ins andere gerissen wurde! Man konnte nicht eines zu Ende denken. Aber es war gut so; sonst müßte man ja verzagen in solcher Zeit. Frau Bertholdi fühlte eine leise Verlegenheit: wie sollte sie dem Mädchen gegenübertreten. durfte sie denn so zeigen. wie wenig hart sie den Fehltritt beurteilte? Ein paar ernste Worte würde sie doch sprechen müssen; nicht streng, aber ernst. Emilie selber half ihr über dcch erste Wiedersehen weg. Sie war noch unendlich elend. Hätte Frau Bertholdi nickt gewußt, das ist die Emilie, sie hätte sie nicht erkannt. Wie ein altes, abgehärmtes Frauchen lag die junge Person
in den Kissen, dunkle, verwirrte Haare, die man noch nicht hatte kämmen dürfen, um ein spitzgewordenes Gesichtchen; zu schwach noch, um sich aufzurichten, zu schwach noch, um zu sprechen. „Dabei geht'S heute schon ganz�famos, nun find wir über den Berg," sagte die pflegende Schwester. Seltsam ergrissen, beugte sich Hedwig Bertholdi über das Bett:„Wie geht's, Emilie?" Die schweren Lider hoben sich von den matten Augen. Das Mädchen machte einen Versuch, sich aufzurichten; es ge- lang nicht; so zeigte es nur mit den Blicken nach der Seite des Bettes. Da lag in dem verhängten Waschkorb das Kind.„Ein Junge," sagte Emilie schwach. Und dann lächelte sie. Frau Bertholdi besah' sich das Kind, eS schlief; die Schwester ging weg auf Zehen. Sie setzte sich neben das .Bett. „Sie haben mich gern sehen wollen, Emilie, ich bin gern gekommen— was haben Sie denn für einen Wunsch?" Frau Bertholdi sprach ganz mild, es schien ihr plötzlich un- möglich etwas zu sagen. WaS an Vorwurf grenzte. Wie sah die arme Emilie ans! Sie. mußte unmenschlich gelitten haben. Hedwig merkte ihr eine Unruhe an.„WaS ist denn, Emilie?" Die wollte gewiß, daß eS ihrem Vater beige- bracht wurde, hatte Angst davor.„Soll ich es Ihrem Vater schreiben Emilie lächelte. ..Sie haben wohl Sorge deswegen?" Emilie schüttelte verneinend. „An Ihren Bräutigam schreiben,« nicht wahr?" Emilie nickte, sie lächelte stärker. Aber da war noch immer etwas, was sie beunruhigte. Die Scham war es wohl, die das Mädchen bedrückte. Die wachsgelbe Hand suchte tastend auf der Bettdecke.„Emilie, was ist denn?" Da fühlte Hedwig Bertholdi ihre Hand von der eisig-kalten der Schwachen umklammert,' sie empfand einen leisen Druck. „Hab Ihnen— diel Last— gemacht— danke— gnädige Fr--" Die müde Zunge stolperte über das.Gnädige Frau", das wollte nicht heraus. Unwillkürlich. bongte sich Hedwig näher, dieser Dank rührte sie. Was hatte sie- denn groß für daS Mädchen
getan? Liebet Gott , wenig genug. Wie wenig Güte braucht man doch eigentlich nur zu säen, um Dank zu ernten! Sie strich dem Mädchen das von der Anstrengung feucht ge» wordene Haar auS der Stirn. „Gnäd— ge—!" „Nun, was denn, mein Kind?" Des Mädchens Blicke schwammen. Hedwig Bertholdi las aus diesen matten Augen manches heraus: Bitte, Flehen und zugleich etwas wie Mutterstolz.> Das war ja auch eine Mutter— Hedwig wurde weich— eine Mutter, wie sie selber eine war, wie tausend andre waren— eine, die litt— eine, die hoffte— eine, die bangte— eine, die stolz>var! Und hier war auch ein Kind, ein Sohn, wiederum ein neues Blatt am Baum des Vaterlandes! Sic trat zu dem Korb, betrachtete das kleine Gesichtchen und nickte wehmütig: möchte dieser kleine Sohn einst ge» nießen, was die großen Söhne jetzt erkämpften, und nur im Frieden seinen Stein hcrzutragen zun: Bau des neuen, des glücklicheren Deutschlands ! Ach ja— im Frieden! In der Hoffnung gesegneten Friedens durchflutete es sie ganz warm. Lächelnd trat sie vom Körbchen des Kindes anS Bett der Mutter. Emilie lag still, die Hände ineinander gefaltet. Nun suchten ihre Augen die der Herrin; ihre Blicke tauchten in» einander. Langsam singen ein paar Thränen an, dem Mädchen zu rinnen. „Mußt nicht weinen, mein Kind," sagte Hedwig Bertholdi; eS war ihr gar nicht verwunderlich, daß sie ,du' zu Emilie sagte, sie bemerkte es selber nicht.„Mußt nicht weinen, es wird alles gut!" „Alles gut," stammelte die Kranke nach. Und dann suchte sie, nach der Hand der Herrin zu greifen:„Gnäd— ge gnäd— ge Fr—!" Mehr brachte sie nicht heraus. Wollte die bitten? Wollte die danken? Hedwig neigte sich näher und näher. In einem Impuls der Mütterlichkeit, einer Mütterlichkeit, die alle umfängt— waren sie sich denn nicht alle gleich? Mütter, nur Mütter I— und hingerissen von einem Gefühl, das alle Schranken umstößt, die die Welt aufrichtet, ganz hingenommen von der starken Empfindung, gemischt aus Mitleid, Rührung und Menschenliebe, sagte sie: „Laß jetzt das»gnädige Frau'." Und küßte die Magd. t(Forts, folgt)