Nr. 114— 1915
Unterhaltungsblatt öes Vorwärts
5?eiiag, 26. ftprk!
Die grüne Mali. Von Wilhelm Scharrelman». Die grüne Mali ! Die schönsten Tage meiner Kindheit steigen wieder var mir auf. wenn ich an sie denke, die Tage der ersten sprühe, wo die Tinge dieser Welt noch von einem unnennbaren Schimmer umflossen vor unseren Augen liegen, und Märchen und GcscbiriNen aus allen Winkeln steigen. Eine? Sonnkags morgens war sie in einem nagelneuen grünen Kleide zum erstenmal zum Spiel auf die Straste gekommen, und halte von dem Tage an den Namen weg, den sie ein Lebenlang behalten hat— die grüne Mali . Sie hätte auch die wilde Mali beißen können, denn wild war sie wie ein Straßenkreisel, der eben einen Schlag mit der Peitsche bekommen bat und nun surrend über das Pflaster hopst— die Haar- zöpie wie ein paar gedrehter Stricke im Nacken, die Röcke fliegend wie Wäsche im Wind. Und eine jauchzende, helle Stimme hatte sie und ein Paar Augen, die vor Lebensfreude und Jugendlust nur so blitzten, und denen man es ansah, daß sie nicht eine Sekunde lang im Kopfe würden stillstehen und gewiß selbst im Schlafe nicht ganz zur Ruhe kommen konnten. Dabei war sie handfest und mutig wie ein Junge, ging, ein- mal losgelassen, über Holder und Felder, kletterte über Planken und Gitter wie eine Katze, und bald war es für unS kein rechtes Spiel, wenn die grüne Mali nicht mittat. Tie Nachbarn schalten und schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, wenn� die Rede auf sie kam, und es gab keinen, der nicht ratlos gewesen wäre, was aus so einem Mädel werden sollte. Das dauerte, bis sie aus der Schule kam, und man sich ent- schloß, sie zu Verwandten nach Remscheid zu geben, und eines Tages war sie verschwunden, wie die Schwalbe im Herbst. Als sie nach zwei Jahren zurückkam, blieb unS der Gruß im Halse stecken— so schön war sie geworden. Es war überhaupt, als wenn es überhaupt nicht die grüne Mali sei, die da zurückgekommen war, so still und freundlich war sie geworden, ein wenig stolz und herablassend wohl, wie es uns schien, aber unverkennbar würdig und ernst, und wir empfanden plötzlich einen Mordrespekt vor ihr, schüttelten die Köpfe und hielten uns zurück. Ausgesprochen hat es keiner von uns, aber ich glaube, wir hatten alle ein wenig den Eindruck, daß wir mit einem Male die Rollen vertauscht halten: Nun waren w i r plötzlich die Grünen.. Das ging so eine Weile, bis der nächste Frühling kam und— Zeitlers Fritz sich regelrecht in die grüne Mali verliebte. Er seufzte, schrieb Verse, war melancholisch oder krampfhast lustig, wie's gerade kam, schrieb den Namen seiner Angebeteten in den schönsten Zügen auf Löschpapier, Heftumschläge und Tintenklappen, las daS.Buch der Lieder" und fand tausend Stellen darin, die auf ein Haar auf ihn und die Mali paßten, kurz, er war in dem Stadium, in dem die Kinderzeit zu Ende geht und ein noch unverstandenes Neues in uns leine Herrschaft antritt. An seinem siebzehnten Geburtstage, den wir bei einer heimlichen Zigarre auf seiner Stube feierten, machte mich Fritz zu seinem Ver- trauten, nahm nur einen heiligen Eid ab. daß ich schweigen werde wie das Grab, und berichtete mir unter Seufzen. Hoffnungen und trüben Ahnungen, lvas ich längst gewußt hatte, aber aus Teilnahme, und weil es störend gewesen wäre, mir nicht merken ließ. .Und sie weiß, daß Du sie liebst?* fragte ich..Nein, nicht,— das heißt— vielleicht?— Wer weiß?.Nun," sagte ich,.dann mußt Du Dich ihr erklären." Ich sah, daß er Herzklopfen bekam..Natürlich," sagte er und versank in ein dumpfes Grübeln..Was meinst Du," schlug er mir plötzlich vor,„wenn Du ihr meine Verse überreichtest?" Ich war ein wenig überrascht..Ja, ich meine, da wärst Du selbst der Nächste."„Für mich ist es nicht ganz leicht," sagte er. .Aber Du bist Ihr Nachbar, und es wird für Dich keine Schwierig- keit sein, eine Gelegenheit abzupassen. Wenn Du bereit wärest?" Ich machte Einwendungen, ließ mich aber zuletzt überzeugen. So setzte er sich also hin und schrieb seine Verie auf rosa Papier, das wir gemeinsam einkaufen gingen. Nach acht Tagen war er fertig und überreichte mir das Manuskript, das er mit einem grünen seidenen Bändchen sauber geheftet hatte. Wir verabredeten, daß ich ihr die Gedichte am nächsten Sonntag, wenn sie aus der Kirchs kam, überreichen solle. Es war ein Sonntagmorgen aus Sonnenglanz und Feiertags- freude. Als sie auf mich zuschritt, und ich mir Mühe gab, den Un- befangenen zu spielen, merkte ich, daß die Sache leichter gesagt als getan wäre. Ahnungslos schritt sie neben mir die Straß« hinab und plan- derte so unbefangen wie immer. Kaum zwei Mimlten später standen wir vor ihrem Hauie. Jetzt mußte gesprochen sein. Ich nahm eine« Anlauf und war eben daran und hatte die Hände schon in der Tasche, als ihre
Mutter aus dem offenen Fenster heraus rief: Aber Mali ! so tummle Dich. Du weißt doch, daß wir Besuch bekommen.... � Bleich, aber gefaßt kam Fritz Zeiller die Straße herauf, und ich ging ihm entgegen wie ein armer Sünder seinem Richter. Sie hat sie? fragte er. Nein, noch nicht, sagte ich und erzählte, wie es gegangen war., Aber, sagte Fritz, daß Du nicht mehr Courage hast! Sa lange zu zögern! Du bist mir der Rechte. Nun, eS wird am besten sein. Du besorgst die Sache selbst. Am Ende bist Du doch näher daran als ich, entgegnete ich ein wenig ärgerlich und reichte ihm die Verse zurück.' Nun wollte er mich begütigen, und ließ alle Neberredungs- künste spielen. Aber ich wollte nicht. Unserer Freundschaft drohte ein ernstlicher Ritz. Verschnupft ging jeder auf seinem Wege heim. � Vier Wochen später kam er plötzlich auf meine Stube, trüb und bleich wie nach einer schweren Zigarre. Nun? fragte ich, hast Du eine Antwort? Er preßte meinen Arm, und flüsterte: Nein, noch nicht..Aber die Verse hat sie?".Gestern," sagte er tonlos..Ich habe sie ihr durch die Post zugeschickt." Nun, dann— dann weiß sie ja wenigstens, wie sie mit Dir daran ist. Freilich, nickte er, und sin schmerzliches Lächeln ging über sein Gesicht; aber das ist ja gerade das Schlimme. Verständnislos sah ich ihn an..Denke Dir", sagt« er,.vor einer Stunde erfahre ich. daß— daß sie— verlobt ist!".Ver- lobt?".Tatsache. Morgen wird die Anzeige herumgehen." Und wer ist der Glückliche?.Doktor Wendlob", sagte er und eine Falte grub sich in seine Stirn..Was? Unser Geographie- Pauker?" Er nickte nur und stöhnte leise. Du weißt es gewiß?.Tot- sicher." Ja, zum Teufel, sagte ich, das— daS ist wirklich fatal! Denn nun wird er Deine Verse lesen, wie ich annehme.»Nicht wahr? Ein Glück, daß ich ihr die Verse anonym geschickt habe." Was?— Na. hör' mall.In diesem Falle das einzige Glück bei der Ge« schichte." Und wenn er Dich fragt? Er zuckte die Achseln.— Am folgenden Tage wußte die ganze Stadt davon. Von der Verlobung, meine ich. Doklor Wcndlob strahlre, als er in die Klaffe trat, und verschob ein angekündigtes Extemporale. Fritz Zeitler aber war krauk. Bleich wie ein Bettlaken lag er in seiner Stube, las Lenau und äußerte, daß sein Leben verpfuscht sei. Sei kein Feigling, sagte ich. .Aber erlaube mal, fuhr er auf, versetze Dich bitte mal in meine Situation!" Wenn Deine Liebe wirklich so groß ist. entgegnete ich.— Na, ich möchte Dich'mal sehen, sagte er. Gekränkt ging ich heim. Zu Hauie lag ein Brief. Merkwürdig umfangreich und schwer. Als ich ihn öffnete, fiel mir ein Bündel rosaroten PapiereZ entgegen. An Mali stand darauf. Ein Kärtchen lag dabei. Die Verie seien ja gonz hübsch, wenn auch reichlich überschwänglich. Vielleicht habe ich Talent. Nur an sie möchte ich keine Verse wieder richten. Die Zeit der Jugend- torheiten müsse nun vorbei sein, schrieb sie mit einer lächelnden, freundlichen Ueberlegenheit. Mich packle die Wut. DaS hatte gerade noch gefehlt. Augen- blicklich ging ich zu Fritz und schleuderte ihm sein Manuskript auf den Tisch. So. Da wären Deine Verse wieder. Und nun ver- setze Dich bitte mal in meine Situation. Was? sagte er und überflog Malis Zeilen. Nun Hab« i ch die Verse geschrieben— und Du— hast den Ruhm davon...?
Das ne«s Mtihrnü. Während das künftige Schicksal der russischen Randfdaatzsn noch ungewiß, hat Finnland — das nur durch Personalurrion mit Rußland vereinigt war— feine voll«, durch das Deutsche Reich gewährleistete Freiheit errungen. So sehr wir es als Sozialdemo- traten beklagen mögen, daß wir in die inneren, vielfach durch russische rote Garden hervorgerufenen Wirren des Landes ein- greifen mutzten, so besteht doch die Hoffnung zu Recht, daß Finn- larid mit uns in Zukunft in dauerndem Frieden und Freundschaft leben wird. Das besondere Interesse, das Finnland so für uns hat, gab den Anlaß zu einem mit trefflichen Lichtbildern belebten und mannigfache Aufschlüsse bietenden Vortrag, den Dr. Pohle, ein Deutschrusse, hielt. Finnland gehört zu der nordischen Staaten— erstreckt es sich doch zwischen dem 60. und 70. Breitengrad. Die östliche Grenze gegen Rußland wurde 1323 festgelegt. Tatsächlich wohnen aber Finnen und Lappen bis ans Weiße Meer und südlich davon, und wenn das Recht auf Selbstbestimmung der Völker in Rußland durchgeführt wird, wird Finnland noch erheblich an Ge- biet gewinnen. Groß-Finnland ist größer als das Deutsche Reich und auch das bisherige Großfürstenwm immer noch größer als Preußen. Der Boden des Landes ist durchweg Urgestein und er- hebt sich in mittleren und nördlichen Partien bis über 1200 Meter.
Es flach! nach Südwesten ab und hat so verhältnismäßig ein osin- stiges Klima— und zugleich die Orientierung nach Mrael- europa . Die Meeresküsten sind durch Buchte« viüfach gegliedert. zahllose Inseln(Schären) sind dem Laude vorgelagert. Im Innern ist der Charakter gegeben durch die vielen Seen, kl Proz. des ganzen Areals, die sich zu besonderen Gruppen ordnen und durch ihre zum Teil künstliche Verbindung ein wichtiges Verkehrs- mittel bilden. Es sind die Ueberreste der früheren gewaltigen Eis- bedeckung, die ihre Spüren überall in den Rundhöckern zurück- gelassen hat. � Finnland ist ein seefahrttrevbendes Land, es übertrifft an Schiff- und Tonnenzahl die gesamte russische Ostseeflotte(1013: 4200 Schiffe). Die Binnenschiffahrt, die Strecken von 100 bis 200, ja 300 Kilometer ausnutzen kann, ist gewaltig. Die Seenketten ersetzen die Flüsse. Wasserfälle und Stromschnellen erfüllen das Land mit dem Rauschen des Wassers und bieten an 3 Millionen Pferdestärken zur technischen Vertoendung dar. Finnland ist un- geheuer waldreich(57 Proz. Wald). Die Holzindustrie, die Holz und Holzprvdukte(Zellulose, Papier ) liefert, ist die wichtigste des Landes: Sägmnühlen an der See und Papierfabriken im Inland. Große Erzreichtümer harren der Erschließung. Auch die vielen Moore(im Norden bis 40 Proz. des Bodens) werden wichtige Ausbeute geben. Deutsches Kapital wird die Industrie der weißen Kohle, die Ausdehnung des Landibaus durch Kolonisation er- schließen. Die Geschichte Finnlands , die mit dem 12. Jahrhundert ein- setzt, weist als führenden Zug die Europäisierung durch Schweden und jahrhundertelange Kämpfe mit Rußland auf, bis das Land. von Schweden im Stich gelassen, 1800 erliegt. Die fortschreitende Entrechtung des Landes unter dem letzten Zaren ist in frischer Erinnerung. Die Bevölkerung— 3,3 Millionen, davon 88 Proz. Finnen und 12 Proz. Schorden— hat trotz russischer Unter- drückung ihre kulturelle Höhe weiter zu steigern gewußt. Rußland hat 70/80 Proz. des Schreibens und Lesens Unkundige, Finnland 1 Proz.! In Künsten und Wissenschaften hat das dünnbevölkerte Land bereits beträchtliches geleistet. Das Deutschtum, das durch die Hansa und später durch Einführung der Reformation von jeher große Bedeutung hatte, spielt auch heute noch eine erhebliche Rolle. Deutsch war vor und neben dem aufgezwungenen Russisch die ein- zige fremde Sprache, die Pflichtfach war. Seit Beginn � des Weltkrieges gingen die finnischen Sympathien mit Deutschland , und in Zukunft wird die finnische Wirtschaft sich noch viel enger an Deutschland anschließen. Vor dem Kriege waren bereits 40 Proz. der Einfuhr(soviel wie die entsprechende türkische) deutschen Ursprungs. In einem etwaigen Wirffchaftskriege in der künstigen nordischen Konstellation wird Finnland im engen Anschluß au Deutschland eine erhebliche Bedeutung haben. Mit Deutschlands Unterstützung wird es ein europäischer Kulturstaat werden, vom RaSkschen. Zu den Lenzkindeim gehövt auch das Radieschen mit seinem rosenroten Gesichtchen. Es ist von weit her, denn wir begrüßen in dem kleinen Wuuderhdld eine geborene Chinesin._ Aus riesiger Ferne ist er zu uns eingewandert, und als ob man ihm die zweite Reise lehnen wollte, erfreut er sich bei uns einer, wir möchten sagen: fast zärtliche« Kultur. Seine feinen Spielarten bestehen in dem fast durchsichtig scheinenden Glasradieschen, dem runden Radieschen, dem langen Monats- und dem Forellenradieschen. Cr- stirt liefert wie den besten Rettig so auch die besten und zartesten Radieschen. Man war früher der Ansicht, daß Retbig und Radieschen nahe Verwandte wäre; nach: neueren Forschungen aber scheint ixstzn- stehen, daß diese � beiden, wenn auch gleich bissigen Pflanzenlinder, doch ganz veffckwdsne,'id.- b. selbst der. Gattung stach, getrennten Pflanzen angehören: In Japan finden sich wie in Nordindien mehrere Varietäten dieses Lieblings, dessen Farben-Varianten auch beachtet sein wollen. Die Zartesten sind enffchieden die �rosenrot angehauchten. Neben ihnen treten die weißen Arten am häufigsten auf, seltener(bei uns in Berlin fast gar nicht) die violetten. Durch Kultur hat man das Radieschen gezwungen, auch im Winter zu erscheinen, und die ersten, dein Mistbeet entlockten Lenzvadieschen bilden eine Art pikanter Delikatesse. Bisher galt das nördliche Frankreich als das Land, welches die meisten Radieschen produziert; der Konsum in Paris war anerkannt fabelhaft. Die Kuiltnr des Rabies erfordert einen guten, altgsdüngden Boden. In rohem, fioischgedüngten, überhaupt in jedem ungenügend vorbereiteten Lande mißrät er, wird strunkig, madig, schnell pelzig. d. h. überreif oder dergleichen. Mütter und Müien der Pflanzen werden von verschiedenen Feinden angegriffen. Sowohl Käfer als Raupen, Wespen und Blattläuse zerstören sie. Die in den Wurzeln häufig gefunden« Made ist die Larve der Rettigfliege. Das Pelzig- werden der Wurzel(Holzigwerden) ist begründet aus dem allmäh- kichen Schwinden der Feuchtigkeit aus den Zellen.
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Pioniere.
Reman aus dem Norden von Ernst Didriug. Er ging von einem Renntier zum andern und hob ihre Köpfe. Alle waren tot, tot. Von Rennfier zu Renntier ging er viele, viele Stunden lang und suchte das Leben, aber er fand es nicht. Wieder kam er zu uns, die wir frierend und kalt, ohne Feuer, ohne Leben, ohne Renntiere dasaßen. Ein schlimmeres Unglück ist uns nie widerfahren. Lange stand er still da und sah uns an. Schließlich füllten sich seine Augen mit Tränen, und sie rannen in Strömen in den eisgrauen Bart hinein. Dann schauderte er zusammen, als sei etwas in ihm zerbrochen. Ohne ein Wort drehte er sich um und ging von unS fort, ging in die schwarze Bleiwolke hinein, hinein in die schleimigen Nebel des Bösen, hin zu dem ewigen Eise am Karsavagge. Er ist nie zurückgekommen, Wer weiß, wohin die Menschen gehen?" Siebentes Kapitel. Diese Fahrt gab Algren den richtigen Eindruck von Lapp- land, und er liebte und fürchtete es zugleich. Er liebte seine Farben, und er konnte nachts stundenlang in irgend- einer Schlucht hinter den Baracken sitzen und rauchen und aus den Tornejaur starren, dies unbegreifliche Zauber- spiel von Farben, die nie still standen, sondern von Kupfer und Blut in Silber und Eisblau übergingen. Er liebte auch die großen, stillen Moore und Heiden, die den Hang der Berge mit herrlichen Matten aus Purpur und Violett deckten. Aber die großen Berge fürchtete er. Diese gewaltigen Schneckonturen hatten etwas Wildes und Unheimliches, und an Regentagen geisterten sie in den Nebeln in einer Weise, die iveöer mit den Gesetzen der Optik, noch der Physik über- einstimmte. Besonders vor dem Nuolja hatte er ein geradezu kind- licheS Grauen. Im Regennebel lehnte sich der Berg über die Baracke, in der Algrcn hauste, daß man meinte, er müsse daraus niederfallen. Früh am Morgen, wenn klares Wetter war. sah es aus. als rage der Gipfel weit ins blaue
Himmelsgewölbe hinein. Dann wieder fraß der Nebel den ganzen Berg auf, so daß man über den Birkenwald keine Spur von ihm sah. Auf diese Weise wurde der Nuolja für ihn etwas Phan- tasttsches, mit dem sein Verstand nie fertig werden sollte. Er wurde ein übernatürliches Wesen, das ihm feindlich gesinnt war. Er wurde in diesem Glauben noch bestärkt, als eines Abends— er saß wie gewöhnlich in seiner Schlucht und rauchte— eine Lawine ihn fast verschüttet hätte. Sie ging etwa zehn Meter links von ihm nieder, und der Luftdruck war so stark, daß er sich mit Füßen und Händen gegen den Berg stemmen mußte, um sich festzuhalten. Auch die Ärbeiten am Nuolja waren widerwärtig. Bald stieß man auf dies, bald auf jenes Hindernis, und die Arbeiter büßten Finger, Arme und Beine ein. Es gab daher große Freude, als die Order kam, man solle den Tunnel durch den Nuolja beginnen. Algren be- kam jetzt die Berechnung der Bauten am Abiskowasserfall, den man eindämmen und durch eine Holzröhre an dem alten Fluß entlang leiten wollte, um dann»veiter unten die Turbinen für die Tunnelbochrung damit anzutreiben. Diese Arbeit tat er mit Liebe und Lust, und sie ging in rasender Eile vorwärts. Den ganzen Sommer und Herbst war man mir den vorbereitenden Arbeiten beschäftigt. Hjort ging mit seiner unbegreiflichen Energie und Arbeitskraft voran. Algren bewunderte seinen zähen Willen und seine Aus- dauer. Immer war Hjort unterwegs, der erste auf den Beinen und der letzte im Bett. Landström stattete ihnen bis- weilen einen Besuch ab. und dann wurde tagelang kalkuliert. Bis tief in die Nacht hinein war bei Hjort Licht,»venu er allein war, und so oft er mit Algren zusammentraf, war nie von etwas anderem die Rede als von der Kraftstation am Abisko . Die wurde Hjorts Leben, HjottS Traum. Sich mit einem dröhnenden Wasserfall herumzuschlagen, die Natur- kräfte zu zähmen, sie nach dem eigenen Wunsch zu lenken, die Wassermassen in einem Rtesenkessel von mehreren tausend Hektoliter kochendem Schaum sieden und zischen zu lassen, um sie schließlich»nit einem Höllengedröhn in die gesprengte Höhle unter der Eisenbahn hinunterstürzen zu lassen, das»uar eine Arbeit für einen Mann wie Hsort. Deshalb war er stolz wie ein siegender Gott, als nur Beginn des Winters alles klappte und in Ordnung war, als die Generatoren �
montiert und die lange Leitung bis zum Nuolja fettig war, wo man inztvischen mit Handkraft zu bohren begonnen hatte. Es waren unsäglich festliche Augenblicke, als die erste Stoß- bohrmaschine mit ihrem Kolbendurchmesser von ackitzig Milli- meiern zu krachen begann. Algren hatte das Gefühl, der Berg ächze bei jedem Stoß, aber die Arbetter schtten Hurra. und Hjort war blaß vor Gemütsbewegung. Man hatte zu früh hurra gerufen. Die Wildnis rächte sich. Nach einigen Wochen hing der Abiskofluß steil und ge- froren, in seinem Dahinstürzen von einer Kälte gehemmt, die die Lappen nicht in Betracht gezogen hatten, als sie den In- genieuren versicherten, daß der Fluß seit Menschengedenken nie zugefroren gewesen sei. ES wurden tolle Zeiten. Die ganze große, stolze Anlage lag völlig nutzlos da. Alles war still und tot. Wenn es ein paar Tage etwas milder wurde, setzte nachher nur eine um so grimmigere Kälte ein. und Hjort mußte einsehen, daß er der Natur nicht befehlen konnte. Wochenlang hielt er sich oben am Wasserfall auf und grübelte und machte Berechnungen, bis er sich schließlich besiegt erklären mußte. Das gab seiner Willenskraft einen heftigen Stoß. Sein Verstand beugte sich vor dem llnver- meidlichcn. Unberechenbaren, aber sein Stiernacken beugte sich nicht, und man mußte lange in sein Gesicht sehen, bevor man die zwei kleinen neuen Falten an der Nasenwurzel bemerkte. In der Einsamkeit hatte er seine bitteren Stunden, und die halbe Million, die ganz nutzlos in die Wildnis hinein- geschmissen war, störte seine Berechnungen, auch wenn er sich damit ttöstete, daß er nicht allein veranttvortlich war, sondern daß sich die Verantwortung auf mehrere verteilte. Aber ihn al« Mann und Wasserbanmeister nahm es doch hart mit, daß er eine so riesenhafte Niederlage erlitten hatte, und wenn ihn die Träume sehr heftig plagten, hörte er den Bohr- stahl wie Vogclschnäbcl im Nuoljatunnel hacken. Die Bahningenieure hatten lange bemerkt, daß mtt der Kraftstation ettvas nicht in Ordnung war, und es hatte seine großen Schwierigkeiten, dies Thema zu vermeiden,»venu Hjort anwesend war. Richtig aufgeklärt tvurden die Verhältnisse erst, als Hjort eines Samstagabends zu Gcrell kam, der Landström, Älgren und einige andere Ingenieure zu Skat und Kognak bei sich hatte. (Forts, folgt.)