Tr. 203-1918
Unterhaltungsblatt des Vorwärts
Krieg und Kunst.
Freitag, 26. Juli
Auch wenn wir in der Geschichte weiter zurückgehen, finden sich Eine andere Pflanze, deren Früchte bisher nicht ausgenugt zahlreiche Beispiele des verderblichen Einflusses, den der Krieg zu wurden, ist die Roßta stanie. Die Kastanien haben einen herben, allen Zeiten auf die künstlerische Betätigung ausgeübt hat. Sie bitteren Geschmad, so daß sie im natürlichen Zustande nicht vererinnern an das Wort Schillers: Wo robe Kräfte sinnlos walten, wendet werden können, auch nicht als Viehfutter. Sie müssen desda fann sich fein Gebild gestalten." altäpyptischen Reliefs im großen Tempel von Abu- Simbel an- find, mit Sodawasser behandelt werden. Man gewinnt aus den Von den brutal fimplen balb, nachdem sie getrocknet, zerschnitten und möglichst fein gemablen gefangen, auf denen Ramses II. in barbarischer Art seine Feinde Sastanien Mehl, Del und Saponin, einen Seifenstoff. Bei den niedermegelt, über die Vernichtung der altgriechischen Kunstblüte vielen Millionen Zentnern Kastanien, die Deutschland jährlich her durch den Peloponnesischen Krieg und die Zerstörung der deutschen vorbringt, können auch hier große Werte nugbringend verwandt Kunstblüte durch den Dreißigjährigen Strieg hinweg bis auf die werden, die vordem nur als Kinderspielzeug oder zur Herstellung Herabdrückung und zum Teil gänzliche Lahmlegung des fünstlerischen von Schneeberger Schnupftabat gebraucht wurden. Schaffens in unseren Tagen, in denen man Hilfsaktionen für die durch den Krieg in Not geratene Künstler ins Leben rust, hat sich die Kunstfeindlichkeit des Krieges erwiesen.
"
diefes weit verbreiteten Unfrauts unserer Aecker, angesehen werden. Als ein weiteres Mehlsurrogat dürfen die Samen der Melde, Ist nun aber auch die Kunst in gleichem Maße eine Feindin Die Samen werden mit Wasser aufgekocht und dadurch entbittert Die Blätter dieser Pflanze tönnen als Spinat gegessen werden. des Krieges? Die Frage wird man kaum bejahen können, wenn und dann als Mehl oder Grieß verwandt. In Rußland wird in man sich die zahlreichen Schöpfungen der Vergangenheit und Gegen schlechten Erntejahren vielfach Brot aus Meldemehl gebacken. wart vor Augen hält, in denen der Krieg durch die Stunst ins Schon Virchowo brachte von dem medizinischen Kongreß in Moskau , Heldische und Gigantische erhoben wird. der Kunst das Motiv des Krieges benutzt, um die ästhetische Freude sogenanntes„ Hunger brot" mit, das sich bei genauer Untersuchung Sehr oft wird auch von der in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stattfand, an der Entfaltung der Kraft wachzurufen. Alle diese Werke, von als Brot aus Melbesamen erwies. dem gewaltigen Kampf der Götter mit den Giganten" am Zeus altar zu Pergamon angefangen, bis zu den ins" Monumentale" Der Vortragende ließ auch ein Fläschchen bei den Hörern gesteigerten realistischen Darstellungen des Krieges unserer Tage herum zeigen, das Sirup aus Quedenwurzeln enthielt. Dieses haben nicht wenig dazu beigetragen, das Motiv bes brutalen Unkraut, das ein rechter Greuel jedes Ackerbauers und LaubenStrieges der Leiber felbft als etwas Großes und Gigantisches emp- tolonisten ist, befigt teine Stärke, wohl aber einen hohen Zuckerfinden zu lassen. Man hat sich vielfach durch die Größe, mit der gehalt in feinen Wurzeln. die Furie dargestellt wurde, für die Furie selbst begeistern lassen, ähnlich wie der jugendliche Leser eines Schauerromans, der über der Verschlagenheit und Kühnheit seines Helden" dessen VerbrecherMatur übersieht. Jedoch mehren sich in der Gegenwart immer mehr die Künstler, die in die innere Natur des Krieges eindringen, diese zur Darstellung zu bringen suchen. Der Krieg, wie ihn uns 3. B. Böcklin zeigt, braust mit furienhafter Gewalt, Länder und Nordstern- Versicherungsgesellschaft neben dem Schöneberger Rathaus Städte verfinsternd und zerstörend, über die Erde, und der gegen wärtige Weltfrieg hat, wie vielen anderen auch so manchem Künstler die Augen über sein wahres Wefen geöffnet. Sie schaffen Werke im Geiste eines Francisco Goya , in denen sich die Stimme der Vernunft und der Menschlichkeit gegen den wahnsinnigen Völker morb erhebt und die die Seele seine ganze Greulichkeit empfinden lassen. Aber auch die Anschaulichkeit der rein fachlichen Darstellungen, wie im weiteren Verfolg der Ziele eines Bereichtschagin viele Künstler heute das Kriegsgeschehen formen, dürfte in Zufunft manches zur besseren Erkenntnis des wahren Wesens des Strieges beitragen. Das alles deutet darauf hin, daß sich die Kunst mehr und mehr zu einer Nichterin und leberwinderin des Krieges wandeln wird, unter deren mächtiger Withilfe der Krieg aus den Herzen der Menschen ausgerottet und an dessen Stelle die Liebe zu den Werken des Friedens gesetzt wird und die. von keinem Weltbrand mehr gefährdet werden können. Eine neue Aufgabe fällt dann der Kunst zu: Das Jdeal der Solidarität der Völler zu singen und zu formen in dem allgemeinen Stampfe für die Erhaltung und tulturelle Höherentwicklung der ganzen Menschheit. Mag Menger.
Der gegenwärtige Krieg hat, wie auf vielen anderen Gebieten, auch auf dem der Kunst in startem Maße hemmend gewirkt. Wenn man von den Tagesprodukten einer sogenannten Striegsfunft" absieht, deren Wert in den meisten Fällen ebenso aweifelhaft ist, wie so manches andere Kriegsnährmittel, so steht die Kunst im allge meinen unter dem Beichen lähmenden Stillstandes. Das macht sich besonders deutlich bemerkbar auf dem Gebiete der bildenden Kunst. Kein Wunder: Architektur, Bildhauerei und Malerei sind in der Hauptsache von der Bautätigkeit abhängig. Da diese ruht, sind auch die schmüdenden Schwestern auf äußerst ichmale Rationen gefegt. Sie fristen vorwiegend ihr Dasein in Ausstellungen und leben da, wie gesagt, von der Kriegskunst und von der Ueberlieferung. Startes Neuschöpferisches tritt nur äußerst felten hervor. Dafür desto mehr trampfhafte Versuche, von der Seite der Technik und der äußeren Form her zu einem neuen Stil zu gelangen, um damit die Aufmerksamkeit auf ihre Urheber zu ziehen. An geistigem Gehalt, Jdeenreichtum und Phantasie zeigt sich ein beträchtliches Manto. Auch die sogenannte" Neue Kunst" macht hierbon leine Ausnahme. Wo sind die Fortschritte geblieben der Expressionisten, Futuristen, Stubisten, und wie die" üften" alle heißen, die noch vor Kriegsausbruch so stürmisch ins Zeug gingen? Es zeigt sich noch immer dasselbe unsichere Taften und Experimentieren wie in den ersten Vorausgesetzt, daß diese Bewegung überhaupt entwidlungsfähig ist, so hat der Krieg auch diese Entwidlung jäh unterbrochen, zum mindesten start verzögert. Die geistige Depression, die der Krieg im allgemeinen verbreitet, läßt es auch in der Kunst zu feinem freien, aufaimenden Schaffen und Neugestalten lommen. Ein großer Teil der bildenden Künstler befindet sich außerdem im Heeresdienst, darunter manches führende Talent, deren Kräfte entweder ganz vom Dienste in Anspruch genommen werden oder sich doch nur in geringem Maße tünstlerisch betätigrn können. Also im allgemeinen: Stillstand im Bereiche der Bildenden Knnst. Nur in der Herstellung von Kriegsbildern, die wie Pilze aus dem Boden schießen, und von Denkmälern für die Gefallenen hat der Krieg befruchtend gewirkt. Aber auch hier fann man nicht fagen, daß der Krieg einen neuen fünstlerischen Ausdrud geschaffen oder hervorgerufen hat. Das Auge, das diese Bilder aufnahm, ist noch in Friedenszeiten geschult worden, und die Formen, in denen die Bilder zu uns reden, wurden schon vor dem Kriege entwidelt. Gewig mag uns manches friegsgeschaffene Wert eigenartig er scheinen, aber das liegt mehr am Stofflichen als an der Darstellung. Die meisten Kriegsbilder, wie z. B. die von Vollbehr, feffeln in der Hauptsache durch die möglichst getreue Wiedergabe einzelner Aus schnitte aus dem Kiegsgeschehen, und zwar der äußeren Erscheinung dieses Geschehens. Aber auch bei den Künstlern, die das Striegserlebnis tiefer und innerlicher faffen, wie Dettmann, Lührig 11. a. erscheint der Krieg im fünstlerischen Lichte des Friedens gesehen und gestaltet. Auch die Tatsache, daß die modernen Kriegsbilder weniger von Byzantinismus erfüllt sind, als die früherer Epochen, ist zum Teil der Geichmadsentwicklung der letzten Friedens jahre und zum andern dem Umstande gutzuschreiben, daß der gegenwärtige Stieg rein stofflich sehr wenig Gelegenheit zu folder Liebebienerei in der Kunst bietet. An Stelle des gravitätisch auf- Im großen Hörsaal des Botanischen Museums in Dahlem gebauten Feldherrnhügels ist heute der weitverzweigte und in der sprach Professor Dr. Gräbner am Mittwoch über Wehlfurrogate. Erde versteckte Schüßengraben getreten, der ein sehr ungeeignetes Eine Pflanze, die früher faum beachtet, ja häufig als läftiges UnFeld für Fürsten - und Heerführerver herrlichung darstellt. An deffen fraut angefehen wurde, die man aber in der Kriegszeit als äußerst Stelle zeichnet und malt der Künstler jezt die zahlreichen Teil- nüglich erfannt hat, ist der Rohr folben.( Typha). Bohl jedem erscheinungen, die den Strieg von heute in ihrer Bielfältigkeit und ist sie durch ihre braunen Kolben, die Bumskeulen oder Schmacke doch auch wieder grauen Eintönigkeit das charakteristische Gepräge butichten bekannt. Der Wurzelstock, die Grundachse, ist in hohem geben. Diese bemofratifchere Striegsdarftellung ist also weniger dem Grade stärfehaltig und daher zur Mehlgewinnung äußerst gut geStriege an sich zu danken, als vielmehr der besonderen Form, in eignet. Die Kolben werden als Watteerfag verwandt, und aus den der wir ihn heute erleben. Der Krieg ist heute ernster und tief- Fasern verfertigt man Webstoffe. Auch die Wurzelstöcke der Seemühlender geworden, als er in früheren Zeiten war. Er wird mit rofen und Mummeln sind sehr stärkehaltig. Die Gewinnung des den Nerven und dem Blute des ganzen Boltes geführt. Das gibt Mehls im Haushalt erfolgt in derselben Weise, wie früher hier die auch den Kriegstarstellungen größeren Ernst und größere Sachlich- Reartoffelstärke gewonnen wurde. Die Wurzelstöde werden gerrieben keit als den früheren, die zum größten Teil Schlachtenbilder als und ausgewaschen. Bei der großen Ausdehnung, die besonders die ziehung hat ja gerade noch der Krieg von 1870-71 eine unheimliche große Werte, auch in der kommenden Friedenszeit, innerhalb des zirzensische und theatralische Schaustüde behandelten. In diefer Be- Robikolben in manchen Gegenden Deutschlands befizen, tönnen Menge von Produkten hervorgerufen, deren Stunstwert in gar keinem Landes gewonnen werden. Auch die Wassernuß, deren Wurzeln Verhältnis steht zu den riesigen Mitteln, die dafür aufgewendet füßliche, nußartig schmedende Kerne bilden, kommt als Ersatz für wurden. Es sei nur erinnert an die bekannten Rundpanoramen und Mehl in Betracht. Jetzt ist ihre Verbreitung start zurückgegangen, an die zahllosen fabrikmäßig hergestellten Standbilder und Bildnisse während sie früber weit häufiger vorfam. So wurden die Kerne von Fürsten und Heerführern. vor etwa 20 Jahren noch in Deffau auf dem Markt verkauft.
46]
Lodz.
Das gelobte Land.
Roman von 2. St. Reymont.
IX.
Tratinsti entfernte sich ganz niedergeschlagen. Auf dem Wege zu Borowiecki war er des Erfolges feiner Bitte fast sicher gewesen. Wie jeder Mensch in einer Lage ohne Ausweg, hielt auch er Wünsche für Wirtlichkeit, für eine Tatsache, die unbedingt eintreten mußte.
Er bestieg eine Droschte und ließ sich direkt in die Piotrtowerstraße fahren. An nichts denken fonnte er, ganz zerschlagen fühlte er sich und unfähig zu jeder Attion, zu jeder Bewegung. Mit der Passivität der Erschöpfung gab er sich der scharfen, durchdringlichen Bitternis hin, die sein Herz erfüllte.
Er schaute auf die schmutzige, nasse Stadt, auf die dreckigen Bürgersteige, die mit Menschen vollgestopft waren, auf die unzähligen Schornsteine, die wie hohe Pappeln sich über die Flächen der Dächer erhoben.
Mehlfurrogate.
das Gebäude aufzubauen, das schließlich doch über seinem Stopf zufammenstürzen würde.
Eine Rohrpostanlage für Pakete. von Briefen dienten, existiert in Berlin bereits eine pribate RohrWährend die öffentlichen Nohrpostanlagen nur zur Beförderung postanlage für Balete. Sie befindet sich auf dem Grundstück der und dient zur Beförderung von Paleten, Aftenbündeln und dergl. Die Länge ihrer Leitungen beläuft sich auf rund zwei Kilometer. alles in allem sind 26 Nohrpoststationen angebracht, die mit 52 Apparaten ausgestattet sind. Die Beförderung geschieht ähnlich wie bei der Mohrpoft für Briefe in Büchsen, die natürlich entsprechend größer gehalten sind. Jede Büchse lann Palete im Gewicht vor 5,5 Kilogramm aufnehmen, deren Länge 40 Bentimenter und deren Söhe 12 Zentimeter betragen darf. Büchsen werden mit Hilfe von Druckluft durch die Nohre hindurchDie mit Paketen gefüßten getrieben.
Zur Erzeugung dieser Druckluft dienen, wie die„ Elektrotechnische bildung derartiger Gebläse ist mit Störungen nicht zu rechnen. Zeitschrift" mitteilt, elektrische Gebläse. Bei der guten Durch Damit aber, falls unerwarteterweise doch einmal folche auftreten follten, bei der Vornahme von Reparaturen der Betrieb keinerlei An den Nohrleitungen sind besondere Signaleinrichtungen anStörungen erleidet, wurde noch ein Aushilfsgebläse angebracht. gebracht, die sofort ertennen lassen, ob sich eine Büchse im Rohr befindet oder nicht. Es tönnen täglich rund 900 mit Pafeten gefüllte Büchsen befördert werden, wofür sich die Stromkosten auf nur 8. belaufen. Die Beförde rungsfosten für eine Büchse betragen aiso etwa 0,88 Pf. Jn dem Maße, wie die Leitungen verlängert und ihre Benugung aefteigert wird, verringern sich aber diese Kosten noch weiter. Mit dieser obrpoftanlage für die Beförderung von Pateten ist eine vorbildliche Einrichtung geschaffen worden. Das ganze System scheint in hohem Maße geeignet, auch für den Postbetrieb gute Dienste zu leisten und insbesondere zur beschleunigten Zustellung von Eilpateten sowie von furz vor Abgang der Süge aufgegebenen Pafetsendungen u. dergl. zu dienen.
Notizen.
Dr. A, N.
Rudolf Kleinpaul , ein bekannter Sprach- und Kulturhistorifer, ist. im 74. Lebensjahre in Leipzig gestorben. Außer seinen haltlichen Bändchen über Personen-, Länder- und Bölkernamen in zahlreichen Reisebeschreibungen vorzüglich aus Italien , sind seine Meinen in der Göschen- Sammlung erschienenen belehrend- unterDeutschland in weite Kreise gedrungen. Sie sind ebenso vielseitig
wie populär.
Die Urania wird am Sonntag wieder eröffnet mit dem Vortrag Die Fahrten des Hilfsfreuzers Wolf".
"
Großmann ist angeblich abgebrannt."
„ Sehr ordentlich, sehr ordentlich; die zweihundertfünfzigFurchtbar quälte er sich, fonnte es nicht mehr in der tausend vou der Versicherung hat er beinahe in der Stasse. Droschke aushalten, stieg aus und ging die Piotrkower Straße Aber Goldstand, der heut' nacht abgebrannt ist, der hat' ne entlang zu Fuß weiter. Er wollte zu Baum gehen, wie kleine Mighelligkeit mit der Polizei. Recht so, wenn einer Borowiecki es ihm geraten hatte, zog es aber vor, den keine guten Geschäfte zu machen versteht, dann soll er erst Augenblick der letzten Enttäuschung noch etwas hinaus- gar nicht anfangen." zuschieben; übrigens fonnte er sich von der Straße nicht Iosreißen.
Er versank in der Menge, die über den Bürgersteig flutete, ließ sich von ihr stoßen und tragen. Gedankenlos schaute er sich die Auslagen an, faufte sogar in der Konditorei was etwas für seine Frau, begrüßte da einige Bekannte und ging weiter, in den Anblick der Fabriken vertieft, der beleuchteten Fenster, hinter denen die Silhouetten von Maschinen und Menschen herumhuschten; langsam betäubte er sich mit diesem Getöse und wurde immer gleichgültiger.
Den Regen, der andauernd herunterrieſelte, beachtete er uicht, er bergaß sogar den Schirm aufzuspannen. Nichts sah er außer den mit Menschen und Waren angefüllten Kontors und den hastig arbeitenden Fabriken.
,, Guten Abend, Herr Trawinsfi." ,, Guten Abend, Herr Halpern!"
,, Wer ist denn jetzt an der Reihe?"
Von den besseren A. Richter und F. Fischbein." Borowiecki sagte mir dasselbe."
Herr Borowiecki, ho, ho, ho! Er kennt Lodz , er weiß, einer nötig hat."
,, Na, aber Sie kennen doch Lodz auch gut."
" Ich? Ich hab' ganz Lodz im Stopf. Seit fünfzig Jahren seh' ich jeder Firma zu, die aufgemacht wird. Ich fann heute fast mit Sicherheit von allen, die Geschäfte aufmachen, sagen, ob sie leben werden. Glauben Sie mir, Herr Traivinsfi, mein Wort ist kein Wind, mein Wort ist ein Dokument. Ein Wechsel mit dem besten Giro."
Trawinski erwiderte nichts; schweigend gingen sie neben
einander.
Halpern hielt den Schirm vor und schaute liebevoll auf Häuser und Fabriken; in seinem blassen, mageren Gesicht, Er drückte die ausgestreckte Hand des hohen, recht nach das ein weißer Bart umrahmte, schimmerten große, schwarze lässig gekleideten Mannes.
in
,, Gehn Sie in der Stadt spazieren?"
" Ja, ich wollte etwas herumgehen. Lodz ist sehr schön der Dämmerung. Ich gehe jeden Tag nach dem Kontor bißchen spazieren und mir die Stadt anschauen." Sie sind ein Genießer, Herr Halpern.
"
44
Was wollen Sie, wenn man sechsundfünfzig Jahre in einer Stadt zubringt, sie immer sieht, alle Menschen kennt, dann kann man's werden."
Fast verzweiflungsvoll schaute er hin. Er fühlte seine Ohnmacht, er fühlte, im nächsten Augenblick mußte er aus diesem riesigen Strudel, aus dieser Maschine, aus diesem Lodz herausgeschleudert werden, wie ein Abfall, wie eine ausgesogene und zu nichts mehr taugliche Masse, die dieses Ungeheuer nicht mehr braucht. In ohnmächtigem Haß schaute er auf die in der Dämmerung mit tausend Fenstern leuchtenden Fabriken, auf diese riesige Straße, die wie ein von Rauch und dem schmugigen Himmel bedeckter Kanal dalag, aus der Energie hervorheulte, die Ströme Lichts weithin ergoß und in der eine mächtige Lebenskraft pulsierte. Mit den Augen glitt er an den scharfen Umrissen der Fabriken entlang; das dumpfe, in seiner Unablässigkeit mächtige Sausen, das sich von den Fabriken und Werkstätten ergoß, tat ihm von weh, weh tat ihm das so start pulsierende Leben, und weh tat ihm das furchtbare Bewußtsein des Absterbens, das mit Hem letzten Blick noch merkt, wie viele noch am Leben bleiben! Dieses Bewußtsein durchbohrte ihm die Seele mit unaussprechlichem Neid.
Er verstand es nicht, in dieser Welt zu leben.
Er verstand es nicht, sich der Umgebung anzupassen. So viele Kräfte hatte er aufgebraucht, soviel Gehirn, so viele Mühen, so viel eigene und fremde Stapitalien; so viele gramvolle Jahre hatte er durchlebt, und wozu das alles? ... um wieder von Anfang an dasselbe zu beginnen, wieder
"
Was hört man Neues in der Stadt?"
" Was man hört? Nur Schlechtes, einen schönen Regen protestierten Wechseln haben wir jetzt, man kann sie pfundweise kaufen. Aber das macht nichts." " Wieso denn?"
„ Die Lumpe holt der Teufel, und Lodz bleibt. Ich habe schon schlimmere Zeiten in Lodz erlebt, Herr Trawinski. Da aber auf die schlimmen immer bessere folgen, wird's auch diesmal so sein, was soll man da so viel Aufhebens machen Für die Klugen ist es immer eine gute Zeit."
,, Und wann kommt sie für die Anständigen?" fragte Trawinski ironisch.
Pst, Herr Trawinski, die Anständigen kommen in den Himmel, wozu also gute Zeiten für sie?"
Augen wie Phosphor. Er sah aus wie ein Patriarch. Der Kopf faß auf einem hageren, gebückten Skelett, das in einen langen, fleckigen Mantel gekleidet war; er hing wie an einem Stock an ihm herunter.
" Ich kenne hier jedes Haus, jede Firma," begann er mit Innigkeit.
Ich kannte Lodz , als es zwanzigtausend Menschen hatte, und heute hat's vierhunderttausend! Jd) werde es noch erleben, wenn es über eine halbe Million haben wird, früher sterb' ich nicht! Ich muß das mit meinen eigenen Augen sehen, ich muß meine Freude haben."
hässig.
,, Wenn es nicht vorher eingeht", flüsterte Trawinski ge
" Ha, ha, ha! reden Sie doch nicht so komische Sachen, Herr Trawinsti! Lodz ist, Lodz bleibt! Sie kennen es nicht! Wissen Sie, wie hoch der Umlauf im vorigen Jahre war? Fünfhundert Millionen Rubel!" rief Halpern enthusiastischh und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Das ist ein schönes Geld. Zeigen Sie mir doch eine zweite solche Stadt!"
"
"
Man braucht nicht so viel Aufhebens davon zu machen; und übrigens haben Sie recht, so eine zweite diebische Stadt gibt's in ganz Europa nicht." Er sprach ärgerlich.
Corts, folgt.)