W-MrekS: 1890 1893 1898 1903 1907 1912 Berlin I.; 23,66 26,61 28,5 41.4 38,3 39.6 , H... 38,01 45,69 48,0 55,6 53,2 59,8 . m... 49,63 47,91 48,1 60,0 65,0 66,1 , IV... 72,48 71,36 73,1 77,0 75,6 82,4 „ V... 33,04 41,95 47,7 68,6 56,6 70,2 .VI... 62,19 63,50 67,5 71,2 71,7 80,8 Tellow-Beeskow . 38,46 47,30 49,5 65,6 52,2 58,6 Niederbarnim.. 45,27 48,94 54,4 59,96 61,0 71,6 Bei dieser Tabelle konnten selbstverständlich nur die Haupt- Wahlen in Betracht gezogen werden, da die Stichwahlen ein schiefes Bild über die Stärke der einzelnen Parteien ergeben würden. Seit 1890 ist also, außer bei der Blllow-Wahl im �tahre 1907, ein ständiges unaufhaltsames A n- wachsen des Prozentsatzes für die sozialdemo- kratische Partei zu verzeichnen. Eine Tendenz, die sich bei der nächsten Wahl in ganz erhöhtem Maße steigern dürste. Nun tritt durch das neue Gesetz insofern eine Aenderung in der Zusammensetzung der Wahlkreise Stadt Berlin und Niederbarnim ein, als das sogenannte Vieh Hofviertel bisher wohl in Berlin eingemeindet war, bei den Reichstags- Wahlen aber noch zum Kreis Niederbarnim gehörte. Dieser Stadtteil hat Stimmen abgegeben: So,. greif. Kons. Zentr. Polen 1907 7 004 2 1935 212 58 20 1912 11 189 637 1000 212 64 24 Wäre also das neue Wahlgesetz bereits im Jahre 1912 in Kraft gewesen, so hätte sich folgendes Verhältnis herausgestellt: In Stadt Berlin sind einschließlich des sogenannten Vieh- hofviertels insgesamt 421 688 gültige Stimmen abgegeben, bei zehn Mandaten wäre der Divisor also 42 168. Es hätten dem- nach erhalten die Sozialdemokraten mit 318 951 Stimmen sieben Mandate(Rest 23 775 Stimmen), die Freisinnigen mit 70796 Stimmen ein Mandat(Rest 28 628 Stimmen). Die zwei noch fehlenden Mandate würden erhalten: eins die Freismnigen, da sie mit dem Restteile von 28 628 dem Divisor am nächsten kämen; als die zweitnächsten erhielte die Sozialdemokratie noch ein Mandat. Demnach wären in der Stadt Berlin acht Sozial- demokraten und zwei Freisinnige gewählt worden. Hätten aber nun Konservative, Antisemiten und Zentrum ihre Liste� verbunden— was bei der damaligen Parteikonstellation möglich war'—, so hätte diese Gruppierung mit insgesamt 27 505 Stim- men das Mandat errungen und nicht die Sozialdemokratie. In Teltow -Beeskow sind 1912 folgende Stimmen abgegeben: 163 765 Sozialdemokraten, 70 089 Freisinnige, 29238 Konservative, 9814 Demokratische Vereinigung, 3928 Zentrum, 941 Polen , 807 Christlichsoziale, 467 zersplittert. Insgesamt sind also 279 049 Stimmen abgegeben worden, und da nun sieben Mandate zu verteilen wären, so ist der Divisor 39 864. Demnach hätten erhalten: die Sozialdemokratie vier Mandate(Rest 4309 Stimmen), die Freisinnigen ein Mandat (Rest 30225). Die noch zu verteilenden zwei Mandate hätten erhalten die Freisinnigen eins und die Konservativen eins. In Niederbarnim haben(nach Abzug des sogenannten Biebhofviertels). im Jahre 1912 Stimmen erhalten 81 370 Sozialdemokraten, 19 087 Konservative, 12 864 Freisinnige, 2182 Zentrum, 492 Polen und 181 waren zersplittert._ Insgesamt sind also 116626 Stimmen abgegeben worden, in die drei Mandate zu verteilen wären. Der Divisor ist also 38 875. Demnach hätten erhalten die Sozialdemokraten zwei Mandate :md die Konservativen ein Mandat. Kroß-Berlin hätte also— wäre das Gesetz im Jahre 1912 bereits in Kraft gewesen— an Ilbgeordneten entsandt: Sozial- demokraten 14(bisher 7), Freifinnige 4(1), Konservative 2(0). Bei der nächsten Wahl ist mm sicher zu erwarten, daß die Zahl der für die sozialdemokratischen Parteien abgegebenen Stimmen sich stark vermehren werden und damit auch die Zahl der errungenen Mandate. Wie hoch wird nun der Anteil der Unabhängigen daran sein? Wir sind wohl alle über- zeuat, daß sich die Mehrzahl der sozialdemokratischen Wähler für die» a l t e sozialdemokratische Partei entscheiden wird. Hoben doch bisher alle allgemeinen und geheimen Wahlen zugunsten der alten Partei entschieden, und nur bei der öffentlichen Stimmenabgabe war es den Unabhängigen möglich, Erfolge zu eerringen. Außerdem macht sich ein starker Drang nach Einig- keit bereits bemerkbar, namentlich aber' ein Abwenden der großen Masse der Arbeiter von der Taktik der Unabhängigen. Unsere Genossen dürfen aber trotzdem nicht etwa denken, die Erfolge fallen ihnen mühelos in den Schoß. Der nächste Wahl-
kämpf wird in Groß-Berlrn heftiger und leidenschaftsicher ge- führt werden wie alle bisherigen. Die Bürgerlichen hatten in sieben Berliner Wahlkreisen bis jetzt wenig oder gar keine Aus- ficht, ein Mandat zu erringen, ihre Anstrengungen waren daher nicht allzu groß. Geld und Leute verwandten sie mehr für die Wahlkreise, die ihnen Ausficht boten. Anders wird es jetzt. Sie werden in den Berliner Wahlkreisen weder Geld noch Mühe scheuen, um ihre Stimmenzahl zu erhöhen. Dazu kommt noch die Agitation der Unabhängigen, die namentlich hier in Jier Hauptstadt unter allen Umständen und mit allen Mitteln Er- folge zu erringen suchen werden. Die Anhänger der alten Partei dürfen sich also nicht in Sicherheit wiegen. Die beste Vorbereitung für jede Wahl ist die weiteste Ver- breitung der Parteipresse, der schlagfertige Ausbau der Parteiorganisation und gefüllte Kassen. Hier hu bessern, aufzubauen bis zur möglichsten Vollkommenheit, ist die Ehrenpflicht jedes einzelnen, der sich mit Stolz Sozialdemo- krat nennt._ was will die Entente in Rußlanü! Bern , 10. August. Auf eine Anftage des Abgeordneten K i n g im englischen Unterhause am 5. August, ob die Erklärung der englischen Regierung über die Operatwuen der Alliierten in Rußland gleichzeitig namens Frankreichs , Japans und der Ve reinigten Staaten erfolgt sei, erwiderte B a l f o u r: Wir haben keine Erklärung für unsere Verbündeten abgegeben. Was wir im eigenen Namen erklärt haben, lautet:„Das Ziel Seiner Majestät Regierung ist die Herbeiführung der politischen und Wirtschaft- lichen Wiederherstellung Rußlands ohne innere Ein- Mischung irgendwelcher Art und die Vertreibung der feindlichen Streitkräfte vom russischen Boden. Seiner Majestät Regierung erklärt kategorisch, daß sie keinerlei Absicht hat, im geringsten Maße die territoriale Integrität Rußlands zu verletzen." Ich hege keinen Zweifel, daß dieses im völligen E i n k l a n g mit der Ansicht aller vereinigten Regierungen steht. King ftagte mit offenkundiger Ironie weiter: Wäre es nicht ebenso gut, wenn diese bewunderungswürdige Kriegsziel- Erklärung mit der bestimmten ausdrücklichen Zu st im- mung der Bundesgenossen durchgeführt würde? ' B a l f o u r antwortete: Unsere Bundesgenossen mögen es für weise halten, eine gemeinsame Erklärung abzugeben oder nicht, es genügt, daß die verschiedenen Regierungen eine eigene Erklärung abgeben. S n o w d e n fragte, wie der Ausdruck„Herbeiführung der politischen und wirtschaftlichen Wiederherstellung Rußlands " zu verstehen sei.(Thorne rief ihm zu: Alle Deutschen hinauszuwerfen.) Balfour antwortete: Es bedeutet, daß wir hoffen, Ruß- land Polstisch in einer geordneteren Lage zu sehen als jetzt. Neben anderen Tingen hat es diese Bedeutung. Balfours Worte klingen sehr edel und zurückhaltend. Die Praxis des englischen Vorgehens in Rußland sieht freilich etwas anders aus. Zum Beispiel mahnen die englischen in Wladiwostok gelandeten Militärbehörden die Bevölkerung, sich mit den von den Bolschewiki abgesandten Agitatoren nicht einznlasien. Jeder Bürger der Murmanküst«, der die bolschewistischen Vertreter versteckt hält rcher ihnen Hiffe leistet, wird mit dem Tode bestraft. Die Boffche- wiki setzen übrigens die Reprefsivmaßnahmen gegen die Er- schießung ihrer Anhänger fort.„TempS" berichtet, daß der f r a n- zösische Generalkonsul Grenaud, sein Kollege Nazon und General Lavergne, da» Haupt der französischen Mrlftärmtssion, in Moskau von de« Bolschewiki verhaftet wurden. Auch nicht sehr im Sinn« der von Balfour verherrlichten ll n. eigennützigkeit der Entente scheint eS zu liegen, wenn die Japaner, deren Vorposten schon am Baikal -See stehen sollen, einen ganzen Stab von Bergbauingenieuren nach Sibirien mitbringen, die die dortigen Gruben ausnützen wollen. Damit die Ausbeutung derselben möglichst rasch von statten geht, werden für die Arbeiten in den Gruben gleichzeitig Tausende von Chinesen enffandt. An der Ohnmacht der Sowfetvegierrrng gegenüber den Entente- eirchringlingen hat fich wenig geändert. Die der Roten Armee zugeterlte« Offiziere werden in Masse verhaftet. Denn es hat sich herausgestellt, daß die Offiziere im Geheimen eine große An- zahl der Roten Garde für ihre Sache gewannen und in einem etwaigen Kampf fich auf die Seite derGegner stellen woll- ten. Viele der Verhafteten wurden erschossen.
Im Kampf gegen die Tschecho-Slowaken meldet in« Sowjet- regierung einige Erfolge, denen aber auch Schlappen der Sowjet- truppen gegenüberstehen. Miljukows Hoffnung auf üie preußischen Junker. Kowno , 10. August. Miljukow hat fich seinen Parteigenossen gegenüber gegen den Vorwurf des Verrates in einer Denk- schrift verteidigt. Wie die„Baltisch-Litauischen Mitteilungen" der „Jswefiija" entnehmen, enthält diese Verteidigung, die als Manu- skript in Moskauer kadettischen Kreisen verbreitet wird, folgende Darlegungen: Zum Verrat mutz ein Objekt vorliegen. Dieses Objekt könnte nur Rußland sein, aber dieses existiert nicht mchr. Von Verrat könnte man reden, wenn der Krieg mit Deutschland fortdauerte. Der Krieg ist jedoch durch den Brest -Litowsker Frieden liquidiert. Historisch hat sich eine derartige Lage gebildet/daß wir nur bei Teutschland Hilfe finden können. Ich befürchte nicht/daß Rußland zum Sklaven Deutschlands ' wird. Es ist völlig klar, daß die bolschewistische Macht und deren erzwungener Ver- band mit ihr für Deutschland nicht Vorteil hat. In Deutschland können wir uns auf die Agrarpartei stütze«, und bei gegenseitigen Kompensationen könnte diese zur Wieder- Herstellung der Ordnung in Rußland beitragen.
öratianus Politik vom Senat verurteilt. 57 gegen 1 Stimme für Anklagecrhebung. Bukarest , 10. August. Im Senat verlas Mieles cu nachfolgen- den, von zahlreichen Senatoren unterzeichneten Antrag: De. Senat verurteilt in Uebereinstimmung mit der Deputiertenkam- mer und mit dem Gefühle des Landes die unbesonnene, schlecht geleitet« und den guten Ruf des Landes s ch ä digende Politik der früheren Regierung und will an dem begonnenen Werke der Gerechiigkeit teilnehmen. Außer großen politischen Fehlern hat die Regierung Braiianu noch eine Reihe von Uebertretungen begangen, welche vom Straf- gesetz und dem Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit vorge- sehen und bestraft werden. Der Senat billigt vollstän- dig das Vorgehen der D e p u t i e r t« n ka m m e r und ist der Ansicht, daß Bratianu und alle, welche sein Ministerium bil- deten, insgefaint verantwortlich sind und unter Anklage vor Ge- richt gestellt werden müssen. Dieser Antrag, durch welchen der Senat sich rückhaltlos dem Anklageantrag gegen die frühere Re- gierung anschließt, wurde zur namentlichen Abstimmung gc- bracht und mit 67 gegen eine Stimme bei sechs Stimmerrtbalwngen angenommen. In der gestrigen Kammersitzung wurde mft 70 gegen 2 Stimmen die Gesetzvorlage angenommen, durch welche die Regierung für die Zeit bis zum allgemeinen Frieden ermächtigt wird, während der Parlamentsferien oder im Falle der Auflösung der gesetzgebenden Körperschaften Verordnungen mit Gesetzkraft zu erlassen. Bukarest , 10. August. In neutralen und auch in deutschen Blättern wurde gemeldet, daß im besetzten Gebiete Ru- mänienS neuerdings der Belagerungszustand verhängt weichen inch diese Maßregel in der gereizten Stimmung der rumänischen Bevölkerung begründet sei. Diese Nachricht ist unrichtig. Sir dürfte mit der Tatsache rn Verbindung stehen, daß das Jassver Parlament vor einiger Zeit das Gesetz über den Belagerüiuis-ustand' verlängerte, welches schon s« i t K r i eg» d e g i n n in Kraft, ist. Die Verlängerung ersckiien in der gegenwärtigen Uäbergangszeit durchaus selbstverständlich und fand weder im Parlament noch in der öffentlichen Meinung Widerspruch. Bukarest , 10. August. Aus Jassp wird gemeldet: Gegen den früheren Chef der rumänischen Sicherheitspolizei Panaitescu wuxde ein Haftbefehl erlassen. Panäitescu, der sich in Varatec befand, wurde nach Jas sy gebracht und einem langen Verhör unterzogen. Es ist allgemein bekannt, daß Panai- tescu schon vor Ausbruch des rumänischen Krieges hohe Summen von der Entente, besonders von russischer Seite, entgegengenommen hat und sein Amt ausschließlich in deren Interesse leitet«. Ferner wurden Haussuchungen bei dem Chef der Liberalen in Jassy Georges Marzescu, der unter Bratianu Landwirtschafts- minister war, und im liberalen Klub vorgenommen. Der die Unter- fuchnngen geheim sind, find Einzelheiten noch nicht bekannt.
Der Ramsthhaufen. Von Robert Grötzsch . Ob das wohl'ne Art ist! Ob das wohl einer versteht, daß fich ein gesetzter Herr, wie der alte Joachim, plötzlich als Lümmel benimmt und harmlose Leute beschimpft! Nein, also wirklich, es ist schon wie die Anna sagt. Man könnte fich in die große Zehe beißen, sagt die Anna, feine HauS- hälterin, die rotblonde. Man ist zwanzig Jahre lang um den alten Kracher und seine Bücher gewesen, man hat seinen Vollbart wachsen und grau werden leben, tagelang kann er still wie ein Maufwurf auf feinem Schreibtisch wühlen— und nun geht er emes Tages auf den Markt hinunter, wird dort plötzlich munter, donnert die Leute an, flucht und schimpft wie ein Betrunkener. Ob das wohl einer versteht? Ob das.wohl einer versteht: Früh geht Herr Joachim spa- zieren, harmlos, langsam mit dem Stock bergab stackend. Nichts Verdächtiges merkt man ihm an, gar nichts. Geht den Berg hinab und gerät kurz vor dem Marktplatz in einen Hof, wo alte Möbel versteigert werden. Alte Biedermeierschränke. Ein geblümtes Kanapee. Bettstellen, die man knarren hört, wenn man sie an- sieht. Ein Kinderbett, aus dem es noch wie Lachen und Lallen klingt. Ein Spinett. Eine Kommode, deren halboffene Fächer nach Luft schnappen. Verblichene Familienphotographien. Haus- fegen. Eine Kuckucksuhr. Bilder, auf denen der alte Fritz daher sprengt und Blücher an der Spitzo preußischer Garden reitet. Um das alles geballt Menschen mit tastenden, abwägenden Blicken. Händler mit geringschätzigen Mienen. Damit nicht so stürmisch geboten wird. Denn' der Auktionator versiebt sein Ge- schäft, tönt den Vormittag mit heller Stimme an, zieht die Käufer, gruppen rundum mit fich. Die Preise steigen wie an einer senk- rechten Leiter— immer zwei Sprossen auf. - Was will hier Herr Joachim? Was hat er hier zu suchen? Er will nichts kaufen, nein. Was drängt er sich also zwischen den feilschenden Menschen! Will er nach alten Büchern schnüffeln, wie ers beim Altwarenhändler gern treibt? Die Sonne schmeißt ein Bündel Strahlen zwischen die Giebel ap.f Hausrat und Gerumpel. Die alten polierten Nußbaummöbel bekommen flimmernde Lichter und funkelnde Augen. Auf dem Kücheutisch zwischen Gläsern, Nippeskitsch und schlichtem Blech- gerät fängt ein goldig-blechcrner Bildcrrahmen das Feuer der Sonne auf und steht in Flammen. Blitzende Strahlengarben schmeißt er um sich. Mitten drin eine Photographie: ein Soldat, feldgrau, junges, fri sches Gesicht, bbondes Schnurrbärtchen, das Band des eisernen Kreuzes im Knopfloch. Kr lächelt gradamst
mitten in den Menschenschwarm hinein, der fich feilschend von Stück zu Stück schiebt. Er lächelte zu Herrn Joachim auf, der seinen hochgezogenen Buckel senkt und den träumerischen Jüng- lingsblick aufhascht. Wo der wobl jetzt stecken mag, denkt der alte Herr. VreKeicht in Flandern ? Oder vielleicht in der russischen Barbarei wert da hinten? Vielleicht auch deckt ibn schon--- Aber da ist der Menschenschwarm auch schon am Küchentisch. Der Auktionator packt die Photographie und hebt seinen Habybart. Herr Joachim schreckt vor dem hälsereckenden Menschenschwarm ein Stück zurück. „Na also, wer nimmt die Photographie? Ein schönes Bild, ein schöner Rahmen!" Schweigen. Die Blicke der Menge gleiten über den Küchen- tisch bin, betasten zwei Polsterfessel. Ob da wohl schon die Motten drin sind. „Na also: eine Mark mit Rahmen!" Schweigen. Was man wohl mit solchem BW anfangen soll! „Na also: fünfzig Pfennige! Ist schon der Rahmen wert!" Schweigen. Die Menge zerstreut sich um die beiden Sessel, b-nrhlt die Polster. ,.Na also, da geht's mit dem Ramschhaufen weg!" Und der Haby hart legt die Photographie auf einen Eimer, über dessen Ränder altes, ehrliches, langgedientes Blechgerät lugt. Dort liegt nun der Soldat, guckt schräg hinauf zum Himmel, schräg an Herrn Joachims Hutrcrnb vovbei. Der fit bleich geworden. Unter seinen buschigen Augenbrauen, die über den Nasenrücken hinweg spielen, irrt ein Blick hervor, der eine Beschimpfung ist für alle, die tastend um die Polstersessel herum streichen. Schüchtern schleicht er sich an den Eimer heran, nimmt das Bild in die weiße, schmale Hand, hascht wieder nach dem lächeln- den, träumerischen Blick und muß an zwei Burschen denken, die vor dem Kriege des Abends oft so ausbündig an Joachims Garten- hecke vorüber lachten, und die er nie gesehen hat, nie... Und deren Lachen heute vielleicht in einem Massengrab verscharvt liegt, wie dieser hier... Er dreht das Bild. Die blanken Rahmenecken zischen gleißend im Sonnenfeuer auf. lieber die Rückseite aber läuft eine flotte Schrift:„Euer Sohn Paul." Herrn Joachim fährt ein« heiße Welle im Leibe umundum. Mit zitternden Fingern stellt er das BW wieder leis auf' den Küchentisch. Die Stimmen um ihn versinken in einem rauschenden Meer, aus dem hin und wieder laute Blasen kochen, steigen, platzen. .Dreißig Mark zum ersten!" „Vierzig!" _.Künfzig!"„.........
Der Auktionator läßt preisend eine dunkelrote Plüschportiere auS erhobenen Händen a-ufrollen. Wie ein Vorhang senkt sich dies Dunkclror zwischen das schwatzende Meer und den alten Grau- bart, der auf das Bild hinabstarrt. Paul, denkt er, vielleicht bist du einmal auf den Sesseln dort berum gerutscht. Vielleicht fit dein Vater gestorben oder deine Mutter. Wer weiß, welches Schicksal dich hier auf den Ramsch- eimer spülte. Und die da hinterm Vorhang feilschen und schachern und streiten um Dinge, aus denen deine Kindheit guckt. Und mährend die da aufgeregt schachern und handeln und dich auf den Ramsch- häufen schichten, liegst du im flandrischen Graben. Oder du fchläfft schon lange unter irgend einem kleinen Holzkrcuz in Polen — oder in der Champagne—"—' Da ist der Vorhang plötzlich weg. Das plappernde Meer wogt wieder an den Kücheniifch heran. Der Auktionator packt die Photographie, legt sie auf den Eimer. „Na also: das Letzte! Wer nimmt den Ramschhaufen! Schöner Ramsch, feiner Ramsch!" Zahlen fallen unterm Habybart hervor, fallen müd und dumpf wie faules Obst: Einsachtzig. Einsfünfzig. Einsdrcißig. Groschen um Groschen abwärts. Herr Joachim ist wieder bleich geworden. Nur über den buschigen Augenbrauen flammte eine Röte. Er reißt das Bild vom Eimer, fingert im Portemonnaie, schmeiß: einen Rosa-Schein auf den Tisch. Die Leute schauen ihn an wie ein verrücktes Tier, stoßen ein- ander verschmitzt mit dem Ellenbogen, während Herr Joachim komisch mit dem Stocke fuchtelt. Sein« Lippen sind weiß und beben. Aber er bringt nicht, viel zu Markte. „Bande!" schreit'er nur.„Bande seid ihr!" Er' geht. Dreht sich im Hoftor um.„Bande alle miteinander!" Ein Dicker mit blauer Schürze will ihm nach, aber seine Frau hält ihn zurück.„Das siehste doch, daß der--" Sie deutete auf Joachims Zweimarkschein und dann auf die Stirn. . Das plappernde Meer aber grollt und murrt und.schäumt. Ein Flegel! Ob das wohl eine Art ist! Ob das wohl einer ver« steht, he... Ob das wohl einer versteht! Hermann Bahr— Burgtheaterdirektor. Wien , 11. August. Das.Fremdenblatt" meldet auS Salzburg , nach den Verhandlungen mit dem Generaltntendanten Baron Andrian hätte sich Hermann Bahr unter bestimmten Bedingungen bereit erklärt, die Leitung des Burgtheaters zu übernehmen. Bahr M bereits am 1. September Amt antreten,