Nr. 245— 1418
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
5reitag, H. September
Die erste volksbühnen-�ufführung
in öer preste.
JmmermannS„Merlin" wird im gcrnzcn von der Berliner Presse mit Achtung, aber ohne Wärme aufgenommen. Man ton- fiatiert, daß es kein zweiter Faust geworden ist, aber man vergißt, daß uns Faust tausendfältig nahesteht, Merlin aber ganz fern. Ein Werk, dessen kühnen Wurf niemand bestreiten kann, ist zum ersten mal lebendig geworden.... Früher hießen manche Literaten die Volksbühne eine Kunst-Konsumgenossenschaft, deren brave Arbeit nur die Mitglieder interessiere. Jetzt, da Kahßler sein Steuer auf Höhenflug stellte, wird umgekehrt daran erinnert, daß solches Un- terfangen die dem Verein gesetzten Schranken überschreite. Die„Norddeutsche Allg. Ztg." schreibt: „Mit einem großen Ereignis hat dk heurige Theaterzeit begonnen: mit der endlichen Uraufführung von Jmmcrmanns viel- bewunderter, vielumstrittener Mythe an der Volksbühne unter der neuen Direktion Friedrich Kayßlers> Der gestrige Abend, der für immer in der Geschichte des deutschen Theaters gebucht bleiben wird, trug denn auch in allem das Gepräge eben eine? großen Theaterabends: in der völligen Hingabe der Künstler an ihre Auf- gäbe wie in der andachtsvollen Aufnahme eines übervollen Hauses. Wie ein Bühnenweihfestspiel wurde die Aufführung gegeben und genommen. Eine gewaltige Leistung Kahßlers rechtfertigte die großen Erwartungen, die seine Berufung in das Führeramt an unserer bisher größten Bühne geweckt hatte, gewaltig in dem Zu- sammenklang dramaturgischer, organisatorischer und schau spiele- rischer Vollkraft." „Es ist unverkennbar, daß Jmmermann von dem Ehrgeiz ge- trieben war, einen zweiten Faust zu schassen; aber wir werden -nicht wie Geibel sagen, daß es ihm gelungen sei. Wohl aber müssen wir zugeben, daß dein jüngeren Dichter in seinem Satan eine Schöpfung gelungen ist, die den Mephisto des„Faust" überragt. Mit einer Dichterkraft, die auch den größten Vergleich nicht zu scheuen braucht, ist in dieser Gestalt die Idee zum Ausdruck ge- bracht; ein blendender Reichtum sprachlicher Mittel ist berschwen- derisch verwandt, um sie auszustatten. Ueber die Ausführung, durch die zum ersten Male zusammen- wirkende Künstlergcsellschaft Kahßlers ist kein Wort des Lobes zu stark. Der leidenschaftliche Kunstwille des Führers hat alle zur Höchstleistung mitgerissen, so daß es schwer ist, für die einzelnen Darbietungen unterscheidende Würdigungen zu formen. Als er- sreulich bemerkenswert mutz noch der Adel der Sprechkunst gerühmt werden, der jeder Rolle zugute kam." Willi Handl lobt im„L o k a l- A n z e i g er" besonders DülbergS Ausschmückungsstil: „Keine Nachahmung und nicht einmal Andeutung von gegen- ständlicher Wirklichkeit. Kein Baum. Berg, Saal, Palast, der als bestimmte Einheit seiner Gattung für sich dastünde; sondern nur die allgemeine Idee dieser Dinge, in Linien und Farben gestaltet. Bewegliches Grün, in langen Streifen dicht um mächtige Stämme hangend, bedeutet den Wald, ein fteier, farbig geschmückter Bogen bedeutet das Tor; glitzernd helle Streifen die blühende Hecke und scharfkantige Kegel, greller oder matter angestrahlt, die besonnten oder nächtigen Felsen. Für die UnWirklichkeit dieser Vorgänge und Erscheinungen ist das die einzig wahre Umwelt. Die Zuschauer waren, auch wo sie das Werk und seinen Sinn nicht begreifen konnten, doch von dem begeisterten Eifer der künst- lerischen Arbeit mitgerissen." Stefan Großmann faßt in der„Voss. Ztg." seine auf Pointe gestimmten Eindrücke unter der Ueberschrist„Theatralisches Seminar" zusammen: „Die Volksbühne könnte(Kahßlers) Erlösung vom rasenden Ge- triebe sein. Ein Abonnementcheater, das dem Erfolg nicht nach- zukriechen braucht, eine geöffnete Zuhörerschaft ohne Anmaßung, ein Vereinsvorstand, der— man sah es gestern— bereit ist, neben einem wirklichen Lenker des Theaters vollkommen zu schweigen. Jmmermann?„Merlin" als Eröffnungsvorstellung sollte ein Programm sein. Eine deutsche Mythe. Die Wahl bedeutete: Wille zur Tiefe, Wille zur Volkstümlichkeit, Wille zur literaturhistorischen Gerechtigkeit.... War es wirklich ein repräsentativer Abend? Dann möchte man für Kahßlers Herrschaft zittern! Reinheit des Willens, Zusammenhang mit den literarischen Urgroßvätern, Ten- denz zur Wiedervcrgeistigung des Theaters— dies alles hoch in Ehren, aber wenn in den neuen Lenkern der Volksbühne nicht das Fingerspitzengefühl fürs lebendige Theater da ist, dann gründet dramatische Gesellschaften, schreibt erzürnte Programmschriften, aber
gefährdet nicht ein so sauer errungenes Institut wie die Volks- bühne. Die Aufführung bewies, wie viele gute Kräfte Kahßler um sich gesammelt hat. Der Regisseur Ludwig Berger ist, wenn er der entscheidend Verantwortliche ist, jedenfalls ein Könner. Man hat in Berlin selten so viel Sorgfalt auf das Wort auch des kleinsten Darstellers verwendet. Auch war Bewegung und Bildkvtst in jeder Szene." Im„Berliner Tageblatt" urteilt Fritz Engel : „Der Versuch war von vornherein von edelster Aussichts- losigkeit; es war eine schöne Qual, ein märthrerhastes Ange- schmiedetsein. Das Werk ist gewiß großartig angelegt; es ist kühn, ja, durchschimmernd heidnisch-!dreist— rnd Anklänge daran ver- suchte wohl die von Heinz Tieffen hinzukomponierte Musik zu geben. Doch immer herrscht nur der Geist, und selbst dieser Geist, erfüllt von einer nüchternen und gelehrten Leidenschaft, ist nicht hell genug, um sich hinterher<As Gedankencpigramm ge- niehen zu lassen. Wenn sich nach Schluß der Vorstellung Gehirn Und Herz eines Volksbühnenbesuchers aufklappen ließen, wenn ge- prüft werden könnte, was sich cm Bereicherung des Denkens oder des Gefühls angesetzt hat, es würde nichts gesunden werden." „Die Ausführung, unter der Leitung Ludwig Bergers, war sehr bemüht, den„Merlin" mit aller Achtung und Liebe zu ent- decken. Man fühlte natürlich auch, daß eine andere als eine ganz rasche Abwicklung tödlich werden müßte... So spielte man mst den knappsten Verwandlungen. War aber die Ausstattung, von Ewald Dülberg besorgt, wirklich in Einfachheit schön? Ich fand sie dürr und steif."—„In der Darstellung war Friedrich Kahßler allen voran. Er war wieder die Glocke der Schön- heit, Kraft und Empfindung."
politWe Mnöerstube. Es macht sich jetzt eine Art von Plakaten breit, bei deren An- blick man das unabweisbare Gefühl hat: Politische Kinderstube. Aber die Kinder, die diese politische Kinderstube genossen haben, sind schlecht, verderbt, verlogen, widerlich. Eine? dieser klecksigen Machwerke illustriert das Luftaufmarschgebiet Englands, falls Deutschland die flandrische Küste nicht annektiert. Ueber dem auf einer Reliefkarte dargestellten Industriegebiet des Rheinlands schweben bombenwersende englische Luftgeschwader. Unten brennen Städte, stürzen Schlote, bersten Hochöfen. Auf plumpe Köpfe mag die plumpe Mache wirken. Die Tendenz ist sonnenklar, aber die Gründe, mit denen zu wirken versucht wird, sind verlogen und schief. Als ob England in Frankreich , ebenso nahe der deutschen Grenze, nicht Stützpunkt und Basis für Luftangriffe in Hülle und Fülle haben könnte I AIS ob die Kriegstechnik, wenn sie von einem neuen Geist nicht zu anderem Dienst gezwungen wird, in wenigen Jahren nicht so weit sein könnte, um die Strecke von Dover bis KUn, von Nancy nach Essen mühelos in größten Flugzeugen zurückzulegen?! Es gibt keinen Grenzschutz, wenn die Staaten sich nicht zu gegenseitigem Vertrauen und zur Abrüstung organisieren. Jeder noch so gesicherte und vor- geschobene Grenzschutz wird durch verfeinerte, grausamere, tod- lichere. Mittel der durch eben diese„Grenzsicherungen" ange- spornten Kriegstechnik zunichte gemacht. Gerade solche Erwägungen aber will das Plakat ersticken. Ihm kommt es nur daraus an, durch eine plumpe Bildlichkeit zu zeigen: Seht, wir müssen die Hand auf Flandern legen, um unsere rheinischen Industriezentren zu schützen! Ein mehr humoristisches, harmlosere? Kapitel„Politische Kinder- stube" bilden die statistisch-volkswirtschaftlichen Plakate, die figür- lichen Darstellungen tabellarischer Vergleiche zwischen Deutschland und England. Die GesinnungS-Ouintessenz dieser Plakate ist: Eisch, wir haben mehr als du; mein Papa ist Großkaufmann, aber deiner hat nur eine kleine Quetsche. Da ist z. B. die Zahl der deutschen und englischen Sparer verbildlicht: Man sieht eine deutsche Tante, die vergnügt ihr Sparkassenbuch durch die Straßen spazieren führt. daneben ist die englische Tante abgebildet; sie ist viel kleiner, macht ein sauersüßes, neidisches Gesicht, hat aber dafür eine große Warze auf der Nase— etsch l Oder: Der deutsche Michel führt auf einem hochgetürmten Erntewagen sein Getreide ein; daneben kutschiert mißmutig mit einem viel kleineren Erntewagen der englische Vetter- Ein ungeheurer, in endlose Perspektive verlaufender Eisenbabnstrang
und ein wohlgenährter, sehr gut gelaunter Eisenbahnbeamter mit der roten Mütze und der Signalscheibe in der Hand zeigt den Gegensatz zu dem viel geringeren englischen Eisenbahnnetz, den ein trüb- seliges Männeken, der englische Kollege, wehmütig betrachtet. Aehn- lich wird das Nationalvermögen, die Eisen- und Kohlen- und andere Produktion der beiden Staaten verglichen. Und schließlich sieht man in einer Kinderstube einen vergnügt krähenden Jungen mit Pickelhaube und Holzschwert und einen kleinen, verkümmerten, heulenden Khakiknaben— die deutsche und die englische Geburten- ziffer: Politische Kinderstube. Ihr Grundsatz: das, was der andere nicht hat, ist meine Freude und Gewinn. Aus dieser Kommerz- gesinnung, aus diesen ewigen, konkurrenzwütigen Vergleichen zwischen unserer und der englischen Produktionskraft, die nicht erst aus der Kriegszeit datieren, wurde der Krieg. Aber in der Politik ist es nicht so, wie es in der Privatwirtschaft ist(und auch hier nicht sein sollte): nämlich: was dem anderen fehlt, daraus schlage ich Gewinn;— sondern wir müssen aus der politischen Kinderstube heraus dahin gelangen, daß erhöhter Wohlstand, gesteigerte Pro- duklionskraft eines Volke? in ungehemmter Wechselwirkung der Ge- sanuheit der Völker, der Menschheit zugute kommen. H. dl. Ein neues Verkehrsmittel. In verschiedenen Gegenden Deutschlands sieht man jetzt ein eigentümliches Beförderungsmittel: ein fauchendes Ungetüm voran, dahinter einige(meist drei) angehängte Wagen, die mit allerlei schweren Lasten beladen sind. Das ist der Dampflastzng, der bei dem Mangel an Pferden und an Benzin berufen ist, Fuhrwerke und Lastkraftwagen zu ersetzen. Und dieser Ersatz bewährt sich in der Tat besser als mancher andere Kriegsersatz. Der Dampslastzug besteht aus einer Straßenlokomotive(zu- weilen auch Dampfwalze) und mehreren Anhängewagen. Die Heeresverwaltung ist es selbst gewesen, die dieses neue Transport- mittel begünstigt hat. Es werden in den nächsten Monaten rund 1000 neue Dampflastzüge dem Verkehr übergeben, damit auf diese Weise die Verkehrsschwierigkeiten, die zum Herbstbeginn wieder in verstärktem Maße auftreten, behoben werden. Der Betrieb ist recht einfach, verursacht verhältnismäßig geringe Kosten und erfordert wenig Menschenkräfte. Im Groß-Berliner Stadtverkehr ist ein solcher Dampflastzug keine seltene Erscheinung mehr, aber auch in anderen Großstädten und Jndustriebezirkcn bürgert er sich mehr und mehr ein. Er eignet sich vorzüglich zur Beförderung schwerer Güter, Kohlen, Holz, Baustoffen, Steinen usw. Die Stadt Elberfeld benutzt den Dampflastzug zur Müllabfuhr. Der Straßenverkehr an Straßenbahnen, Lastkraftwagen und sonstigen Fuhrwerken hat sich sibnell an diesen Straßcnzugbetrieb gewöhnt, und Störungen oder Unfälle sind nickt borgekommen. Viel Pferde- material ist auf diese Weise für den öffentlichen Verkehr, namentlich für die Abfuhr von Gütern von und zur Bahn, sreigeworden. Man hört den Einwand, daß die Lastzüge infolge ihrer Schwere die Straßen zu sehr angreifen. DaS� ist indessen nicht der Fall. Einmal ist die Geschwindigkeit der Danipflastzüge geringer als die der Lastautomobile, dann erhalten die Räder, auch der Anhängewagen, eine besonders breite Lauffläche. Nach Angaben des Tiefbauamts der Stadt Dresden wurde die Straßendecke von Dampflastzügen weit weniger angegriffen als durch das Fahren eisenbereifter Lastautomobile. Unsere Chausseen haben meist söge- nartnten Makadambau, d. h. einen festgewalzten Ueberzug von Steinschlag und Sand. Dieser Straßenoberbau eignet sich ani besten für den Dampflastzugbetrieb. Auch in bergigem Gelände bewährt sich dies neue Beförderungsmittel.
Notizen. — Im Kleinen Theater werden in dieser Spielzeit von jüngeren in Berlin noch nicht aufgeführten Dichtern außer Hanns Johst noch Emil Lucka und Wilhelm Speyer zu Worte kommen. Der erste historische Lustspiclabend bringt„Alt-Nürnberg", Schwanke, Lieder und Tänze des Hans Sachs mit Musik von Bo- gumil Zeppler. — Das National-Theater, da? bisher die Berliner Posse pflegte, wird sich jetzt der Operette zuwenden."Als erste No- vität geht am Sonnabend„Prinzenliebe" in Szene. — Di« Budapester Philharmoniker bringen in ihrem ersten Gastkonzert am 9. September in der Philharmonie ein sehr interessantes Programm ausschließlich von ungarischen Komponisten.
llosz.
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vas gelobte LanS . Roman von W. St. R e y m 0 n t. „Danke, Kama, ich danke Ihnen sehr, aber ich brauch' kein Geld." „Ist nicht wahr. Zeigen Sie die Brieftasche her." Als er sich weigerte, zog sie ihm die Brieftasche rasch heraus, begann darin herumzusuchen und fand ihre Photo- graphie. Lang und innig schaute sie ihm in die Augen; langsam bedeckte eine Röte ihren Nacken und ihr Gesicht, sie gab ihm die Brieftasche zurück und flüsterte ganz leise: „Ich Hab' Sie dafür lieb, ich Hab' Sie lieb. Aber die Photographie haben Sie der Tante aus dem Album genommen, aha!" „Beim Photographen Hab' ich sie gekauft." „Ist nicht wahr I" „Wenn Sie's nicht glauben, dann geh' ich." Sie fing ihn bei der Tür ab und vertrat ihm den Weg. „Aber Sie zeigen doch niemand diese Photographie?" „Niemand." Horn ging hinaus und besuchte verschiedene Bekannte, bevor es ihm gelang, das nötige Geld für Jusiu Jaskulski aufzutreiben; dann ging er zu Borowiecki. XV. Horns Gespräch mit Borowiecki währte nicht lange, weil jener keine neuen Nachrichten von Schaja hatte. Beim Hinausgehen stieß er auf den alten Jaskulski. der auf die gestrige Empfehlung von Wysocki hin zu Borowiecki kam. Jaskulski war heute noch verschüchterter und noch un- beholfener als gewöhnlich; ab und zu richtete er sich stramm auf. glättete den Schnurrbart, räusperte sich, konnte sich aber trotzdem keinen Mut einflößen. In einem kleinen Warte- räum bei der Färberei wartete er und hatte schon ein paar- mal gute Lust zu verschwinden, setzte sich aber bei dem Ge- danken an Frau und Kinder und bei der Erinnerung an das so vielfache und vergebliche Warten in verschiedenen Kontors und in den Vorzimmern der Fabrikanten wieder hin und wartete resigniert. „Sind Sie Jaskulski?" fragte Karl eintretend. „Jawohl, ich habe die Ehre, mich dem Herrn Direktor vorzustellen, me« Name ist JaSkulSkt."
Diese sakramentale Formel, die er schon so oft wieder- holt hatte, sprach er ganz langsam. „Es handelt sich hier um keine Ehre. Herr Wysocki sagte mir, Sie suchen eine Stelle." „Ja," erwiderte er kurz, den schäbigen Hut in der Hand zusammenknüllend und angstvoll wieder die Antwort er- wartend, es sei nichts frei. „Was können Sie und wo haben Sie gearbeitet?" „Bei mir." „Hatten Sie ein eigenes Geschäft?" „Ich hatte ein Gut, man hat's halt verloren, und jetzt wegen einer momentanen Verlegenheit, einer nur mo- mentanen," versicherte er, und Schamröte bedeckte sein Ge- ficht,„weil lvir nämlich einen Prozeß führen, der unbedingt zu unseren Gunsten ausfallen wird. Die Sache ist ganz klar, von meinem Vetter nämlich, der kinderlos gestorben ist." „Ich habe keine Zeit, mein lieber Herr, mich auf Ge- nealogien einzulassen. Sie waren Gutsbesitzer, das heißt, daß Sie eben nichts können. Ich möchte Ihnen gerne helfen. Es trifft sich so günstig, daß seit ein paar Tagen in den Magazinen eine Stelle frei ist, wenn Sie sie also haben wollen?" „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, vielen Dank, denn wir sind wirklich in einer kleinen Verlegenheit. Ich werde mich nie entsprechend revanchieren können. Darf ich wissen, was es für eine Stelle ist?" „Die eines Magazinwächters! Zwanzig Rubel Gehalt. Beschäftigung während der Fabriköstunden." „Ich empfehle mich!" sagte Jaskulski hart und wandte sich zum Gehen. „Was haben Sie denn?" rief Borowiecki erstaunt. „Ich bin ein Edelmann, mein Herr, und Ihr Vorschlag ist unwürdig. Ein Jaskulski kann wohl Hungers sterben, darf aber nicht Hausknecht werden," erwiderte er leise und erhaben. „Dann sterben«>« Hungers mit Ihrem Edelmanns- dünkel, nur so schnell wie möglich, so werden Sie wenigstens anderen nicht im Wege stehen," schrie Borowiecki aufgeregt und ging fort. Ganz aufgebracht trat Jaskulski auf die Straße und schritt eine Zeitlang hoch aufgerichtet, stolz, mit blutüber- laufenen Wangen, in seiner Ehre und Würde sich sehr ge- kränkt fühlend. Als ihn aber die kühle Luft umwehte, als er sich wieder unter freiem Himmel auf der Straße sah und von den rasch vorbeietiende« Passanten an die Räder der
sich endlos hinziehenden, mit Waren beladenen Lastwage gestoßen wurde, brach er seufzend zusammen, blieb_ am Bürgersteig stehen und suchte jn den durchlöcherten Taschen nach einem Taschentuch... An irgendeinen Zaun gelehnt, starrte er mit einem willen- losen, blöden Blick auf das Häusermeer, auf die unzähligen Schornsteine, aus denen schmutzige Rauchwolken empor- schlugen, auf die in wilder Arbeit tosenden Fabriken, auf den Betrieb ringsherum, auf die ewig tätige, schöpfende und mächtige menschliche Energie, die sich in dieser Stadt ver- körperte, und dann auf die stille, blaue Himmelsfläche, über die die Sonne dahinzog. Wieder suchte er nach seinem Taschentuch, konnte aber die Tasche nickt mehr finden, denn ein Krampf des fürchter- lichsten aller Schmerzen packte ihn ans Herz— ein Krampf der kraftlosen Ohnmacht. Er hatte gute Lust, an diesem Zaun sich hinzukauern. den Kopf auf einen Stein zu legen und zu sterben. Möchte doch schon endlich einmal dieses fürchterliche Ringen mit dem Leben aufhören, brauchte er doch nicht mehr zu der vor Hunger verreckenden Faniilie zurückkehren, brauchte er doch nicht- mehr seine eigene Ohnmacht so zu fühlen. Nein, er suchte nicht mehr nach seinem Taschentuch, er verdeckte bloß mit dem zerrissenen Aermel das Gesicht und weinte. Borowiecki jedoch kehrte in sein neben der.Küche' gelegenes Laboratorium zurück und erzählte dem an der Ecke des Tisches sitzenden Murray von Jaskulskis Besuch. „Da? erstemal in meinem Leben bin ich so einem Menschen begegnet I Ich biete ihm Arbeit an und damit die Möglichkeit eine? Vegetiercns. und da antwortet mir der empört: ich bin ein Edelmann und kann mich nie zum Hausknecht erniedrigen; lieber verreck' ich vor Hunger! Es wäre weiß Gott besser, wenn diese Art von Edellcuten wirklich so schnell wie möglich verrecken würde." „Wir sind bald fertig mit dem Drucken des.Bambus'," meldete ein Arbeiter. „Komm' gleich! Sie schämen sich zu arbeiten, schämen sich aber nicht zu betteln, das Ersteh' ich wirklich nicht. Was fehlt Ihnen?" fragte er rasch, als er sah, daß Murray nicht zuhörte, sondern mit einem blassen, weinerlichen Blisk zum Fenster stqxrte. „Nichts, ich fühl' mich wie gewöhnlich," erwiderte er un- willig. „So ein trauriges Gesicht haben Sie."(Forts, solgt�