Nr. 29$— 191$
Unterhaltungsblatt des vorwärts
Dienstag, 29. Oktober
tzSnöe.
Bon Th. Thomas(Frankfurt a. M.), Das Schiebefenster, durch das die Gäste der Kriegsküche ihre 50 Pfennig für ein Mittagessen reichen, ist so klein, daß dn nur die Hände und ein Stück vom Aermel der sich Vorbetdrängenden sehen kannst. Alles andere bleibt ein Geheimnis, es sei denn, man will die Stimme noch als ein Teil dessen anerkennen, der seinen Beitrag für die öffentliche Verpflegung durch das runde Loch reicht. Nur Hände, hundert, tausend, viele tausend gleiten hier vorbei wie eine Wallfahrt der Arbeit, zarte und feine, schwarze und weiße, alte und jung«. Sie sind so vertraut wie Gesichter, sie reden ihre Sprache wie der Mund und erzählen wortlos viele Geschichten. Bestimmt genau nach zwölf Uhr taucht die Hand auf, die an- schsiuend an einer Stanzmaschine drei Finger verlor; die noch zwei vorhandenen haben fast die Gelenkigkeit der fehlenden htnzubekom- men; die vergriffenen Papierscheine werden mit überraschender Sicherheit vom Daumen und.steigefiuger regiert. Gleich hinterdrein schiebt sich ein« welke Frauenhand mit allen Ehrenmalen fleißiger Arbeit, die wohl schon sechzig Jahre gedient bat. Die Finger sind wie Stricke, ihre Schwielen reden von hartem Dienst. Nicht ein« Sekunde bleiben die ans Arbeiten gewöhnten zehn Geschwister ruhig auf dem Zahlbvett liegen, sie stnd in fort- währender nervöser Bewegung, streichen hastig und zitternd das Wechselgeld ein, als wollten sie ja nur nicht länger stören... Leichte, zarte, aber nicht gepflegte Hände erscheinen in der Seffnung. Die Nägel schwarz eingerahmt wie eine Traueranzeige, drei geschmacklose Ring« am Finger. Blaue Flecken verraten da? Schreibmaschinmfrcrnlein, ein Heft„Krieg und Liebe' ihre Dil- dung. In den unsauberen Händen Schmutz! i teratur, die Stimme ordinär: DurchschnittSware, falsche Erziehung.—.Der Nächste, bitte!" Eine link« Hand schiebt sich am Schalter vor; die rechte liegt irgendwo im Osten oder Westen begraben. Mit Staunen betrachte ich immer wieder, wie dieser Einhändige geübt ist, wie er dem Geld- beute! Scheine entnimmt, Karten ablegt oder Wechselgeld einsteckt. . Das alles mit einer Sicherheit, die verblüffend wirkt. Es ist, als ob die gciwc Beweglichkeit des verlorenen Gliedes in dieseZ über- S-ng. Eure große Zahl Frauenhände, die zwei goldene Ringe tragen, entrichten ihren Betrag; meist sind eS Kriegerwitwen, die ihr Liebstes hergegeben haben. Manche ist unter ihnen, di« bessere Tage sah, aber jetzt zwischen Fabrik und Kriegsküche ihren einsamen Weg geht, deren Hände sich nur schwer an das rauhe Material gewöhnten. Aha, da kommt mir auch wieder diese schwielige Vorderflosse zu Gesicht, die wie eine eiserne Zange zufaßt. Jeder Finger ist ein Dreschflegel, die geballte Faust wie«wn Dampfhammer, ein Bild urwüchsiger Kraft. Dabei immer reinlich gehalten, trotzdem dieses Greifwerkzeug schmutzige Arbeit verrichten muß. Nicht von allen kann man das hohe Lied der Sauberkeit fingen; etwelche kommen tvohl in Ermangelung von Zeit und ReinigungS- gelegenheit mit allen Rückständen des Arbeitstische» hierher, oft ist es nicht nur der Niederschlag von einem Tag. Nün treten einige Dutzend Leute an mit gelben, wir mit Safran gefärbten Fingern. Pulverarbeiter, deren Haut quittengclb ist. Wenn du ihr Gesicht sehen könntest, würdest du finden, daß sie auch dort, wie am ganzen Körper, stark gefärbt sind. dü;- pacx- jpfe'seme-PettschÄch-n-ftzgen fetzt in isr: Ccfftuntg. Rosige Nägel, jeder einzeln« wie mit dem Lineal geschnitten, zart die Haut, gepflogt die ganze Klaviatur, in der Hand ein Buch von Raabe..Besserer Mittelstand' lautet das Urtoil, im Kriege heruntergekommen, der Not gehorchend Kriegsküchengast. Si« findet Gesellschaft von solchen, die sich früher auch nicht träumen ließen. daß sie sich hier treffen würden. Ist auch weiter nicht» dabei; jeder Bürger hat ja Zutritt, viele müssen eS zeitlebens tun. Dies« Hände empören sich gegen den Blechlöffel, gegen die Literschüssel, gegen die Nachbarn, kurz gegen alles. Und müssen doch wieder und wieder kommen, wer! ihnen selbst die MittelstcmdSküchen zu teuer find. So wechseln die Hände fortwährend, trommeln nervös auf dm Tisch, wen« e» ein wenig dauert, beherrschen breit da» ganze Zahl- brett oder breiten triumphierend— dn glaubst die Finger lächeln zu sehen— ihr« Barschast aus.
Daneben die, die sich vor sich selbst zurückziehen, kaum den Tisch zu berühren wagen. Dann die zitternden Hände des Greises, die wie zerknittertes Seidonpaprer wirke» oder andere mii Krankheiten behaftete. Kurz: der Menschheit ganzer Jammer wandelt als leben- diges, bebildertes Lesebuch liier vorbei. Du könntest dich ausbilden, die Schicksal« der Zeitgenossen, ohne ihnen ins Gesicht oder auf das, was ihnen aus den Aermeln herausschaut, zu sehen, einfach von den Händen abzulesen. Ich kannte einen allen Verwalter, der viel mit zwei feihaften Personen zu tun hatte, die mitunter ohne Ausweispapiere«inge- liefert wurden. Der ließ sich nur die Hände zeigen und fällte da- nach sein Urteil, ob er es mit einem Arbeitsscheuen zu tun hatte, oder mit einem, der der Arbeit nicht aus dem Wege ging. Er hat sich dadurch nicht selten die beste Auskunft verschafft. Am KriegsküchenschaUer kann man die gleichen Studien machen. ES wäre überhaupt besser, wenn man den Leuten mehr auf die Finger wie ins Gesicht sieht; die Augen können täuschen, der Mund kann lügen, die Hand indessen spricht«ine Sprache,„davon läßt sich kein Jota rauben". Schutzmaßnahmen gegen öie Grippe. Der Erreger der Gripp « befindet sich in den Almungswegen (also Nase, Mund, Kehlkopf, Luftröhre, von Kranken und von gesunden Bazillenträgein. Außerhalb des nienschiichin Körpers geht er wahrscheinlich sehr rasch zu Grunde. Er wird in der Regel nicht durch Be- rührung von Kranken und von deren Gebrauchsgegenstände» übertragen, sondern nahezu ausschließlich durch Einatntu'nfv Jeder Mensch verstreut nämlich selbst beim gewöhnlichen Sprechen einei: ganzen Nebel von feinsten Speichellröpfchen, die sich längere Zeit schwebend in der Luft halteir. Mit diesen Tröpfchen zusammen werden Bakterien aus dem Munde verstäubt. In höherem Maße ist die? natürlich beim Husten und Niesen der Fall. Unter den Mundbakterien, die von Kranken und Bazillenträgern verstaubt werden, befinden sich auch die Erreger der Grippe. Durch Einatmung werden diese Erreger aus Gesunde übertragen. Je dichter am Munde eines Sprechenden, desto zahlreicher sind auch die wie Geschosse berouSgeschleudetten Speichel« tröpfchen, die den Bakterien als Fahrzeuge diene»; dort ist also auch die Ansteckungsgefahr am größten. Hieraus ergeben sich folgende Ratschläge für Kranke und Gesunde: Beim Husten und Niesen halle dir ein Taschentuch vor den Mund. Beim Sprechen bleibe wenigstens einen halben Meter von deinem Gegenüber entfernt und dulde auch nicht, daß jemand beim Sprechen näher an dich heranrückt. In der Elektrischen oder ans der Plattform, im Tbeaier usw. unterhalte dich überhaupt nicht; lassen stch kurz« Besprechungen im engen Raum nicht vermeiden, dann sprich nicht' in deinen Nebenmann hinein, sondern an ihn vorbei' und wenn er sich beim Sprechen beharrlich dir zukehrt, dann wende das Gesicht ab. Wenn Ansammlungen vieler Personen polizeilich verboten find, dann liegen solche Maßnahmen im Rahmen des Gesagten. Besondere Gefahr entsteht, wenn viele Personen in demselben Räume lang« Zeit zusammen bleiben oder gar schlafen müssen, wie in Schulen oder Kci'einen. Beim Herrschen einer so weit oerbreiteten Krankheit, wie es zurzeit die Grippe ist, kann der Unterrickt in Schulklassen nur dann ausrecht erhalten werden, wenn e? möglich ist, die Schüler mindestens 1 Meter weit auseinander zu setzen. Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob in der Klasse viele Schüler wegen Krankheit fehlen, weil der Verdacht besteht. daß gerade unter den Kindern zahlreiche leichte Fälle von Erlran- kungen vorkommen. Dann muß damit gerechnet werden, daß unter den Kindern besonders viel Bazillenträger find, die die KrankhetlS- erreger verschleppen. Bei der großen Zahl der Erkrankten und bei dem in der weit- aus überwiegenden Mehrzahl der Fälle leichten Verlauf der Krank - heit ist es nicht möglich, alle Kranken ins Krankenhaus zu bringen. Deshalb ist zu beachten, daß Personen mit leichter Grippe fast in demselben Matze ansteckend stnd, wieder Schwerkranke mit Lungenentzündung. Da der Kranke mit Lungenentzündung aber häufiger hustet, auch die Teil- nähme seiner Angehörigen und Freunde eher herausiordert, sei ausdrücklich betont, daß in» Krankenzimmer nur gehört, wer mit der Pfleg« zu mn hat. Krankenbesuch« sind zn der- bieten. Dem Kranken selbst ist im Interesse'einer Heilung wie in dem seiner Umgebung das Sprechen zu verbieten. Wenn der Kraule zu schwach ist, um jedesmal beim Husten ein Taschentuch vor den Mund zu kalten, wird empfoblen, ihm in Mundhöhe quer über
das Bett ein Mundtuch zu spannen, an dem die Speicheltiöpfchen mit ihren Bakterien hängen bleiben und ankleben. Zum Schutze der Umgebung ist es unnötig, das Tuch etwa mit einer DeSinseklioiis- lösung zu tränken._ KiinftzuftänSs in Petersburg . Beunrnhigende Gerüchte über die Kunstzustände in Petersburg , die vielfach verbreitet waren, werden durch einen Petersburger Brief von Eduard Plietzsch an die Zeitschrift»Kunstchronik und Kunstmarkl" zerstreut. Danach gebe» selbst die eibiliertsten Gegner der Revolution zu, daß KerenSti, Lenin und Trotzkl für die Kunst- werke in Petersburg gesorgt haben. AuS der berühmten Eremitage ist nicht ein einziges Stück abhanden gekommen. Als man eine Beschießung Petersburg befürchtete, ivurden die Hauptwerke nach Moskau übergeführt, und weniger kostbare Stücke stehe» ver- packt in Petersburg . Die Eremitage soll übrigens demnächst wieder dem allgemeinen Besuche zugänglich gemacht werden. Die aroßen Privatsammlungen Slroganoff. Schuwaloff, Herzog von Oldenburg usw. wurden verstaatlicht. Privaihäuser, die wohl keine Galerie, aber werlvolle Bilder, Skulpturen und Kunstgewerbliches enthalten, wurden unberührt gelassen und als Museen eröffnet. Aetmlich Versuhr man mit den Zarenschlössern; Gatschina mit seinen vielen alten Gemälden wurde zu einem Museum gemacht. DaZ kilnsthistori'che Institut, das Graf Valentin Snboff in seinem PalaiS am Jl 'aakplatz unterhielt, wurde verstaatlicht. Der Aufbewahrungsort der berühmten Rembrandtbiider deS Fürsten Juliipoff ist gegenwärtig unbekannt. Für Kunstwerke werden derzeit in Petersburg übertriebene Preise gezahlt. Diese enormen Preise und daS Ausfuhrverbot verhindern eS, daß wichtige Kunstwerke in größeren Mengen nach dem Auslande kommen. Das Sladtbild Petersburgs hat keiyen nennenswerten Schaden erlitten. Die Fassade der deutschen Votschaf! von PcterS Behrens, deren Inneres am Anfang des Krieges demoliert wurde, ist unberührt. Nur die beiden Rosselenksr, die dem Gesamteindruck de? Gebäudes ohnedies nicht förderlich waren, sind herabgestürzt worden. Die Leistungen der jetzigen Regierung für das Stadtbild erstrecken sich vorläufig auf die Errichtung einiger Denkmäler für Revolutionshelden. Gemüse aus Roten Ssetsn. Diese? Gewächs, auch Note Nahne und Note Rübe genannt, wird im größten Teil Deutschlands meist nur in Form von Salat oder Kompot gegessen. In den östlichen preußischen Provinzen allerdings>it auch die»Rote Veeten-Supve' von jeher eingebürgert, in Ost- und Westpreußen und Posen ist sie geradezu eine Art National« gericht. Ganz besonders wohlschmeckend und nahrhaft aber ist Ge- müse von Roten Beeten. Der Krieg nötigt uns, unseren Organis- muS noch immer inehr auf pflanzliche Nahrung einzustellen, als es bereits geschehen ist. Aber die pflanzliche Er- »ährungSweiie verlangt auch viel Abwechselung. Jedes neue nabrbafte Gemüssgericht ist dazu willkommen. Hier das Rezept für Gemüse von Roten Beelen: Gewaschen, weich ge- kocht, abgeschält und fein geschnitten oder noch besser fein gehobelt werden sie mit wenig Wasser, das den Boden de« Kochgefäßcs etwa 3 Zentimeter bedeckt, zum Aufwallen gebracht. Dann verdickt man fle mit etwas vvrher angerührtem Mehl oder Kartoffelniehl. oder mit 2— S fein periebenen rohen Kartoffeln»nd schmeckt das Gericht süß-sauer ab. Ein Zusatz von Aepfeln und Verwendung von Nelken oder andern Gewürzen, und Zucker eihöht den Wohlgeschmack. So zubereitet geben die Roten Besten ein vortreffliches und mich jetzt unter Berücksichtigung des Mangels an Fett und Fleisch leicht berstellbares, nahrhaftes Gemüse, das sich als Haupt- mahlzeit eignet.- Die Ernte an Roten Rüben ist in diesem Jahre außerordentll reich ausgefallen. Während stischsr Rotkohl nur bis Weibnc.chi.ti zu haben ist, kann die Hausfrau mit frischen Roten Beeten den ganzen Winter hindurch und bis in das späte Frühjahr hinein Essen bereite»._ Notizen. — Musitckironik. Die Gesellschaft der Orgel- Musikfreunde veranstaltet am Freitag, Vl2 Uhr, in der Bing- akademie ihr 2. ordentliches Konzert: Erstaufführungen von Händel , Bach, Rheinberger und Fährmann. — Professor Nikolai— russischer Bürger. Der Professor der Biologie Georg Nikolaj, der infolg« seiner kriegS - seindlichen Haltung in Deutschland Verfolgungen ausgesetzt war und dann nach Dänemark flüchtete, ist aus seinen Wunsch in den Verband der Sowseirepublik ausgenommen worden.
Loöz.
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Das gelobte 5anS. Roman von W. St Reymout. X. „Zwei Tags sind wir nun schon hier, und ich kann es immer noch nicht glauben, daß wir wirklich in Lodz wohnen," sprach Anka von der Veranda aus. „Und doch, es ist wirklich Lodz !* erwiderte der alte Borowiecki, der auf seinem Rollstuhl im Garten unter der Veranda saß und, die Hand gegen die Sonnenstrahlen vorhaltend. nach allen Seiten sich umschaute, nach den roten Fabriks- mauern und den in dichten Reihen stehenden Schornsteinen. Auf den Gerüsten von Karls Fabrik, die sich am Ende des GartenS erhob, ließ er seinen Blick länger haften und seufzte leise. „Ja. es ist Lodz, * flüsterte Anka und ging in die Wohnung zu dem CbaoS der hastig ausgepackten Möbel. Eiiliae Arbeiter, mit Matthias an der Spitze, stellten sie auf. Sie half beim Elnordnen. machte selbst die Vorhänge ans. unterhielt sich manchmal lebhaft mit Matthias, meist aber setzte sie sich ans Fenster und ließ ihre traurigen Blicke durch die Wohnung irrem Mit einer so seltsamen Trauer erfüllte sie das fremde Haus, die Reihen der frisch renovierten Zimmer, die noch nach Farbe rochen, daß sie schnell auf die große Veranda flüchtete, die sich um das halbe Haus herumzog; beruhigen konnte sie sich aber nicht. Ihre Augen, die an die endlosen Ebenen der grünen Felder und die blauen Wälder in der Ferne gewöhnt waren, an die Wonne der riesigen, unbe- grenzten Himmelsfläche, stießen sich hier an den Häusern, den Fabriken, den in der Sonne glänzenden Dächern, an dieser Stadt, die sie wie mit einem steinernen Ring von allen Seiten erdrückte, an diesem Lodz , von dem sie geträumt hatte.' es würde ihr die Erfüllung aller ihrer Wünsche bringen, und das sie jetzt mit tiefer, unerklärlicher Trauer, mit bangen und dunklen Ahnungen durchdrang. Sie kehrte in die Wohnung zurück, als ob sie sich ihrer Schwäche schämte, und unterdrückte nur mit Mühe die seltsamen Tränen einer grenzenlosen Sehnsucht, die ihre Augen füllten. "„Vielleicht brauchst du etwa?, Vater?' fragte sie von Zeit zu Zeit, sich aus dem Fenster beugend.
»Nein, Anka, nichts, wir sind ja doch schon in Lodz , und in einer Stunde kommt Karl zum Mittagessen," erwiderte der alte Borowiecki laut, fast schreiend. Sie sollte nicht wissen, daß auch er wehmütig gestimmt war. Er versank in dem Anblick der schmutzigen Rauchschwaden, die aus der Müllerschen Fabrik aufstiegen. Die Luft war mit dem Geruch von gelöschtem Kalk und siedendem Asphalt durchsättigt, mit dem die Säle in Karls Fabrik gepflastert wurden. Ein Hustenanfall erschütterte ihn, er führte ein Taschentuch an den Mund und starrte auf den langen Steg, der durch den kleinen Garten zur Fabrik führte und von wunderbaren Zentifolien umrahmt und mit roten und Weißen Rosenblüten überschüttet war. „Kommt Karl noch nicht?* fragte Anka ans der Wohnung. „Nein, erst in einer halben Stunde werden die Pfeifen zu Mittag rufen. Anka l Komm mal her, Mädel!' Sie kam zu ihm und setzte sich auf die Lehne seines Rollstuhls. „WaS hast du, Anka? Was ist dir? Mut. Mädel, nur nicht sich gehen lassen. Da, schau her, das will ein tapferes Mädel sein I... Ho. ho I Du wirst es noch vergessen, daß irgendwo in der Welt ein Kurowo existiert. Sorge dich nicht, Kopf hoch, marsch I' Er sprach hastig, küßte sie. streichelte ihr den Kopf und begann rasend zu pfeifen und mit dem Fuß den Takt zu schlagen. Dann ließ er sich von Matthias in die Wohnung fahren, wies die Arbeiter an. schrie und summte laut vor sich hin und gab sich alle Mühe, daß Anka es hörte. Später neckte er Kama, die mit Frau Wysoeka zu Besuch gekommen war und bei der Einrichtung der Wohnung behilf- lich sein wollte, indessen aber nur Verwirrung stiftete. Sie koppelte nämlich die alten Hof- und Jagdhunde aus Kurowo, die in der Wohnung und im Garten mit herabhängenden Köpfen herumschlichen, zusammen und tummelte sich mit ihnen aus der Veranda. „Ein tapferes Mädel, diese Kama. Komm mal her. Schlingel, zu mir, laß dich umarmen," rief der alte Borowiecki, freudig lachend, küßte sie auf die Stirn und schob ihr das flatternde, feuchte Haar aus dem Gesicht. „Oho!" Herr Karl kommt Moritz," rief sie lustig.„Fräu- lein Anka I Herr Karl kommt mit dem schwarzen Moritz zum Essen." Sie lief ihnen entgegen, die Hunde folgten ihr und bellten nach alter Gewohnheit die Gäste an. Das Mittagessen wurde aus der Veranda gereicht.
Moritz war heute sehr blaß, sonderbar nervös und sonderbar unruhig. Er gab sich alle Mühe, gesprächig und unter- haltend zu sein, neckte Kama, die sich schließlich nicht be- herrschen konnte und ihm mit gewohntem Ungestüm ein Glas Wasser ins Gesicht schüttete, wofür sie von Frau Wy- socka so auSgescholten wurde, daß sie unter Tränen um Ver- zeihung bat, heftig errötete, den Hunden pfiff und w den Garten lief. „Ein Prachtmadel! Schade, baß sie hier in Lodz so verkommen muß", bemerkte der alte Borowiecki. Die Mahlzeit wurde rasch beendet; auch den Kaffee tranken sie rasch aus und kehrten in die Fabrik zurück, weil die Kehlen der Pfeifen von allen Seiten ihren gewohnten Nachmittagsruf anstimmten. Als sie fort waren �und der alte Borowiecki sich zum Nachmittagsschlaf in den Schatten fahren ließ, setzte sich Frau Wysocka zu Anka und begann freudig erregt zu erzählen: „Ich muß dir sagen, daß ich mich wegen Mietschek schon ganz beruhigt habe. Zwei Tag? war er nicht zu Haus, er war in Warschau , gestern abend kam er zurück und sagte mir beim Mittagessen, ich könnte ruhig sein, er werde diese... Grünspan nicht heiraten, sie hätte ihn nicht haben wollen... Hörst du, Anka! Eine Grünspan will einen Wysocki nicht heiraten, meinen Sohn l Diese jüdische Unverschämtheit über- steigt alle Begriffe I So eine Krämerstochter... Meinen Sohn wollte sie nicht heiraten... Es ist ja gut so, eine Messe Hab' ich aus lauter Freude lesen lassen, aber dennoch kann ich ihr das nicht verzeihen... Wie hat sie es wagen können, den Antrag meines Sohnes abzulehnen... Eine einfache Jüdin!... Er hat mir ihren Brief gezeigt, in dem sie in der unverschämtesten Weise sagt, daß sie ihn liebt, ihn aber nicht heiraten kann, weil ihre Famifle den Uebertritt zum Katholizismus nie zulassen würde. Sie verabschiedet sich von ihm so zärtlich, daß ich herzlich geweint hätte, hätte ich nicht gewußt, daß eine Jüdin den Brief schrieb, und daß es sich um meinen Sohn handelt. Lies mal den Brief, Anka, erzähl' aber niemandem davon." Anka las lange. Der mit kleiner Handschrift geschriebene, vier Seiten lange Brief war so von Tränen erfüllt, von Liebe, Leid und Aufopserung, daß sie ihn nicht zu Ende lesen konnte und über Melas Schmerz zu weinen begann. Sie stirbt ja vor Schmerz... Herr Mietschek sollte auf nichts achten, wenn er sie wirklich liebt.. (Forts, folgt.)