ttt.l> ZS. Jahrgang
2. Seilage öes Vorwärts
Mittwoch, 1. Januar 1919
fibschieö von 1918. O Zahr, an deiner Wiege weinken tausend ZNütter, und über Leichen ging dein erster Schiritt. Du brachtest Hmtger, Not und Tod als erste Gaben mit, wahnsinnigen Krieges gräfliches Gewitter. Du hattest Augen, ganz vom Elend blinde, und keine.?reudc hat dein junges Herz gespürt. Du hattest nichts von einem lebensfrohen Kinde. Der Krieg hat dich geborn, das Grauen dich geführt. Wir lebten in dir schwach und arm, dem Hunger und dem Leid verfallen, der Wahnsinn triumphierte. Vlut floh wie ein Meer. Verzweiflung grinste, Seuchen rasten, eines bösen Todes Krallen schlugen sich furchtbar in die Menschen, überall vom Elend ausgehöhlt und leer. Kaum gab es Särge, um die Toten all zu fassen. Die Erde ward ein einziges Massengrab. Die Liebe starb. Versöhnung siechte. Herr war nur das Haffen, Den Schauer-Totentanz lenkt irr ein Herrscherstab.~ Da plötzlich, Jahr(wir glaubten schon, du seist ein todes- matter Mann), wardst du ein Jüngling, stark und wunderbar. And riefst dein jubelndes: Die neue Zeit bricht anM Die dich beherrschten, horchten zitternd aus. vor Schrecken starr. Die Throne stürzten. And das Volk, befreit und ohne Ketten. hob rasch die Liebe und den Frieden auf den Thron. lleber den hungerböhlen. Elend-Snechtschaftsstätten jubelte hoch ein Heller Ruf: Revolution!! 0 Dank dir. Zahr. für diese köstNche, ersehnte Gabe! Frei schufst du Menschen einer neuen Zeit! Du trugst, selbst schon am Ende, langer Jahre Graun zu Grabe: Du endetest die Schlacht, die Not. die Knechtschaft und das Leid. Nun geht der Glanz von deinen Freiheitstagen vor unsrer arbeitsreichen Zukunft her. wir werden stets von dir als von dem Jahr der Freiheit sagen. Von deinen Schrecken sprechen wir nicht mehr... _ HanS Vathmav«.
Deutschtum. Von M. Zlndersen-Nexö. Der Verfasser des großen proletarischen Romans! .Pelle der Eroberer" hat während deS Krieges Deutschland wiederholt besucht und in einem seiner im Kopenhagener ..Socialdcmokrat" veröffentlichten„ De n t schlandb ri e fe" auch diese Frage behandelt. Der Brief erschien bereits vor der System änderung in Deutschland . So willkürlich und umstritten die meisten LanideSgrenzon sind. und so leicht namentlich unsere Zeit mit ihnen umspringt, so wird � doch die buntscheckige Menschenmass«, die oft ohne gemeinsame; Sprache von den Grenzen zusammengehalten wird, feierlich als Ein- heit angesprochen. Die Nationen, dieser mehr oder weniger zufällige Ausschnitt aus der großen Menschheit, und oft aus allen möglichen Rassen« und Kulturelementen zusammengesetzt— sind oft am wenig- stcn das, was übrigen» agch am schwersten zu erwerben ist: eine organische Einheit. Sie sind schlechthin Organismen, so buntscheckig und willkürlich sie bei näherem Zusehen auch zusammengesetzt sind, höhere Organismen, ja. recht besehen, vielleicht die höchsten oben- drein denkbaren.
Wieviel des nationalen Kultus, den man in unserer für die Nationen so schicksalsschwangeren Zeit betreibt, ist Schwindel? Das ist nicht leicht zu bestimmen. Die Menschen haben eine erstaunliche Fähigkeit, immer in gutem Glauben zu leben. Die Zahl der Men- schen, die nicht einzusehen vermögen, daß es heiligste Pflicht der Nation ist, andere Nationen zu vernichten, ist sicherlich sehr klein. Als Beförderer der menschlichen Entwicklung ist das National- gefühl von zweifelhaftem Wert; hingegen ist es sin» der stärksten UnifornnerungSmittel. Oft benutzt es auch da§ religiöse Gefühl mit, um mit den Menschen Massen zu operieren; mit dessen Hilfe zwingen die tyrannisierenden Kräfte die Menschheit unter das Foch. Das ist wohl seine größte Bedeutung. Die Menschen werden nicht frei, solange ihnen daS nicht klar ist; bevor sie nicht jede erdenkliche Form der Unterdrückung kennen lernen. Die kirchliche Abvichrung wirkt mit sehr einfachen Mitteln, die nationale ist ebenso einfach. Die eigene Nationalität steht in GotteS besonderer Obhut, sie ist einfach vom Himmel hernieder gefallen; die anderen Nationen sind irdischeren Ursprungs— wenn sie nicht vom Teufel stammen. Die Methode ist in allen Ländern die gleiche, wirkt aber mit verschiedenem Erfolg— alles nach dem Stand des Schul- Unterrichts. Deutschland hat ein wohlgeordnetes Schulwesen, vielleicht da» bestorgamsierte der Welt. Vieles erklärt sich aus dieser Tatsache. Die Aufgabe der Schule ist in allen Ländern die gleiche: nicht 'die Entwicklung der Jugend zum Menschen und Weltbürger, sondern die Wrichtung zum Staatsbürger. In den meisten Ländern voll- zieht sich diese Abrichtung maskiert. In Deutschland ist daS Volk indessen vertraut damit und will es nicht ander?.(? Die Red.) In Deuischland ist es den Eltern verboten, selbst ihr« Kinder zu unter- richten, wenn sie nicht die staatlich kontrollierte Lehrerausbildung aufzuweisen haben. Das ist die konsequente Auffassung, die in allen Ländern herrschend ist: daß die Schule nicht in erster Reihe eine Anstalt zur Erziehung zum Menschen, sondern eine Abrichtungsmaschine ist, ein Apparat, der alles Lebende, wie es heranwächst, einschluckt und dann wieder wie ein Automat ausspuckt. Ist das spezifisch deutsch ? War das immer so und wird es so bleiben? Nicht gerade das Uniformierte ist es, das am stärksten auf- fällt im Goethe- und Schiller-Deuffchland. Haben die verschiedenen Begriffsbestimmungen— des Fran zosen , Deutschen oder Engländer»—, die uns auf der Schulbank mit großer Wichtigkeit eingepaukt werden, überhaupt so großen Wert? Wenn man zum erstenmal die LandeSgrenze überschreitet, vollge- pfropft mit Kenntnissen über die Eigenschaften der verschiedenen Nationen, so wundert man sich zunächst am meisten, daß die Welt im anderen Land ebenso ist, wie im eigenen.?lber bald entdeckt man, daß es nicht die LandeSgrenze ist, die die einschneidenden Un- terschiode hervorruft.. Klima, Bodenbeschaffcnheit und Erwerbs- arbeit geben in der Regel dem Menschen mehr daS Gepräge, als der Umstand, demselben Staatenbereich anzugehören und ungefähr dieselbe Sprache zu sprechen. Die Bauern in Schottland , Spanien , Deutschland und Dänemark haben nach meinen Erfahrungen mehr Gemeinsames in Wesen und Denkungsart als es beispielsweise der Bauer und Kaufmann desselben Landes hat. Bergbewohner und Ebene-Bewohner sind ganz verschieden geartet und können sich gegen- seitig schwer in ihre DenkungSarten versetzen; die Fischer der Bre- tagne und an der Westküste JütlandS gleichen sich dagegen wie zwei Wassertropfen. Auch sozial schichten sich die Menschen mit einer gswissen Gleich- artigkeit. Nicht nur die Grenzen sind e», die sich in der Welt als Brüder fühlen, von den Reichen gilt dies in viel höherem Grade. Die Oberklasse war immer international. All diese Teilungslinien gehen über die Landesgrenze hinweg und verwischen sie unter normalen tagtäglichen Verhältnissen, zum Glück für die Entwicklung. Das Beste, was von einer Nation gesagt werden kann, ist, daß sie ein getreues Wbild der Menschheit sei; der nationale Zusammenhalt wirkt stets abstumpfend, wofür Finnland heute als blutiges Beispiel angeführt werden kann. In Deutschland war das Nationalgefühl stctS sehr rege und griff vielfach bestimmend in den natürlichen Laus der Dinge ein— zum Schaden des einen oder anderen. Das Menschliche unterstand dem Nationalen. Das Unpersönliche, Uniformierte tritt stark her-
vor, überall stößt man darauf. Spezifisch deutsch ist ti aber durchaus nicht, wie die Geschichte lehrt; ein näheres Kennenlernen deZ deutschen Wesens zeigt einen Reichtum anderer, direkt entgegen- � stehender Eigenschaften, die im Augenblick nicht zur Betätigung kommen. Das ist eine Zeiterscheinung, Bogleiterscheinungspbänomen einer Entwicklungsphase, die nach dem Kriege vielleicht verschwinden wird. � Das Deutschland von heute ist eine Reaktion— auf allzu menschheitliche Zustände. Aus ein« lange kosmopolitische Periode, in der das deutsche Volk in geistiger und politischer Freiheit seiner Zeit lang voraus war, folgt der nattonale Zusammenschluß mit der Stärke des Gegensatzes, spät, mit einer zn lange zurückgehaltenen Kraft. DaS Voll muß seine Geistesfreiheit ausgeben und wird zum Patriotismus abgestumpft. Das übrige Europa prügelte e» dazu. Es mußte das National-Deutsche stark betonen, um das Rpich fest und schnell zusammen zu schweißen. Nun gilt es, die Folgen dieser teilweise aufgezwungenen lieber- treibung zu tragen. Viele wertvolle Eigenschaften werden auf dem Altar der ReichSeinheit geopfert. In gewisser Hinsicht bsdeutet das letzte halbe Jahrhundert sicherlich eine Abstumpfung für den deut- schen Geist. Nicht die für ein« ftiedliche und frsigsistige Weltentwicklung geeignetsten Kräfte waren es, die unter der neuen Ae-ra in Deutsch - land führend wurden. Zutrauen und Sicherheit haben sie nicht hervorgerufen. Die Abneigung, die die Deutschen von der ganzen Welt erfahren, kann nicht erklärt werden mit Neid und dem Gefühl der Unterlegenheit. Die Entwicklung zeigt bisweilen Rückschläge, eS ist eine gewisse Nemesis, daß das Voll, das einmal geistig an der Spitz« stand und dafür bestrast wurde, nun schwer auf'dem Fort- ! schritt lastet. i Des deutschen Volkes Glück ist es, daß es so wenig wie irgend ! ein anderes Voll zu der herrschenden Definition paßt, sonst be- deutet« es seinen Untergang. Die Kräfte, die heute in voller Tätig- keit sind, werden zurücktreten und ruhen und als Ansporn wirken i und arideren, entgegengesetzten, Platz machen, wcrni sie ausgewirkt ' haben.— Wie sie selbst daS Widerspiel von Kräften sind,'die einst wirkten und nun ruhen. Der Widerstreit kommt damit nicht zum | Stillstand. Solcher Widerstreit wandert wie ein Wanderpokal von ! Hand zu Hand, von eines Volkes Hand zur anderen. So stark in Deutschland die Konzentration in bestimmten Auf- gaben heute auch sich auswirkt, einheitlich ist Deutschland nicht. Vielleicht noch weniger während des Krieges, als in den letzten Jahren zuvor. Man erkennt hier und da einen neuen Zug, der nicht zur gegenwärtigen Physiognomie paßt. Das Individuum regt sich unter der Uniform; während die Uniform in einigen ande- , ren Ländern die Individuen zu vc-rschlingen droht. Es geschehen in Deutschland Dinge, die daraus deuten, daß die i Nation sich im Deutschtum gründlich satt gegessen hat und seine Nah- rung mehr im allgemein Menschlichen sucht.
Der sozialistische Zilm. Unsere Anregung zur Aussprache über den Agita» tionSfilm hat uns eine Fülle von Zuschriften eingetragen, Einige der wichtigsten veröffentlichen wir hier. Die Filmfrage ist leine ausschließlich künstlerische; längst ist anerkannt, daß der Film ein Instrument der öffent- lichen Meinung wie die Presse ist. Seine Verwendung im Dienst der Kriegspsychose, zur Völkerverhetzung ist in seiner tief wirtsamen Anlvendung in allen Ländern bekannt, cS wäre angesichts der Notwendigkeit sozialistischer Aufklärung eine Unter- lassungSsünde gröbster Art, würde ein« Propaganda größten Stils nicht unverzüglich eröffnet. Die günstigsten Vorbedingungen sind gegeben: Millionen füllen wöchentlich die Theater, der Filmschrift. steiler aber steht vor einer Fundgrube ungehobener Ideen und Dar« stellungsmöglichkeiten, er kann aus dem Vollen schöpfen. Unge- hemmt von der Zensur, unbeengt von der traditionellen Vorstel- lungswelt, innerhalb deren sich bisher feine Phantasie bewegen durfte, kann er Ausblicke in ein Neuland eröffnen, das an dra- matischer Bewegtheit wie an Jdeenfüll« wirklich nicht arm ist.
„prisonnier libre". Von I. Dltmeier. Allerlei Gerücht« und Lateinenbefehle bohren sich durch die dicke Luff von Mainz nach Frankfurt und sicherlich auch zurück. ES klagt von Jnternierungcn und Verhaftungen, von französischer Härte und Höflichleit; cS klingt vom Uobcrfluh und vom Fett, in dem die Bewohner des besetzten Gebietes schwimmen; es riecht nach Schokolade und echten Zigaretten. Kein Wunder, wenn wir neugierig und gespannt sind, wie Schuljungen, die einen neuen Ausflug machen, als wir ums anschicken, im zwei Autos im die Höhle des Löwen zu fahren. Wenn man jahrelang an der Front gewesen ist, jahrelang vor den feindlichen Stacheldrähten gelegen, stets die Lazaretthunde von drüben bellen und allabendlich die aus- ziehenden Posten schimpfen gehört hat— immer mit dem Wunsche, nur einmal ins gegnerische Lager sehen zu können—, dann dünkt einem eine Fahrt nach Mainz wie eine Reis« nach dem Mond. Unser Fahrer kurbelt an, die am Motor befestigte weiß« Flagge beginnt zu flattern, die Türen werden zugeschlagen, ein Hebel- druck, vorwärts! Hinterher folgt der zweite Wagen. Die Mit- fahrenden führen allerhand wohlachtbar« Titel— Assessor ist der geringste—; der eigentümliche Reiz aber, der uns einhüllt, bedeckt aste Formalitäten, so daß ich mich ohne Scheu aus die schwarz« gelackte Zylinder schachtel setze, die den Galahelm deS Herrn von Gr. birgt, an dem in Mainz der Herr General Mangin und sein Stab ihre Freude, vielleicht auch ihren Aerger haben sollen. Nied rückt näher! Die Grenze kommt! Auf der Nidda - brücke sehen wir die ersten Posten. Die Fahrer bremsen, stopp! Sprechende Hände an ausgestreckten Armen bewegen sich gegen un». Einer hält dem Postenfühver einen Ausweis vor; drei, vier Arme winken:.Weiterfahren!" Die Maschinen ziehen an, man wird zurückgeworfen, und voran geht's, nach Höchst . ES bietet das Bild einer besetzten Stadt. Fremde Uniformen, französische Last- wagen, die mtt Gummi bereift sind; Maueranschläge, an denen die Besatzungstruppen mit abgewandten Köpfen vorbeigehen. Die Einwohner drängen sich jedoch vor den Bekanntmachungen und lesen sie wohl schon zum mertenmal an der vierten Plakattafel. Ueber den Häusern, den Menschen, den Straßen liegt ein dumpfer Druck, als säße jemand der Stadt im Genick. Dorf folgt auf Dorf. U eberoll das gleiche Bild. Än den Straßenseiten lange Ketten von schweren Geschützen, die aus Kraft- wagen geschraubt sind. Es riecht nach reinem Benzin. Tie Be- wohner sehen uns neugierig und erstaunt auftauchen und der- schwinden. Mau kiest hundert Fragen in ihren Augen, denn sie sind abgejchmtten von Deutschland . Keine Post, kein Telephon,
kein Bahn verkehr , keine Zeitung! Da ist Flörsheim , jetzt Hoch- heim, vor uns liegt Mainz . Rhein und Main glänzen im Sonnen schein. Links uiid rechts leuchten die Rebenhügel in den Herbst- färben. Ganz hinten sieht man die Berge und Brücken, die in be- ! schwingten Bogen über den Strom ziehen. Hundertmal und mehr haben wir dieses Bild von der Mainspitze mit dem im blauen Dunst austauchenden goldenen Mainz und seiner Türme gesehen, an das sich das Rheintal anschließt. Wie oft sind wir als Jungen mit dem Zug um die Wette aus dem Zweirad die Landstraße hinunter- gosaust bis Kastell Niemals jedoch hat dies Stück Heimat so zn uns gesprochen als heute, da gezwungene Ruhe über den Flüssen, den Tälern und Höhen liegt, da kein Schiff und koin Nachen die Wasser durchfurchen, kein Zug über die Brücken rattert und keine Siauchfahne aus einem Lokomotivenschornstein lange schwarze Bän- der an den Himmel zeichnet. Bahnhof Kastel . Wir müssen unsere Uhren«ine Stunde zu- rückstellen, französische Zeit. Mainzer Straßenbrücke. Mr warten auf das„Halt!" der Posten. Nichts! Seit Nied sind wir ungehin- dert durchgefahren. Dort ist das Schloß, und über ihm leuchtet in ihren herrlichen Farben die Trikolore. Unaufhörkich begegnen uns die kleinen flinken französischen Limousinen. Wir fragen nach dem Justizpalast, der uns in Frankfurt als der Sitz des Haupt- quartters bezeichnet worden ist. An einer Straßeneck« der Großen Bleiche steht ein Schild, da» die Buchstaben„A. G. " trägt; wir biegen rechts ein— richtig, da ist es. Automobile tummeln sich vor dem hohen Gericht Sgebändc, Doppelposten stehen an den beiden Treppenausgängen, Offiziere und Soldaten kommen ,und gehen. Die Haltung der gwt genährten und trefflich bekleideten Truppen macht den besten Gindruck. Ein siegreiches Heer, das innerlich überzeugte Achtung und Vertrauen zu den Führern hat; Disziplin, aber keinen Kadavergehorsam. Während sich meine Reisegefährten zum Generalswb begeben, um dort über die Lebensmittelversorgung Frankfurts zu verhau- dein, tue ich mich in der Stadt GutenbergS um. Im„Altmüuster- hof" gibt's für viel Geld und gute Worte immer noch ein gutes Frühstück Die„Meenzer", die das Leben nie nach der ernsten Seite genommen haben, scheinen sich nach ihrem Wahlspruch: „Weck, Witz, Worscht un Wei" sehr leicht mit der Besetzung ab- zu finden. Die Stadt leidet keinen Mangel, da sie ein reiches' Hinterland hat; vom französischen lleberfluß ist jedoch nichts zu spüren. Die Preise sind gernrn so hoch wie früher, und die Ziga- rette, die 3 Pfennig kosten soll, gab es einmal im Jahre 1814. So angenehm das äußere Bild der Stadt ist, so besorgnis- erregend, wenn nicht erschreckend, ist ein Blick in den inneren Organismus. Mainz gleicht einem kraftstrotzenden Mann, der nierenkrank ist. Handel und Verkehr ruhen. Die Fabvtten stehen
1 still. Die Stadl muß täglich Taufende von Arbeftslofen unter- l stützen, so daß, wie mir der Beigeordnete von Mainz sagt: die [ Stadt und die Jndustviewerke ihrem Konkurs entgegensehen. Auf ! der Redaktion unseres PartsiblaiteS ist man ratlos. Kein« Zeitung darf aus Deutschland in daS besetzte Gebiet, keine Telegramme und keine Nachrichten. Die mtt großer Verspätung eintreffenden Kölner Zeitungen sind die einzigen Informationsquellen. Di« Papierzufuhr stockt. Ein großes bürgerliches Blatt nimmt bereits keine Annoncen mehr auf und erscheint nur noch zweiseitig. Schlim- mor steht es mit den kleinen Lokalblättchen der Umgegend. Di« z. B, SamStags erscheinenden Ausgaben müssen FrvitagS früh in Wiesbaden oder Mainz auf der Zensur sein. Danach läßt sich der TageSwert jener Blätter erkennen, die Abonnenten fallen einer nach dem anderen ab und der Berussstand der kleinen Zeitungs- Verleger liegt im Sterben. Ein Beispiel von vielen!-* Gegen Mittag schlendrc ich zum Justizpalost zurück. Eben als ich hinaufgehen will, kommt ein Offizier auf mich zu, fragt nach meinem Namen und bittet mich, unsere beiden Wagen in die ' offene Garage des Rondells zu stellen, das sich vor dem Gebäude , befindet. Die Herren würden vorläufig nicht weiterfahren, son» � dein zu Fuß zum„Holländischen Hof' gehen und ich solle mich so- fort anschließen. Ein gutes Zeichen, denke ich! Kaum sind unsere Autos neben die französischen eingereiht, als meine Reifegefährten, mit bedrückter Miene, die Treppe herunterkommen.„Wir sind der- haftet!" ruft mir der Polizeipräsident zu und ein anderes Kom- misfionSmitglied ergänzt:„prisonniere libre,"(fteie Gefangene), wie sich der französische Oberst fachgemäß ausgedrückt hat. Von einer Verhandlung konnte keine Rede sein. Im Gegenteil! Die Franzose» hatten«S sehr übel genommen, daß wir ohne vorherige Nachricht und ohne vichtigen Ausweis nach Mainz gekommen waren. Wir hatten strengen Befehl, uns ohne Aufenthalt zum „Holländischen Hof" zu begeben, weder mit einer Zivilperson zu sprechen, noch auf andere Art mit der Außenivelt in Verbindung zu tveten. Um 4 Uhr nachmittags sollten wir wieder im Justiz- Palast sein. Der Speisesaal des altbekannten Gasthofes am Rheni war ein recht fideles Gefängnis. Unser Professor erinnerte sich an vergangene Fastnachstage, zwei Doktoren suchten den„pnoonoier lidre" wissenschaftlich zu ergründen. Mein Nachbar zur Linken und der zur Rechten taten gleiches mit einer Flasche Rotwein. ES war uns dennoch nicht ganz wohl. Gesangen zu sein ist ein un- heimliches Gefühl und man glaubt beständig, es würde einem im nächsten Augenblick die Luft abgestellt. Kommt noch hinzu, daß uns an zwei'Nebentischen je ein Spitzel beobachtete, zwei wemz vertrauenerweckende Individuen, wie man sie in Fehnpfennighefts» abgebildet steht, mit kahler Glatze und schwammige» Fingern;