Kr. 30$ ♦ 3b. Jahrgang
2. Beilage öes Vorwärts
Groß-Sertias �rbeiterräte zum öetriebsräte-Entwurf.
Büchel fS. P. D.) führte auS, daß der Rätegedanke, der feit dem 9. November die Arbeiter unausgeseht beschäftige, jetzt fest Form erhalten solle.(Lachen der Unabh.) Auch die U. S. P. habe sich erst langsam zum Räteshstem durchgemausert.(Wider- spruch.) Der Gesetzentwurf über die Betriebsräte solle nur die Grundlage zu Besprechungen zwischen den in Betracht kommenden Gruppen sein. Die„Reichsüberstunde" sei durch Dernburg vor aller Welt blamiert. Die sozialdemokratische Fraktion sei mit den Bestimmungen des vorliegenden Gesetzentwurfes nicht einverstan- den. Zu der Bestimmung, die sich gegen einen Ausschluß von „Noskegardisten" und Gelben richtet, sagte Büchel: Ich kann mir wohl denken, daß diese Bestimmung über die Freiwilligen bei den Unabhängigen einen bösen Stachel hinterläßt. Ich wende mich da- gegen, daß in Fragen, welche die Arbeitsregelung betreffen, Unternehmerverbände als solche zugelassen werden. Aber, um alle Forderungen der Arbeiter durchzusetzen, ist, wie Wissell sehr richtig sagt, eine rein sozialistische Regierung nötig, die nicht durch Kompromitzrücksichten gehindert wird.(Zuruf: Das hättet Ihr im Januar sagen müssen!) Das Koalitionskabinett wäre nicht entstanden, wenn die Unabhängigen in der Regierung geblieben wären. Somit tragen die Unabhängigen die Schuld an einer nicht sozia- listischen Regierung.(Lärmender Widerspruch.) Um diese Tat- fache kommen Sie nie herum.(Verlegenes Lachen.) Somit ist auch die U. S. P. an diesem Gesetzentwurf mit Schuld.(Unruhe.) Der Frieden wird und muß die Einigung des Proletariats brin- gen, wenn die Unabhängigen nicht wieder in die dargestreckte Freundeshand spucken.(Lachen und Widerspruch.— Lieblingsausspruch Adolf Hoffmanns im Dreiklassenhaus: Am vielen Lachen erkennt man den Narren! Red.) Büchel verlas dann folgende Erklärung der S. P. D.: Die S. P. D.-Fraktion kann sich mit dem veröffentlichten Ge- sctzentwurf über die Betriebsräte unter keinen Umständen ein- verstanden erklären. Dieser Entwurf enthält Bestimmungen, die ans keinen Fall die Zustimmung der Arbeiter finden können und der neuen Zeit nicht angepaßt sind. Unter allen Umständen ver- langt die Versammlung, daß in dieser Gesetzesvorlage nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Angestellten und Beamten, gleich- viel in welcher Stellung sie sich befinden, mit einbegriffen werden. Die Fraktion setzt in die Mitglieder des Zentralrates und die Ge- Werkschaftsvertreter das Vertrauen, auf jeden Fall bei ihren Ar- beiten in der Kommission dahin zu wirken, daß den Forderungen der Arbeiter, Angestellten und Beamten voll Rechnung getragen wird.
Als nächster Redner erklärte der Kommunist Rasch, daß der Gesetzentwurf eine Verhöhnung der Arbeiterschaft sei und die Arbeiterräte absägen wolle. Die Regierung stehe am Ende ihres Lateins. Dr. Kaplan(Dem.): Unsere Fraktion stimmt gegen diesen Gesetzentwurf. Es ist unverkennbar, daß man seit dem 9. No- vember einen rückwärtigen Kurs steuert. Schon der Entwurf der Regierung über Mitbestimmungsrecht der Arbeiter vom 23. De- zember, der noch die Unterschrift Haasts trug, war nichts Halbes und nichts Ganzes. Aber damals bemühte sich die Regierung, doch wenigstens noch etwas zu geben. Heute allerdings nimmt man mit der linken Hand das wieder, was man eben mit der rechten geben will. In diesem Gesetzentwurf ist auch nicht eine Spur von demokratischen Prinzipien mehr zu finden. Wir Ver- treter der Angestellten betrachten den Entwurf als eine Heraus- fordcruug.(Beifall auf allen Seiten.) Die Regierung wird es noch erreichen, daß die Angestellten und die Arbeiter sich auf einer proletarischen Einheitsfront zusammcnsinden, um ihr Recht zu er- kämpfen.(Stürmischer Beifall.) Und sie wird es erreichen, daß man den Herren in den Ministerien einmal unzweideutig erklärt, daß das Mittelalter mit dem 9. November ein Ende hat.(Stür- Mischer, langanhaltender Beifall auf allen Seiten.) In der folgenden Diskussion bezeichnete Marx den Entwurf als einen Skandal. Die Geheimräte im Reichswirtschaftsmin:- sterilem schienen zu glauben, die arbeitenden Klassen mit ihren Taschenspielerkunststückchen über den Ernst der Stunde hinweg- täuschen zu können. Koch(U. S. P.) beantragt die Diskussion zu schließen und den Gesetzentwurf abzulehnen. Der Antrag wird gegen wenige Stimmen angenommen. Der Vorsitzende B r o l a t verlas ein Schreiben des Reichs- arbeitsministeriums, das die Arbeiterräte um Entsendung von Vertretern der drei sozialistischen Richtungen zu Besprechungen über den Referentenentwurf ersucht. Fischer(Dem.) stellt fest, daß also demokratische Ver- treter nicht hinzugezogen werden sollen.— lieber die Entsendung der drei Vertreter zu der Konferenz im Reichsarbeitsministerium entspann sich noch eine Debatte, doch wurde infolge Versehens eine Abstimmung darüber nicht vorge- nommen. » Zu unserem Abendblattbericht tragen wir nach, daß die von der Vollversammlung angenommene Entschließung der Zivil- musiker die Arbeiterschaft zum Boykott der Milftärmusiklokast auf- fordert.
GroßSerlin Die Verwertung von Heeresgut. Während die gesamte Bevölkerung an Kleidungsstücken und Schuhzeug Not leidet, sind immer noch große Läger von HeereSgut vorhanden. So wird uns beispielsweise mitge- teilt, daß im Eispalast zu Berlin für etwa 35 Millionen Mark Textilien, wie Garne, Kattune, usw. lagern. Bezeichnend für die außerordentlich langsame Geschäftsführung und für die manchmal recht eigenartigen Praktiken, deren sich das Reichsverwertungsamt bedient, ist folgender Fall aus dem Ledergewerbe. Hier war ein großer Posten Pclotten(Lederbestandteile der Bruchbänder) ins- gesamt 488 000 Stück an eine Privatfirma abgegeben worden, deren Firmeninhaber den gleichen Namen trägt, wie der frühere Gruvpenführer, Abteilung.Leder, im ReichsverwertungSamt. Später stellte sich heraus, daß solche Pelotten 1,10 M. für das Stück angeboten wurden, während sie kurz vorher nur 0,35 M. gekostet hatten. Sie scheinen also dem Zwischenhandel zugute ge» kommen und von ihm verteuert worden zu sein, anstatt nach den Richtlinien des Reichsverwertungsamtes direkt an die Verbraucher verleilt zu werden. Aehnliche Fälle sind ja auch in anderen Res- sorts zu verzeichnen. Merkwürdig ist nur das eine, daß nämlich eine Verbraucherfirma sich um die Pelotten bemüht hatte, aber erst nach zwei Monaten einer ablehnenden Antwort gewürdigt wurde. Diese langsame Geschäftsführung leistet natür- lici dem Zwisckenhandel und der Preissteigerung Vorschub, wäh-
rend andererseits Langfinger und gewiegte Schieber Gelegenheit bekommen, sich an den noch lagernden Beständen zu bereichern. Damit ist jedenfalls weder der Arbeiterschaft noch der Regierung gedient. Streik der Tempelhofer Schlächtermeister. Die Tempelhofer Schlächtermeister haben sämtlich ihre Läden geschlossen und durch Anschlag mitgeteilt, daß sie dazu gezwungen worden seien, nachdem das wiederholte Verlangen der Schlächter- meister auf bessere und gerechtere Verteilung des Fleisches nicht erfüllt worden sei. Insbesondere wenden sie sich gegen zwei Mit- glieder des FleischverteilungSauSschusses, von denen der eine selbst Schlächtermeister ist, und vor allem dagegen, daß diese beiden Mitglieder sich„nicht gescheut haben, deutsches gestempeltes Fleisch als Auslandsware zum Hollandpreis" abzugeben. Die Schlächtermeister verlangen die Entfernung dieser beiden Mitglie- der der Kommission. Vom Gemeindevorstand wird mitgeteilt, daß die Gemeinde bei der Verteilung von Auslandsfleisch sich in einer Notlage befunden und zur Ergänzung der unzureichenden Belieferung einen Posten Jnlandfleisch hinzunehmen mußte. Hierdurch seien weder die Schlächtermeister noch die Bevölkerung benachteiligt worden, da diese ja den Auslandspreis im Falle ausreichender Belieferung unter allen Umständen hätten zahlen müssen. Ein Teil des Flei- sches aber zu niedrigerem Preise zu verkaufen, sei aus praktischen Gründen nicht möglich gewesen. Vom Lebensmittelausschuß sind Verhandlungen zur Regelung der Angelegenheit eingeleitet worden. Wir meinen, eine Behörde darf nicht das billigere Inland- fleisch zu dem höheren Auslandspreis verkaufen: ein Privater
kann dafür bestraft werden. Es mutz möglich sein, eine Tren- nung des Verkaufs durchzuführen; wenn auch die Gliederung»er Verbraucher nach der Einkommenhöhe noch nicht da ist, so konnte z. B. Nr. K.— P. der Kundenliste diesmal billiges Fleisch erhalten und das nächstemal Qu.— T., wenn man nicht zu dem Mittel der Verlosung greifen wollte. Selbstverständlich verurteilen wir jeden Streik im Er- nährungsgewerbe._ Umzugstcrmin zum Juli. Wegen der Schwierigkeiten im Möbeltransportgewerbe sind in Berlin beim nächsten Wohnungswechsel zu räumen: kleine, d. h. aus höchstens zwei Wohnzimmern und Zubehör bestehende Woh- nungen his 3. Juli mittags; mittlere, d. h. drei oder vier Wohn» zimmer bis 8. Juli mittags; große, d. h. mehr als vier Wohn- zimmer bis 15. Juli mittags. Inhaber der Dreizimmcrwohnun- gen müssen jedoch ein Zimmer und Inhaber von größeren Woh- nungen zwei Zimmer schon am 3. Juli— vollständig geräumt— dem zuziehenden Mieter auf dessen Wunsch zur Verfügung stellen. Vorstehende Anordnung findet auf Geschäftsräume und möbliert gemietete Wohnungen und Zimmer keine Anwendung. Für den Zeitpunkt der Uebergabe derartiger Räumlichkeiten ist der Mietvertrag maßgebend._ Vereinigung der sozialdemokratischen Beamten tc. der Gemeinden Grost -Berlins . In einer von zirka 1200 Personen besuchten WerOrversammlung legte Genosse W u i ch i k das Verhältnis der Beamten zur S ozialdemokratie dar. Die Neuanmeldungen legten Zeug» nis dafür ab, wie sich der sozialistische Geist in der Beamtenschaft Bahn bricht. In der am 14. Juni in der Siadtbolle abgehaltenen Versammlung kam es zu einer lebhaften Aussprache über unser Ver- hältnis zu den sozialdemokratischen Stadtver- ordnetenfra ktionen. Die Verhandlungen in der Berliner Stadtverordnetenversammlung am 5. Juni er. hätten bewiesen, daß die Fraktion über die Beamtenlragen nicht genügend unterrichtet sei. Beschlossen wurde, die Fraktionen in allen Gemeinden Groß- Berlins zu ersuchen, daß sie bei ollen Beamten- und kommunolpolitischen Fragen eine Kommission unserer Vereinigung hört. Es wurde dann eine Organi- sationS- und AgitionSkommiision gewählt; Vorsitzender ist Ge- nosse Robloff. Zur Her beifübrung einer straffen'Organisation ist erforderlich, daß sich sämtliche Verwaltungsstellen und die Bor « orte VertrauenSinäiiner wählen, die die Verbindung mit dem Vor- stand und den Mitglredern vermitteln. Die Vcrwaltunasstellen und Vororte werden ersucht, Namen, Adresse und Dienststelle dieser Vertrauensmänner umgehend einzureichen. Die Vertrauentmäiiner erhalten dann sofort eine AusweiSkarte. Die Mitgliedskaricu sind fertiggestellt und werden durch den Kassierer, Genossen Schlüter, ausgegeben. Auskunft erteilt B. Mücke, Rykestr. 2. Eine Landesbauordnung. Einer durchgreifenden Verbesserung des Wohnungswesens wird durch den Entwurf einer Londesbouordnung, die vom Staats- kommissar für das WobnunpSwesen, Scheidt, aufgestellt worden ist und künstig beim Erlaß von Bauordnungen für Städte. Land« gemeinden mit stadtartiger Entwicklung und insbesondere Vororte größerer Städte als Grundlage dienen soll, der Weg geebnet. In den neuen Entwurf sind die bekannten, auf Verbesserung� der Woh- nungSverböltnisie abzielenden Vorschriften deS WohniingsgesctzeS hineingearbeitet. Die Musterbauordnung gebt vom dreigefcho'sigen Hause, dem sogenannten Mittelhause, aus, dessen Anforderungen an Standfestigkeit' und Feuersicherheit den Bestimmungen zugrunde gelegt sind. Sie verlangt gute Belichtung und Durchlüiinng für alle Räume, die zum dauernden Auscnthalr iür Menicken bestimmt sind, und fordert für jede Wohnung wenigstens einen durchionnten Wohnraum, Damit wird künftig das ungesunde und sozial ver- verbliche Mietskasernenbaushstem, doS um enge, luft- und lichllose Höfe auf vier Seiten Ouer- und Hintergebäude gruppiert, uninöglich gemacht. Die Bestimmungen für das Mittelbaus sind dann für höhere und niedrigere Wohnhausbanien nach oben und unie» abgestuft. So wird für dw viergeschossige Wohnweise der Erlaß ver« schäriter Vorschriften verlangt, während für Mittel- und Kleinhäuser die Gewährung weitgehender Erleichterungen empfohlen wird. Im Einfamilienhaus sind sllr die Treppen keine Mindestabmessungcn gefordert und Holzbalkendecken auch ohne Verputz oder Verichalnng zugelassen. Auch dürfen Vorgärten, die bisher als Ziergärten ein meist recht kümmerliches Dasein führten, kün'lig garten- mäßiger Ausnutzung dienstbar gemacht werden. Von besonderer Be- dentung ist in Anbetracht der aeaenwärriaen Wobnnnasnot»nd deS
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Mottele. Von SalamonDembitzer. (Einzig berechtigte Uebersetzung von Stefania Goldenring.)
Mottele war Besitzer eine's kleinen Kolonialwarenladens, der an der Ecke einer ans den Markt mündenden Straße die beste Lage im Städtchen hatte. Wenn keine Kunden in den Laden kamen, und er nichts zu tun hatte, nahm er sich eine kleine Kiste vor die Schwelle, setzte sich nieder und ließ seine Blicke auf dem Markt herumschweifen. An Sommertagen, gegen Abend, gab es am wenigsten zu tun. Er pflegte dann stundenlang auf seiner Kiste zu sitzen und sah zu, wie die Jugend sich herum- balgte. Kleine Kinder hatten sich bei den Händen gefaßt und drehten sich singend im Kreise: Gott, Gott, gib a Regen Für die lieben Kinders wegen. Aeltere Knaben spielten Soldaten oder Räuber und rannten um- her. Ihre Stimmen gellten über den Markt,... Die Erwachse- neu gingen mit Stöcken in der Hand umher, blieben vor den Läden stehen, machten ein vaar Redensarten und setzten ihren Weg fort, bis es schließlich Zeit wurde, ins Bethaus zu gehen. ' Die letzten Strahlen, die die Sonne herabsandte, fielen ge- rade auf Motteles Gesicht. Das wiederholte sich jeden Tag. Er pflegte dann ein Auge zuzukneifen, in die Sonne zu starren und zu warten, bis sie unterging. Und er wurde nicht müde, die schillernden Farben zu betrachten und zu beobachten, wie der rote Streifen immer größer wurde, als ob der Himmel von innen entbrannt wäre. Aber die Sonne blendete die Augen nicht mehr so stark, und als Mottele für einen Augenblick weg- schaute, war sie entschwunden.— Mottele liebte es, den Sonnenuntergang zu beobachten. Ob- gleich er nur ein schmächtiger, unansehnlicher Mann war, mit spärlichem Vollbart, nichts besaß als den kleinen Laden, und seit Jahren denselben Kaftan trug, hatte er� doch ein paar tief- liegende, schwärmerische Augen, die das Schöne liebten und oft verträumt vor sich hinstarrten. Mottele war ein stiller Jude. „Er spricht so leise, wie ein Gesvenst", pflegten die Kunden von ihm zu sagen. Wenn sich im Städtchen eine Gelegenheit bot, ein Amt zu bekommen oder etwas Besonderes zu leisten, trat er niemals mit irgendeinem Wunsch hervor. Wenn ihm Unrecht widerfuhr, indem er zu hoch besteuert oder grundlos von
einem Magistratsbeamten beleidigt wurde, so wehrte er sich nie- mals. Ja, selbst als ihm ein Kunde einmal zwei Kronen gab und behauptete, es wären fünf gewesen, gab er leise seufzend auf fünf Kronen heraus, obgleich er genau wußte, daß es nur zwei waren.» Mottele hatte eine junge, aber gar nicht hübsche Frau, mit der sein Vater ihn verheiratet hatte, weil sie aus guter Familie stammte. Wenn sie zuweilen mit ihrem einzigen siebenjährigen Töck'terchen in den Laden kam, und er sah, wie die Frau dem Kind einen Klaps auf die Hand gab, weil es zu viel genascht hatte oder ungehorsam war, dann bat er seine Frau stammelnd: „Nicht schlagen! Oh, nicht!" Einmal traf es sich, daß seine Frau sich mit dem Kind gerade im Laden befand, als ihn ein Reisender aus der Groß- stadt besuchte. Als Motteles Fmu den stattlichen, feingekleideten Mann mit goldener Kette und einem Zwicker auf der Nase erblickte, der Mottele verschiedene Musterpäckchen von Reis. Mehl und Farbe vorlegte, zuckte sie zusammen. Um ihm ihre Ehrfurcht zu bezeigen, befahl sie dem Töchterchen, einen Stuhl für den Herrn zu bringen, und da die Kleine nicht gehorchte, fiel sie über sie her und schlug sie. Als Mottele das sah, wurde er abwechselnd blaß und rot, stürzte zu seiner Frau hin und rief hastig:-„Nicht! Nickt! Nicht!" Dann weinte er mit seinem Töchterchcn. Der Reisende verließ den Laden. Nun geriet die Frau in Wut und schrie:„Ich werde Menschen herbeirufen, daß sie sich das ansehen! Hat man jemals erlebt, daß ein erwachsener Mann sich nicht schämt zu weinen! Du Schlafmütze... Du kannst ja keine Fliege anrühren!"... In der Tat, Mottele konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. O, aber man soll deshalb nicht etwa glauben, daß Mottele nicht wußte, was recht oder unrecht ist. Man soll nicht etwa glauben, daß Mottele die Schlechtigkeit und Falschheit dieser Welt nicht sah.... Er sah sie wohl, doch wollte er nicht an das Schlechte und Falsche glauben. Er dachte bei sich: Irgend etwas ist in der Welt nicht so, wie es sein müßte.... Dann aber sagte er sich wieder: Doch nein, wie darf ein Mensch überhaupt so etwas denken.... Der Herrgott weiß doch besser, was gut oder schlecht ist.... Ter nplß es doch besser wissen, als er, Mottele, ein kleiner, stiller Jude in dem galizischen Städtchen. Doch diesen Juden befielen zuweilen, wenn er auf seinem Kasten vor der Schwelle saß, so manche Gedanken, deren er sich nicht er- wehren konnte: „Warum ist plötzlich Hirsch Westlein, der stattliche Jude mit dem langen, graumelierten Bart und dem bösen Herzen, der
nicht einmal seinen Namen schreiben konnte und früher vor jedem Katzenbuckel machte, Plötzlich so reich geworden, seitdem er Kultusvorsteher war und die Stadtkasse bei sich aufbewahrte, so reich, daß er sich ein Haus kaufen konnte.... Weshalb? Warum hat ihm der taube, schwarze Mcilach, der in der Nebengasse ebenso wie er einen Kolonialwarenladen hatte, vorige Woche einen Polizisten zugeschickt, der eine.Hausdurchsuchung bei ihm unternahm?... Weshalb? Tausende Gedanken ähnlicher Art schwirrten durch seinen Kopf, aber er sagte sich: Nein, nein.... Die Menschen sind trotz allem nicht so.... Man darf von den anderen nicht schlecht denken. Sie können nichts dafür.... Und dann— dachte er— soll man überhaupt in dieser Welt keine Fragen stellen____ Wahrscheinlich ist alles gut so, wie es ist!... Gewöhnlich wurden seine Gedanken durch das Erscheinen eines Kunden unterbrochen. Er erhob sich mit einem schweren, stillen Seufzer von seiner Kiste und ging in den Laden, um eine Flasche Petroleum und ein Stückchen Seife zu verkaufen. Mottele war ein Sozialist, ohne zu wissen, was das zu be- deuten hatte. Er wußte nichts von der Existenz solcher Menschen und hatte sicher auch nie etwas von Karl Marx und Ferdinand Lassalle gehört. Und er wußte nichts von mehr Lohn und weni- ger Arbeit und ähnlichem. Das war ihm auch höchst gleichgültig. Er hätte niemals an einem Streik teilgenommen oder Wider- stand geleistet, selbst, wenn man ihm sein ganzes Geschäft fort» genommen und ihn obendrein schuldlos eingesperrt hätte. Nur dachte er bei sieb, wenn er an Sommerabendßn auf der Kiste vor seinem Geschäft saß:„Wie gut wäre es, wenn alle Menschen Brüder wären.... Es sollte nicht Remse und Arme geben, keiner sollte den andern anzeigen, und Polizei sollte man überhaupt nicht kennen.... Die Welt sollte ein Garten sein, aus dem die Menschen sich die schönsten Früchts, die sie brauchten, holen würtzen. Hirsch Westlein sollte nicht Vorsteher sein.... Den Man» mit dem klügsten Kopf und dem besten Herzen sollte man zum Vorsteher wählen und ihm die Stadtkasse übergehen.... Und alljährlich sollte ein anderer gewählt werden." Oft kam ein Einwohner vorüber. Wenn er Mottele so ver» träumt zum Himmel blicken sah. sagte er, um ihn in ein Ge- spräch zu ziehen:„Hast du schon gehört, Mottele? Schimele RosenMüt ist Stadtverordneter geworden.... Mojschele Kampf hat Bankerott gemacht...." Aber Mottele ließ sich niemals in ein längeres Gespräch ein, er antwortete stets mit einem ein- silbigen„ja" oder„nein", so daß der andere schließlich weiter- ging und dachte: Der ist nicht ganz richtig im Kopf!... (Forts, folgt.)