Nr. 343 ♦ 36. Jahrgang
Seilage öes Vsswaxts
Dienstag, S.�uli 1414
Nationalversammlung z» Weimar 4 6. Sitzung, Montag, den 7. Juli 191 V. Am Regierungstische: Dr. Preutz. Präsident Fehrenbach eröffnet die Sitzung 225 Uhr. Es ist eine Gesetzesvorlage über die Anrechnung der während des Krieges zurückgelegten Dienstzeit eingegangen. Der Abg. Tyomsen(bei keiner Fraktion, aus dem 14. Dahl- kreise Schleswig-Holstein ) hat sein Mandat niedergelegt. Der Beirat des ReichSministeriums des Innern, Abt. Elsah- Lothringen , hat einen telegraphischen Einspruch gegen die Miß- achtung des Selbstbestimmungsrechts Elsatz-Loth- r i n g e n s im Friedensvertrag eingereicht. DaS Haus setzt die Beratung beim 15. Abschnitt über die Rcichsgesetzgebung Art. 69 fort. Dieser bestimmt: Die Gesetzes - vorlagen werden von der Rerchsregierung oder aus der Mitte des Reichstages eingebracht. Llbg. Agnes u. Gen. lN. Soz.) beantragen einen Zusatz: Der Reichswirtschaftsrat beteiligt sich an der Gesetzgebung nach den Bestimmungen der Verfassung. Im übrigen wird reichsgesetztich die Teilnahme der Arbeiterräte an der Gesetzgebung geregelt. Reichslommissar Dr. Preus, wendet sich gegen den Antrag der Unabhängigen und bittet, es bei der Bestimmung zu lassen, in der ganz klar und korrekt ausgedrückt wird, daß die Gesetzesvor- lagen von der ReichSregierung oder ans der Mitte deS Reichstages eingebracht werden. Abg. Braß lU. Soz.) vermißt in Art. 69 entsprechend dem An- trag Agnes u. Gen., daß auch der Reichswirtschaftsrat das Recht zur Einbringung von Gesetzesvorlageu haben soll. Die Abstimmung über den Antrag AgneS bleibt zweifelhaft. Die Auszählung ergibt 116 Stimmen gegen und 89 für den Antrag. Das Haus ist also nicht beschlußfähig. Zweite Sitzung vom 7. Juli 1919, nachmittag? 8 Uhr. Präsident Fehrenbach eröffnet die Sitzung 3.65 Uhr. Die wiederholte Abstimmung über den Antrag Agnes(U. Soz.) zu Art. 69 ergibt seine Ablehnung. Die Art. 73 und 74 treffen Bestimmungen über die Verkün- dung der Reichsgesetze und die Volksabstimmung. Nach Art. 73 ist die Verkündung eine? ReichsgesctzeS um zwei Monate auszusetzen, wenn es ein Drittel des Reichstages ver- langt. Gesetze, die der Reichstag und der Reichsrat für dringlich erklären, kann der Reichspräsident ungeachtet diese? Ver- langens verkünden. Art. 74 bestimmt,«in vom ReichSrat beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid zu bringen, wenn es der Reichspräsident binnen eines Monats bestimmt. Ein Gesetz, dessen Verkündung auf Antrag von mindestens ein Drittel des Reichstage? ausgesetzt ist, ist dem Volksentscheid zu unterbrei- ten, wenn es ein Zwanzigstel der stimmberechtigten Wähler beantragt. Im übrigen sieht der Art. 74 eine Volksabstimmung vor, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das Begehren nach einem Gesetz stellt. Abg. Dr. Heinze(D. Vp.) beantragt, die Art. 78 und 74 zu streichen. Abg. AgneS und Gen.(II. Soz.) beantragen für den ersten Satz des Art. 74 die Fassung: Die Reichsregierung kann ein Gesetz vor .der Verkündung binnen eines Monats nach der Schlußabstimmung im Reichstag zum Volksentscheid bringen. Abg. Bauer(Soz.) u. Gen. beantragen für den zweiten Satz deS Art. 74 die Fassung: Ein Gesetz ist dem Volksentscheid zu un- terbreiten, wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es binnen zweier Monate nach der Schlußabstimmung im' Reichstage fordert. Abg. Heiuze(D. Vp.): Der Ausschuß hat gegenüber der Vor- läge die Möglichkeit des Referendums erheblich erweitert, fo daß dadurch eine geordnete Gesetzgebung unter Umständen völlig lahm. gelegt werden kann. Die Ausdehnung des Referendums beruht auf der Tendenz eines starken und fortgesetzten Mißtrauens gegen die gesetzlich berufenen Instanzen. Abg. Dr. v. Delbrück(Dnat.): ES handelt sich hier um reine ZweckmäßigkeitSfrygen, für die uns bis jetzt noch jede Erfahrung fehlt. Bei dieser Sachlage find die Meinungen in meiner Fraktion geteilt. Abg. Katzenstein(Soz.): Ich leugne nicht, daß das Referendum unter Umständen fortschritthemmend wirken kann. Jedenfalls muß die Möglichkeit bestehen, daß allein durch die Souveränität d«S Volkes ein Gesetz zustande gebracht wird.
Reichskommissar Dr. Preuß: Durch parlamentarische Arbeit wird tatsächlich die Uebersicht erschwert. Was dem Volk hier an Rechten mehr gegeben wird, steht in gar keinem Verhältnis zu dem Schaden, der der Gesetzgebung zugefügt wird.(Sehr richtigi) � Allzu oft würde es zum Referendum nicht kommen. Wir haben .ja erlebt: je kleiner die Minderheit, desto rabiater die Agitation. (Sehr richtig! Heiterkeit.) Abg. Koch-Kassel(Dem.): Die Autorität der Demokratie wird nicht von all�n Staaten anerkannt, deshalb ist die Stimmung des Volkswillens in ihren Ursprüngen zu erfassen. Das Volk ist das beste und sicherste Kontrollorgan. Abg. Dr. Eohn(U. Soz.): Der Volksentscheid bedeutet einen neuen Gedanken, ist aber ein»wichtiges Mittel für die Politisie- rung der Massen. Abg. Dr. Qunrck(Soz.): Tie Schweiz hat nach übereinstim- Menden Zeugnissen die besten Erfahrungen mit dem Referendum
Mittwoch, öen 9. Juli 1919 ZahlabenS unserer parte! in Groß-Serlin. Unsere Mitglteüer haben hier Gelegenheit, zu allen wichtigen Vorgängen Stellung zu nehmen unä der parte! die Marschroute vor» zuschreiben» /tuch„Vorwärts"» Leser find willkommen. vte Lokale find im heutigen Inseratenteil zu ersehen.
gemacht. Es gibt die Mittel, scharfe Konflikte zwischen Volk und Regierung zu beenden, d. h. also gegen Monarchie und Bolschewismus, denn es bestätigt die Majorität. Alles in allem: es ist ein Be- standteil der Demokratie; es wäre ein Fehler, es nicht in die Ver- fassung aufzunehmen. Abg. Dr. Delbrück(Dnat.): Das Volksbegehren leh- n e n w i r a b(!), weil es sich hierbei in der Regel um Dinge han- delt, die in der Oeffentlichkeit noch nicht hinreichend erörtert sind. Abg. Hausimann(Dem.): Die eben geäußerte Besorgnis haben auch wir empfunden. Wir haben deshalb eine besonders vo-r- sichtige Form der Behandlung vorgeschlagen. Die Artikel 73 und 75 werden unter Ablehnung aller Anlräge unverändert angenommen. Art. 75 behandelt daS Einspruchsrecht des Reichsrats gegen die vom Reichstag beschlossenen Gesetze. Dieser soll im Falle des Ein- spruchs nochmals Beschluß fassen. Bei mangelnder Uebereinstim- rnung zwischen ReichSrat und Reichstag kann der Präsident den Volksentscheid anrufen. Erfolgt der Beschluß d«S Reichs- tages gegen den ReichSrat mit Zweidrittelmehrheit, so hat der Reichspräsident das Gesetz zu verkünden oder den Volksentscheid anzurufen. Die Sozialdemokraten beantragen Volksentscheid auch für den Fall, daß der Reichstag in drer aufeinanderfolgenden Perioden zum dritten Male ein Gesetz gegen den Einspruch des Reichsratö beschlossen hat. Ohne Erörterung erfolgt sodann die Annahm« des Ar- t i k e l s 76, nach dem Verfassungsänderungen im Reichstage nur mit einer Zweidrittelmehrheit bei Anwesenheit von zwei Dritteln der gesamten Mitgliederzahl des Reichstags beschlossen werden können. Auch im Reichsrat sind zu Verfassungsänderungen zwei Drittel der abgegebenen Stimmen erforderlich. Es. folgt Beratung des 6. Abschnittes-Die Reichsverwaltimg". Abg. Dr. Quarck(Soz.)'berichtet über Artikel 78 bis 166. Die Artikel 78 bis 87 werden ohne Erörterung nach den Ausschußbe- schlüssen angenommen. Artikel 88 erklärt das Post- und Telegr aphenwesen einschließlich des Fernsprechwesens als ausschließliche Sache des Reichs und bestimmt demnach einheitliche Postwert- zeichen. Absatz 2 deS Artikels bestimmt: Verordnungen jeder Art er- läßt die Reichsregierung mit Zustimmung des Reichsrats. Die ReichSregierung kann die Befugnis mit Zustimmung des Reichs- ratS auf den Postminister übertragen.
Abg. Dr. Steinkopf(Soz.) beantragt, diesen Artikel zu streichen. Nachdem die bayerische und württembergische Post mit der Reichspost verschmolzen ist, hat die Mitwirkung des Reichsrats keinen Sinn mehr. Abg. Weiß(Dem.): Ich bitte den Absatz zu lassen, wie er ist. Abg. Zoephel(Dem.)r Wenn die Post und die Eisenbahnen einheitlich gestallet werden sollen, so müssen sie auch zentra- listisch verwaltet werden, und es ist nicht zweckmäßig, sie in ihrem Verordnungsrecht von einem Roichsrat abhängig zu machen. Reichskommissar Dr. Preuß: Vielleicht empfiehlt es sich, das Recht des Postininisters, Verordnungen zu erlassen, auf die Ge- ibührcn und die Benutzung der Verkehrsanstalten zu beschränken; damit wäre auch Bayern und Württemberg einverstanden. Artikel 97 gibt dem Reiche das Recht, die dem allgemeinen Ver- kehr dienenden Wasserstraßen in Eigentum und seine Ver- walwng zu übernehmen, neuanzulegen öder neuauszübaen. Ein gemeinsamer Antrag Beyerle, Dr. Haas(Dem.) und Dr. Heinze(D. Vp.) will die Nutzung der Wasserkräfte und die Regelung des Gemeingebrauchs der Wasserstraßen den Länder» überlassen. Abg. v. Schnlz-Gaevernitz(Dem.): Die Verfassung wird viel- fach schon reichlich u n i t a r i s ch befunden. Unterstaatssekretär Dr. Prtcrs: Das Reservat der Wasser- kräfte kann einzelne Bundesstaaten wohl benachteiligen, Preußen aber, das sehr große Ausgaben für verschiedene kleine Gewässer (Main , Weser , Aller usw.) gehabt hat, steht auf dem Standpunkte, daß das Reservat nur schade. Die Bewirtschaftung einer Wasser- straße müsse frei sein. Artikel 97 wird unter Ablehnung des Antrages Beyerle un- verändert angenommen. Der übrige Teil des sechsten Abschnittes wird unverändert angenommen, hinzugefugt aus Antrag sämtlicher Parteien außer den Unabhängigen ein Artikel 166», wonach das Reich alle Seezeichen llbernimrnt. Nächste Sitzung Dienstag 2 Uhr. Steuergesetz c. Schluß 6 Uhr 46 Minuten. parteinachrichten. Landeskonferenz der hessischen Sozialdemokratie. Wie auf der kürzlich stattgefundenen Landeskonferenz der hessischen Sozialdemokratie in Darmstadt der Landessekretär Genosse N e u m a n n berichtete, hat die Partei einen erfreulichen Aufschwung genommen. Vor Ausbruch des Krieges zählte die damals ge> schlosiene Organisation 28 396 Mitglieder. Der Ausbruch deS Krieges brachte eine Flucht von der Partei. Eine Zählung ergab, daß im März 1915 sich 16 537 zahlende Mitglieder unter den Fahnen befanden, die Lücken in den Organisationen wurden immer größer, und eine Zählung im März 1916 ergab nur noch 6523 zahlende Mitglieder und über 12 666 im Kriegsdienst befindliche Genossen. Der Krieg babe einen Verlust von über 26 666 Mitgliedern gebracht. Heute zähle die Organisation an 36 666 Mitglieder. Die finanziellen Verhältnisse gestalteten sich wie folgt: Einnahmen und Ausgaben der Landeskasse 1914/15: 21 166,57 M.. 1915/16: 15 894,56 M.. 1916/17: 12 068,08 M., 1917/18: 15 937,29 M., 1918/10: 42 299,68 M._ GroßSerün 25 Jahre. Bor 26 Fahren ließ sich ein Arbeiter aus Süddeutschlanb in einem Dorfe bei Berlin nieder und schlug sich schlecht und recht durchs Leben. Seine Bemühungen. Mitkämpfer für den Sozialismus zu gewinnen, eine sozialdemokratische Organisation zu grSuden, begegneten dem schärfsten Widerstand der Gemeindebehörden. Kein Mittel war den Herrschasten zu schlecht, die verhaßten Sozialdemo- kraten zu stören oder ihre Arbeit wieder zu vernichten.-- DaS Hauptbcftreben der Genossen war darauf gerichtet, in die reaktionäre Gemeindevertretung frische« Leben zu bringen. Für die kleine Schar der Unentwegten gab eS keinen Feierabend, keinen Sonntag. Unter den Gemeindegrößen tat sich der Polizeidezernent besonders hvvor. Jahre vergingen. AuS dem jugendlichen Kämpfer war ein grauhaariger Mann mit gebeugter Gestalt, aus dem Dorfe ein großer Villenort geworden, in welchem sich kriegsbegeisterte Alldeutsche und Kriegsgewinnler breit mochten. Zum großen Schmerze der Gemeindegewaltigen wurden nach
Erleuchtung.
7] Roman von Henri Barbusse . Tantchen tritt ein. Sie setzt sich auf einen Schemel, um ein wenig Atem zu schöpfen. Dann hält sie den verbogenen Schlüssel, den sie auf ihr Kirchenbuch preßt. Dann fängt sie mühselig und abgehackt von diesem Schlüssel zu reden an und von dem Unfall, der ihn beschädigt hat. Die mannig- fachen Einzelheiten jagen sich in ihrem Kopfe. Aber die Aufmerksamkeit des düsteren, seine Holzschuhe schwer schleppenden Schmiedes wird plötzlich durch das Fensterloch angezogen, das von der Werkstatt auf die Straße führt. Brisbille brüllt auf:�„Dieses SchweinI" ES ut Herr Fontan, der Restaurateur und Weinhändler, dem der Schmied so schimpft. Fontan ist ein kräftiger, auffallender Mann, er ist ganz von einer weißen Fettschicht bedeckt, wie ein wohlgewcißtes HauS. Er spricht niemals ein Wort. Er ist immer allein. Er ist eine Macht. Er verdient viel Geld. Er hat die Hunderttausende nur so aufgescheffelt. Aber am Mittag und Abend sieht man ihn nicht mehr auf der Straße. Denn dann bleibt er in seine Ladenstube eingegraben, um ganz für sich seine Mahlzeit abzuhalten. Doch während der übrigen Tageszeit scheffelt er wortlos sein Geld ein. Sein Ladentisch hat ein Loch, in das er jedes Geldstück hinein- rutschen läßt. Sein Haus füllt sich mit Geld vom Morgen- grauen bis zum Abend an. Tantchen sagt:„Daß ist die richttge Geldfalle." Ich sage einfach:„Er ist ein reicher Mann." Da höhnt Brisbille auf:„Wenn Du das sagst, da hast Du wahrlich recht, Kerl von Spießerseele! Bist nur'n armer Lump wie die Uebrigen auch, aber die Spießerideen, da klebst Du nun mal feste dran!" Ich mache eine ungeduldige Bewegung. WaS Brisbille da behauptet, ist gar nicht wahr. Er setzt mir mit feinem Haß zu, der auf alles und in die Kreuz und in die Quere losgeht. Der Anblick dieses Mannes, der reicher ist alS die übrigen Menschen, macht auch auf Brisbille einen bedeutenden Eindruck. Im Aufruhr weitet sich wohl der stählerne Blick des Schmiedes, aber er verstummt bald, wie wir übrigen auch, je mehr sich die wichtige Persönlichkeit des Herrn Fontan in Wichtigkeit aufbläht. Meine Tante wirft ein:„Die Boneas sind noch reicher als Fontan.-
. Herr Fontan geht an der offenen Tür vorbei. Man hört nämlich den Atem dieses mächtigen Einsiedlers. Und sobald er uns den Rücken zugewendet hat, der von einer ungeheuren dickleibigen Fettschicht ausgepolstert ist, fängt Brisbille von neuem zu schimpfen an:„Gott , was für'ne Schnauze I Hat der Mensch schon sowas gesehen. Dem wackelt ja das Maul direkt um die Ohren I Der richtige Schweinspomuchelkopp l" Und er fügt hinzu, indem eine breite Volksfreude über sein Gesicht geht:„Gott sei Dank, man darf hoffen, das all der Klumpatsch bald in die Lust geht." Der Schmied brüllt auf vor Lachen. Tantchen sucht sich einen Platz, wo sie dem Schmied nicht zu nahe ist. Sie ver- achtet Brisbille, der ja der Neid, die Bosheit und die Ge- meinheit in Person ist. Uebrigens wird er von allen an- ständigen Leuten gehaßt, denn er ist ja so unmäßig und seine Anschauungen sind ja so vorgeschritten. Hat man aber mit ihm etwas zu tun, dann geht man gewöhnlich des Sonntags zu ihm, und man bleibt immer noch ein Weilchen sitzen, weiß man doch, daß man noch andere Leute treffen wird. Und so ist es nun die Ueberlieferung geworden. Da steht Benoit in der Werkstättentür.*Er sagt:„Nun wird man auch die kleine Antoinette wieder gesund machen." Benoit ist wie eine Zeitung. Ihm selber stößt niemals etwas zu, aber er lebt nur, um das anzuzeigen, was anderen Leuten zustoßen wird. Tantchen ruft aus:„Ich weiß schon I Man hat's mir heute morgen schon erzählt. Einige Leute haben es schon heute früh um 7 Uhr gewußt. Er kommt gerad' zur Jagd aufö Schloß, ein sehr großer bekannter Doktor, der sich mit Augenkrankheiten abgibt." Eine Frau tritt ein und sagt:„Armes, kleines Engelchen I" Brisbille fährt gallig und höhnisch dazwischen:„Ach, das Wurm, das man nun ewig heilen soll! Verflucht nochmal, wer kümmert sich denn hier darum?" Zwei Damen, die gerade hinein kommen, antworten ihm:„Alles kümmert sich um das Kind." Inzwischen ist Brisbille still geworden. Er kaut an seinem gewöhnlichen Satze herum, der aufgeblasen und blöde ist, wie ein Litaneien- Vers, hergeleiert in allen öffentlichen Versammlungen, und er sagt:„Das Kind.ist nur ein Opfer der Gesellschaft!" Herr Joseph Boneas ist auch bei Brisbille eingetreten. Er tut das gern, denn er verachtet es nicht, mit den Leuten vom Arbetterviertel Berührung zu nehmen. Auch Herr Pocard
und Crillon find da. Erillo» ist frisch rasiert, seine Haut
A
straff leuchtend und glatt gehobelt. Und noch andere Leute sind gekommen. Unter ihnen bemerkt man besonders den beweglichen, perlmuttglänzenden Kopf des Herrn Mielvaque. Er ist immer so schüchtern und förmlich, und er hat schon auf der Schwelle den Hut gezogen. In der Fabrik ist er nur bei der Expedition angestellt. Er trägt abgetragene Wäsche von zweifelhafter Sauberkeit, und ein einziger fadenscheiniger Rock dient ihm bei allen Gelegenheiten. Herr Joseph Boneas macht starken Eindruck auf mich. Ich muß ständig sein zartes Gesicht ansehen und den matten Schatten seiner Trauerkleider und die glänzenden, schwarzen Handschuhe an seinen Händen, die ein kleines, eingerahmtes Rechteck, das Gebetbuch, halten. Auch er hat den Hut ge- zogen. Also ziehe ich auch in meinem Winkel bescheidentlich meinen Hut. Er ist ein feiner und vornehmer Mann, und seine an- geborene Eleganz verfehlt nicht ihre Wirkung. Trotzdem ist er kränklich, denn sein Körper ist von Geschwüren gepolstert. Immer geht er mit gebogenem Hals einher oder mit ver- krampften Handgelenken, weil irgendwo an ihm ein neuer Aus- satz wieder aufsproßt. In diesem gebrechlichen Körper ist eine helle und gesunde Klugheit eingeschlossen. Ich bewundere ihn, denn er ist überlegt und gedankenvoll, und er weiß sich untadelig auszudrücken. Letztens hat er mir die geistigen Bande auseinander gesetzt, die das heutige Frankreich mit dem alten Frankreich verknüpfen, und er hat mir in einer soziologischen Stunde, deren bedeutsame Klarheit für mich wie eine Offenbarung gewesen ist, die Wunder unserer geschichtlichen Vergangenheit erklärt. Ich suche seine Gesell- schaft, ich möchte ihm gerne nachahmen, und er kennt den starken Einfluß gar nicht, den er ans mich ausübt. Man wendet ihm vielerlei Aufmerksamkeit zu, als er berichtet, daß er in Viviers eine Gesellschaft junger Leute gründen möchte. Dann wendet er sich an mich und sagt:„Je weiter ich komme, desto mehr bemerke ich, daß alle Menschen mit Kurzsichtigkeit geschlagen sind. Sie können und möchten nicht weiter sehen, als ihre Nasenspitze reicht." Und ich antworte nur das Wörtlein ja. Ich finde meine Antwort, die allein in dem nun folgenden Schweigen nachhallt, ein wenig kurz. Sicher auch er. Denn er wendet sick jetzt an die anderen Anwesenden, und ich bleibe in meinem düsteren Winkel der Höhle Brisbilles ganz rot Übergossen stehen. DoM friaü