Nr. 356 ♦ 36. Jahrgang
Seilage öes Vorwärts
Nationalversammlung zu Weimar öS. Sitzung, Montag, den 14. Juli 1S19, nachmittags, 3 Uhr. Am Regierungstisch: Erzberger , Dr. David. Präsident Fehrenbach eröffnet die Sitzung. Vizepräsident Schulz(Soz.) hat sein Mandat als Vizepräsident niedergelegt, weil er Unterftaatssekretär geworden ist. Das HauL setzt die Beratungen über die Wahlprüfungen fort. Abg. Dr. Raschig(Dem.) berichtet über die Wahl im dritten Wahlkreise(Stadt Berlin ). Die aus diesem Wahlkreise vorliegen» den Proteste richten sich gegen die Wahlzettel der Liste Scheide- mann, weil diese die fettgedruckte Uebevschrift„Liste der sozialdemokratischen Partei" getragen haben. Der WahlprüfungSouS- schütz erblickt in der genannten Ueberschrift kein Kennzeichen im Sinne de? Wahlgesetzes und hat die Stimmzettel für gültig er- klärt. Die Zahl der früher für ungültig erklärten Zettel reicht aber für Veränderungen in der Zahl der Mandaisträger nicht aus, deshalb schlägt der WahlprüfungSausschutz einstimmig vor, die Berliner Wahlen für gültig zu erklären. Abg. Vruhn(Dnatl. Vp.): Die Kennzeichnung der Wahlzettel in Berlin war ein Ausflutz des. revolutionären Geistes, der glaubte, sich alles leisten zu können. Diese Kennzeichnung war unzulässig. Nachdem sich noch die Abgeordneten Neumann-Hofer(Dem.), Hartman»(Dem.) und Schmidt-Sachsen(Soz.) im Sinne des Ausschusses ausgesprochen hatten, wird der AuSschuhantrag angenommen. Präsident Fehrenbach: Der AeltestenauSschutz hat über die Geschäftslage gesprochen und ist zu der Ueberzeugung gekommen, datz, wenn es mit den Reden in der bisherigen Weise fortgeht, wir unserer Aufgabe nicht gerecht werden können. Wir kommen auf die Weise in die peinlichste Situation, um so mehr, da nun auf der anderen Seite die Herren vom Lande den Wunsch auZ- sprechen, zur Ernte nach Hause fahren zu können. Ich stelle den Herren daher dringend anheim, nur die wirklich notwendigen Rede« zu halten und sich im übrigen niehr an die Tat der Abstimmung zu halten.(Lebhafte Zustimmung.) Die Wahlen in den Be- zirken Ostpreutzen, Breslau , Hamburg , Bremen , Stade und die Nachberufung der Abgg. Thurow-Potsdam, Bachmeier-Nieder- l>ayern, Ende-Sachsen sowie die Wahl im Hannover -HildeS- heim werden gern atz dem Antrage des Ausschusses für gültig erklärt. Di« Akten der Wahl in Münster -Minden werden auf Antrag Zubeil(U. Soz.) der Staatsanwaltschaft übergeben, die Wahl aber nichtsdestoweniger für gültig erklärt. Für gültig erklärt werden weiter die Wahlen in Arnsberg , Köln-Aachen, den beiden württembergischen und dem thüringischen Wahlbezirk. Die Abstimmung über die Gültigkeit der Wahl im Bezirk Düsseldorf wird wegen der schwachen Besetzung des Hauses auf morgen vertagt. Es folgt die Beratung eines Gesetzes über die erhöhte An» rechnung der Kriegsdienstzeit. DaS Gesetz will die vom 1. August 1914 bis zum. 31. Dezember 1919 im Reichs- oder Militärdienst von NichtkriegSteilnehmern zurückgelegt« Dienstzeit, sofern sie mindestens sechs Monat« be- tragen hat, zu dem anderthalbfachen Betrage bei der Berechnung von Ruhegehältern und Renten anrechnen. Dazu geht ein Abänderungsantrag Mittelmann(D. Vp.)«in, die Zeit doppelt anzurechnen. Nach kurzen zustimmenden AuSmhvungen der Abgg. DeliuS (Dem.), Steinkopf(Soz.), Koch-Münster(Zentr.), Deglerk(Dnat. Vp.) und Dr. Mittelmann(D. Vp.) wird das Gesetz dem Haus- haltauSschutz überwiesen. Es folgt die Interpellation Auer und Genossen(Soz.): Was gedenktdie Reichsregierungzutun, um der schreienden' Not der Zivil- und Militär- Rentenempfänger schnellstens abzuhelfen? Abg. Mcier-Sachsen(Soz.) begründet die Interpellation. Unter der Teuerung und der furchtbaren Geldentwertung hat niemand mehr zu leiden als die Rentenempfänger. Ihnen mutz geholfen werden, und zwar sofort, entweder durch eine Er-
höhung der Zuschläge oder durch einmalige Beihilfe. Dringend no� tut ferner ein beschleunigtes Rentenverfahren. Eine An- Passung der Renten an die Einkommensverhältnisse des Renten- berechtigten und ein« Versorgung der Hilssdienstpflichtigen auf'der Grundlage des Mannschaftsversorgungsgesetzes, auf diesem Ge- biete zu sparen, wäre Sparsamkeit am falschen Platz. (Beifall.) Arbeitsminister Schlicke: Zweifellos sind die gegenwärtig:» Rentenbezüge unzureichend. Aber für den Augenblick sind weder die Versicherungsträger, denen allein die Zuschläge bis zum Ab- lauf des Jahres 1919 eine Mehrausgabe von 229 Millionen verursacht haben werden, noch das Reich in der Lage, größere Mittel bereitzustellen. Ich habe daher im Einbernehmen mit dem Reichsfinanzminister die fürsorgebedürftigen Rentenempfänger auf die Kriegswohlfahrtspflege, an deren Kosten ja das Reich mit einem Drittel beteiligt ist, verweisen müssen. Außerdem habe ich die Gemeinden noch einmal besonders anweisen lassen, ihre Pflicht zu tun. Im übrigen beabsichtige ich schon in allernächster Zen, womöglich noch vor der Vertagung der Nationalversammlung , einen Gesetzentwurf einzubringen, der einer erhöhten Fürsorge der Rentenempfänger Rechnung trägt. Major v. Werder legt namens der Heeresverwaltung eingehend dar, wie schon durch eine Reihe von Matznahmen von erheblicher finanzieller Bedeutung für die versorgungsberechtigten Militär- Personen der Unterklassen gesorgt sei. Die gründliche Reform der Militärversorgungsgcsetze ist in Arbeit und wird mit aller Be- fchleunigung durchgeführt werden. Hierbei werden die Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebcnenorgantsaßionen zur Mitarbeit herangezogen. Auf Antrag des Abg. Löbe(Soz.) findet die Besprechung der Interpellation statt. Abg. Gilsing(Z.): Es ist eine Ehrenpflicht de? deutschen Volkes, die matevielle Not von denen fernzuhalten, die dem Vaterland die größten Opfer gebracht haben. Bei diesen Fürsorgematznahmcn müssen die Kriegsbeschädigten und die Hinterbliebenen selbst gehört werden. Vor allem mutz den Kriegsbeschädigten Arbeit be- schafft und müssen sie vor Entlassungen aus der Arbeit geschützt werden. Für diese� Rentenempfänger zu sorgen, mutz der erste Grundsatz unserer Sozialpolitik sein. Abg. Erkelenz (Dem.): Wünschenswert ist amtliche Auskunft über den Stand der ArbeiterverstcherungSkassen. Ein« Erhöhung der Beiträge ist ausgeschlossen, dennoch müssen die Bezüge erhöht werden. Die wichtigste Aufgabe ist die Beschaffung von Arbeit, die Vorbereitung passender Berufe für die Invaliden. DaS Kapital- abfindungSgesetz sollte nicht bloß ausschließlich auf den Grundbesitz zugeschnitten bleiben. Auch eine Enlschädigung der KriegSgsfange- nen, ebenso eine Erhöhung der Entschädigung für die Veteranen der früheren Kriege ist wünschenswert. Die Regierung mutz den ganzen Ernst dieser Frage erfassen. Abg. Vehrem>(Dnat. Vp.): Die EntschädigungSsrage ist keine Parteisache; sie mutz ein Bekenntnis der Nationalversammlung zu einer ausreichenden und angemessenen Versorgung der Kriegs- beschädigten werden. DaS damit angeschnittene Gebiet ist aber so weitläufig, datz wir eigentlich nur eine grundsätzliche Zustimmung zu solchen Bestrebungen aussprechen können. Da die Revolutions- regierung sogar den Deserteuren die Löhnung nachgezahlt hat, ist es nicht zuviel verlangt, wenn auch die Kriegsgefangenen sie er- halten. Abg. Winnefeld(Dnat. Vp.): Die während des Krieges eingetretenen Lohnverschiebungen machen auch eine Aenderung der Renten erforderlich. Abg. Frau Zietz(U. Soz.): Wir verlangen eine grundlegende Reform des gesamten Versicherungswesens. Abg. Frau Reize lSoz.) bespricht vor allen Dingen die Not- läge der Kriegshinterbliebenen, der Unfallverletzten und der Jnva- liden. Es ist nicht zu bestreiten, datz Kriegerwitwrn mit Kindern von ihren Renten nicht einmal die rationierten Waren kaufen können.(Sehr richtig!) Das Vaterland hat die Berpflichiung, ge- rade über die Hinterbliebenen unserer gefallenen Krieger seine schützende Hand zu breiten. DaS gleiche gilt von den Kriegsbeschädigte«. WaS wir ihnen zu geben vermögen, macht nur ein Geringe? dessen auS, was sie unS gegeben haben.(Lebhafter Beifall.) Deutschland
ist ein armes Land geworden, aber die Invaliden des Krieges und. der Arbeit darf es nicht vergessen.(Beifall.) Damit ist die Besprechung der Interpellation erledigt. Präsident Fehrenbach bemerkt, daß der nächste Gegenstand der Tagesordnung sehr schnell erledigt sein werde, denn die Ju- risten seien sich darüber einig.(Heiterkeit.) In erster, zweiter und dritter Beratung wird der von dem Abg. Dr. Taucher(Zentr.) eingebrachte Gesetzentwurf, daß die Bestimmungen über die Erhöhung des im Urteil ausgesprochenen Betrages infolge wesentlicher Veränderung der Verhältnisse der Vertragschließenden auch Anwendung auf die von einem deutschen Gerichte abgeschlossenen Vergleiche über Leistungen und auf die Schuldtitel Anwendung finden, angenommen, nachdem Abg. Dr. Eohn(Unabh. Soz.) rückwirkende Kraft dafür gewünscht hat, aber der Antragsteller Dr. Taucher sowie Geheimrat Zweigert als Ver- treter der Reichsjustizverwaltung bemerkt haben, datz in der Fassung des Antrags die rückwirkende Kraft bereits liege. Auf den Bericht des Ausschusses für Volkswirt- sch a f t über die Lage im Kohlenbergbau und die Kohlenversor- gung beschließt das Haus eine längere Resolution, in welcher Vorschläge zur Erhöhung der Kohlenproduktion und der Kohlen- belieferung gemacht und die Regierung ersucht wird, einen Ar- beitsplan für die baldige Ueberführung der Kriegskohlenwirtschaft in die Friedenswirtschaft vorzulegen. Auf den Bericht betreffend Wirk- und Webwaren beschließt dak Haus, die Reichsregierung um Milderung der Verordnung be- züglich des Verbotes einer besonderen Beschleunigung des Ver- kcrusZ von Strick-, Wirk- und Webwaren zu ersuchen. Nächste Sitzung: Dienstag vormittag 9H Uhr. GroßVerün vollzugsrat Groß-Serlin. Protest der Minderheit. Der VollzugSrat beschäftigte sich am Montag mit den Vorkomm« nissen in der Heilstätte Beelitz , wo der Arbeiterrat unler Aufgebot des Garde-Kavallerie-SchützenkorpS seines Postens enthoben und abgeführt, sowie die Anstalt selbst von soldalen besetzt worden ist. Der Vollzugsrat verurteilt es auf daS allerenlschiedenste, datz zur Schlichtung von Differenzen, die aus der Tätigkeit der Arbeiterräte entstehen, Militär herangezogen wird. Der VollzugSrat ist viel- mehr der Ansicht, datz nur er berufen ist. Differenzen, die aus der Tätigkeit der Arbeiterräle entstanden find, zu regeln. Zur Prüfung der dem Arbeiterrat nachgesagten Entschuldigung wird eine Kam- Mission gewählt. Die vor einigen Tagen stattgefundene Verhandlung der Kom- Mission deS Vollzugsrats mit dem Kabinett in Weimar führte zu keinem Ergebnis. ES wurde beschloffen, erneut mit dem preutzi- schen Ministerium deS Innern und dem Reichswehrminister Noske zu verhandeln. Weiter wurde beschloffen, zum Sonnabend eine Vollversammlung mit folgender Tagesordnung einzuberufen: 1. Erledigung der Beschlüffe der Vollversammlung. 2. Die Tätigkeit und Finanzierung des VollzugsratS und der Arbeiterräle. • Hierzu erfahren wir: Zum Dank für ihre Bemühungen um die Freilassung der letzthin verhaftete» Vollzugsratsmitgliedcr wurden unsere Genossen in der niederträchtigsten Weise beschimpft. Sie erklärten darauf unter Anschlutz der Demokralen, sich zwar an der zur Regelung von Personalfragen eingesetzten Kommission, aber an keiner zu Verhandlungen mit der Regierung bestimmten Kom- Mission zu beteiligen._ Achtung kriegsbeschäöigte und Kriegshinterbliebene! Die Bureauräume der VersorgungS-Abteilungen der Bezirkskomnmndos l— VI, Bülowstratze 88, bleiben infolg« v«> Arbeitsniederlegung der Angestellten bis auf weitere« geschloffen. Die Arbeitsniederlegung hat folgenden Anlatz: In den Versorgung? abteilungen wurde der Gelöbnisschein, der Reichswehr beizutreten, vor- gelegt, dessen Nichtunlerzeichnung die sofortige Entlassung nach sich ziehe, sollte. Die Verhandlungen mit dem Kriegsministerium haben kein Klärung der Personolfrage herbeigeführt. ES befinden sich unte den Angestellten der Versorgungs- Abteilungen eine grotze Anzab Kriegsbeschädigter und Familienväter, denen man einen Eintritt>
Erleuchtung.
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Roman von Henri Barbusse . Verdeutscht von Max Hochdorf . Frau Piot hat die Kerzen umgestellt. Um das Kinn der Toten zu halten, hat sie ihr ein Tuch umgelegt. Nun ist dieses Gesicht von dem Handtuch umrahmt, daS auf der Schädeldccke einen Knoten bildet. Und es liegt in der Wollen- schicht der grauen Haare. Das Gesicht ist anzusehen gleich einer grün-bronzcnen Maske, aus der eine Hakennase und ein gläsernes Augenmal hervorstechen. Die Knie stoßen zlvei spitze Kanten in das Bettuch. Das Auge folgt den hageren Stäben der Schienenbeine und die beiden Füße heben die Decke hoch wie zwei eingekeilte Knäufe. Langsam schickt sich Mario zum Fortgehen an. Sie hat ihre Bluse wieder geschlossen und den Mantel angezogen. Nun ist sie wieder ganz verhüllt. Sie kommt auf mich zu, noch arbeitet der Schmerz in ihr. Für den Augenblick sind ihre Tränen versiegt. Sie redet nicht, sie lächelt mich an. Ich richte mich empor zu ihr. Meine Hände zittern ihrem Lächeln entgegen, als wenn ich danach greifen könnte, und derart zerstäuben die Vergangenheit und das Wesen meiner zweiten Mutter. Und als die Nacht vergangen. ist, und als das er- loschene Feuer nicht mehr wärmt, da machen sich nach und nach die Weiber fort. Eine Stunde, zwei Stunden, ich bleibe allein. Ich wandle hin und her. her und hin, und ich schaudere, da ich die Tote noch einmal betrachte. Meine Tante ist nicht mehr. Von ihr bleibt nur noch irgend ein wesenloses Etwas, etwas Zerschmettertes, etwas tief Erden- farbencs. Und der Platz, den sie eingenommen hat. ist der- onri' �nt> stehe ich neben ihr, und ich stehe allein! Allein und vergrößert durch meine Trauer, Herr über meine Zukunft, angeschauert von den neuen Zeiten, die nun kommen wollen. Endlich wird eS dämmerfahl vor dem Fenster, dämmer- g�au an der Zimmerdecke. Das sind die ersten Spuren der Helligkeit, in die noch der Lichterkreis der Kerzen hinein- flackert. Ich fröstele gewaltig. Ich stehe in dieser Dämmerung. die mich umbraut und in dem Herzen dieses Zimmers, das ipeine Heimat schon seit ewigem gewesen ist, und ich erzaubere
das Bildnis einer Frau, die neue Heimat darin nehmen soll. Sie soll am Kamin sitzen, in dem ein fröhliches Feuer prasselt, sie soll umglutet werden vom Purpurschein, sie soll ein helles Kleid tragen, umgoldet soll ihr Antlitz werden, sie soll ihre Hände, die schön und durchsichtig wie Flammen sein müssen, hinstrecken zur heimischen Feuerstätte. In Dämmerdustcr stehe ich. und lausche nach ihr. und ich lauere nach ihr. und ich blicke suchend nach ihr aus. » Die beiden folgenden Nächte vergingen in einer traurigen Starrheit. Nur der Schwärm der Totenkerzen warf etwas Scheinleben in die Dinge. In diesen beiden Tagen brachte mir mancherlei Geschäftigkeit Zerstreuung. Das war erst der Ver- zweiflung voll, dann war es trübselig. In der letzten Nacht öffnete ich das Schatzkästlein meiner Tante. Man hatte es immer das Schächtelchen genannt. Es stand auf der Kommode mitten in einem beträchtlichen Wirrwarr. Ich fand altertümliche Topasenohrringe und ein Gold- kreuz aus weit weiter Zeit, schmächtig war es und schmal. das kleine Kind oder das junge Mädchen hatten das Schmuck- stück getragen. Dann lag dort mein Kinderbild, behütet wie ein Heiligcnstück, eingewickelt in Seidcnpapier. Und endlich eine Schreibseite, die aus einem meiner alten Hefte heraus- gerissen war. Tantchen hatte sich nicht entschließen können, das Ganze fortzuwerfen. Das abgeschabte, durchsichttge und verknüllte Papierblatt war leicht wie eine Klöppelspitze, und man konnte auch glauben, daß es sehr kostbar sei. Das waren alle Schätze, die meine Tante aufgehäuft hatte. Dieses Schatzkästlein enthielt die Armut ihres Lebens und den Reich- tum ihres Herzens. Am Tage des Begräbnisses regnete eS in Strömen. Der Schwärm der Leute nahm gar kein Ende und hörte gar nicht auf das Kommen und Gehen der Weiber, deren Klage den wetten Kellerraum des TotonzimmerS erfüllte. Um 2 Uhr wurde die Leiche in den Sarg gelegt. Dann trug man den Sarg auf den Flur, auf dem die Besucher Spuren von Erde und Schmutz zurückließen. Man wartete noch auf einen Kranz, der sich verspätet hatte. Hierauf wurden die Regenschirme geöffnet und im dunklen Herdentritt machte sich das Trauer- gefolge auf den Weg. Als man die Kirche verließ, war es bald 4 Uhr. Der Regen hatte noch nicht ausgehört, und auf jeder Sette des
langsam vorwärts geschobenen Zuges rieselten kleine Bach lein zur Straße hinab. Es gab viele Blumen. Der Leichen- wagen hatte ein schönes und farbiges Aussehen. Zahlreiche Leidtragende waren gekommen. Ich blickte inich oft um. Ich sah besonders den alten Eudo, der, eingewickelt in seine schwarze Pelerine und gebückt wie ein Rabe, durch den Schmutz trippelte. Marie ging zwischen den Frauen in der zweiten Hälfte dieser M�nschenreihe, über der das leichte, rieselnde Reaenschirmdach schwankte, und die der Leichenwagen unrcgel- mäßig und stoßweise hinter sich herschleppte. Des Mädchens Schritt war wie gebrochen. Sie dachte nur an unsere Trauer. Da der Abend so häßlich war, verdüsterte sich alles noch mehr in meinen Augen. Unter den Wasserlachen ist der Friedhof ganz verschlammt. Das Menschengestampfe verursacht ein zähklebriges Geräusch. Kahl und wie gelähmt stehen die Bäume da. Verschlammt wie ein Sumpf ist der Himmel, ganz übersäet ist er von Raben. Der Sarg, der jetzt die gestaltlose Menschengestalt trägt, wird vom Wagen herunter gehoben und gesenkt in das frische Erd- reich. Die Leidtragenden wandeln vorüber. Marie und ihr Vater stellen sich neben mir auf. Ich danke einem jeden mit gleicher Eintönigkeit. Das hilflose Gebaren, das enttäuschte Gesicht, bei jedem ist es das Gleiche. Die Worte, die sie heranführen, bei jedem ist es das Gleiche. Sie wandeln vor- bei an mir und schütten vor mich aus ihre finstere Unförmig- keit. Vom Schloß ist niemand gekommen, aber sonst sind ja sehr viele Menschen da, und alles das bemüht sich um mich, ich fasse wieder Mut. Herr Luzian Gozlan kommt auf mich zu.„Lieber Herr Paulin," redet er mich an, er bringt mir das Beileid seiner Verwandten und aller Blicke sind auf uns gerichtet. Joseph Voneas sagt zu mir:„Lieber Freund.� Das rührt mich sehr. Herr Pocard meint:„Hätte man mich recht- zeitig benachrichtigt, ich würde einige Worte gesprochen haben. Schade, schade Andere stellen sich ein. Dann sieht man nur noch die Menschcnrücken, die durch den Regen, durch den Abend und den Wind wandern. „Es ist zu Ende.— Nach Hause I" Marie hebt ihr tränengebadetes Gesicht zu mir empor. Sie ist sanft, sie ist zart, sie ist unatücklich, oberste liebt mich nicht.(Forts, folgt.)