I Beilage zum„Vorwärts" Berliner VoWlatt. Zlr. 3A7. Sonnabend, den 29. September 1894. 11. Jabrg. Lulmles. Heiteres vom Pierboykott. In der Kunst, auch ernsten Dingen eine heitere Seite abzugewinnen, leisten die teutschen Antisemiten wahrhast Erstaunliches. Auch beim Bierboykott haben sie diese ihre meisterhafte Fertigkeit schon wiederholt be- wiesen. Ist ihre Komik auch stets eine unfreiwillige, so wirkt sie nichtsdestoweniger doch herzerfrischend auf das durch den Druck der Verhältnisse belastete Gemüth. Als ein Komiker dieser Art ersten Ranges und als ein gefährlicher Konkurrent des ur- komischen Bendix hat sich Herr von Mosch, der grrroße Antü semit, durch einen Artikel legitimirt, den er in dem von ihm verantwortlich redigirten Ahlwardt'schen„Bundschuh" vom Stapel gelassen hat. mit dem wir unsere Leser zu ihrer Erheiterung etwas näher bekannt machen wollen. „Roch immer", so meint Herr v. Mosch,„tobt der Bierkrieg und es ist mehr als traurig, daß die Berliner Arbeitermassen sich noch immer von ihren sogenannten„Führern" an der Nase herumführen lassen und geduldig oder gar in heller Begeisterung das nichtboykottirte Dünnbier trinken."— Ein gewiß viel- versprechender Anfang! Nun der Schmerz des Herrn v. Mosch über das Trinken von nichtboykottirtem Dünnbier ist wohl be- greiflich. Doch lassen wir Herrn v. Mosch seine uns erheiternde Traurigkeit. Die Arbeiter sind keine Freunde von Traurigkeit und lassen nach wie vor bei„Dünnbier" den Boykott hochleben. War Herr v. Mosch bisher von Wehmuth beeinflußt, so wandelt sich diese sehr bald in giftigen'Zorn und nun kommt in ihm der Antisemit zu seinem Rechte.„Die Lügen", so geiiert Herr von Mosch,„die der„Vorwärts" den Arbeitern vorsetzt, sind doch so handgreiflich, daß auch der zielbewußteste Genosse sie endlich durchschauen müßte, und der widerwärtige jüdische Ton, der die Flugblätter und Veröffentlichungen der Sozialdemokratie durchweht, ihr eingeimpft von der edlen semiti - schen Führergruppe, müßte den an sich wahr und gut angelegten deutschen Arbeiter doch endlich abstoßen."— Nun, wenn Herr v.Mosch auch nicht krummnäsig ist, so ist er doch mindestens hochnäsig. Zu wünschen wäre ihm überdies, daß er etwas fein- näsiger würde, um den dem eigenen Nest entströmenden Dust zu riechen und seine Nase dort hinein zu stecken, wo er im stände ist. etwas zu lernen, damit er nicht wieder solche Trivialitäten zu Tage fördere, wie die sind, wenn er meint:„Wenn die sozialdemokratische Führerschaft behauptet, daß sie durch de» Boykott die Großbrauereien, das Großkapital bekämpfe, so ist das eine elende, auf absichtliche Täuschung berechnete Spiegel- fechterei. Denn für die Großbrauereien, die sie hier schädigt, zieht sie andere— jene Dünnbier- Brauereien— groß. Sie schädigt also da? Großkapital nicht, sie verschiebt es nur." Und das nennt man antisemitische Weisheit! Von jedem Schulbuben kann Herr v.Mosch sich demonstriren lassen, daß auf wirthschast- lichem Gebiete des Einen Schaden des Anderen Nutzen ist, daß die Bedürsniffe wenn nicht bei diesem, so bei jenem gedeckt werden müssen und daß der Boykottirte durch den ihm zuge- fügten Schaden im Gegensatze zu dem Nutzen, den Andere haben, zu Zugeständnissen gezwungen werden soll. Aber das ist so Clownart. Mit plumper Dummheit treiben sie ihre Späße, und je plumper und dümmer. desto größer der Er» folg. Also mag es auch wohl Herrn v. Mosch bei seinen Gesinnungsgenossen gehen. Bei den Arbeitern findet er nur ein mitleidiges Lächeln. Was für ein trauriger Ritter Herr v. Mosch ist. beweist seine Eelbilcharakleristik, indem er meint:„daß die Aktien dieser nun begünstigten Brauereien zum großen Theil „zufällig" in Judenhänden und in denen sozialdemokratischer „Verwandter" sind, erklärt lür de», der sehen will, den Schwindel." Sein abgedroschenes Gejammer über den Mittel- stand, der durch die Sozialdemokratie mit Vorsatz geschädigt, ja ruinirt werden soll, schließt Herr v. Mosch mit folgender Tirade: „Der Wirtb soll frei sein, wie jeder andere Mitbürger; er soll das unbeschränkte Recht haben, seine Lokalitäten zu geben, wem er will und jeden als Gast aufzunehmen oder nicht aufzunehmen, wie ihm das für sein Geschäft passend erscheint." Ohne Frage soll keinem Wirlhe das öiecht genommen werden, „Herr im eigenen Hause zu sein", sofern ihm daran gelegen ist. Herr v. Mosch braucht nicht zu fürchten, daß die Sozialdemokraten dorthin gehen werden, wo man sie nicht haben will. Wenn Herr v. Mosch dann weiter meint, daß die lange Liste der proskri- bwlen Wirthe ic. sich als von der Sozialdemokratie abwendig gewordene Stimmen bei der nächsten Wahl verhundertfachen werden, so ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens, jedoch eine ebenso große Täuschung, wie die Hoffnung auf einen ent- sprechenden antisemitischen Stimmenzuwachs. Es erübrigt sich. auf den alten Kohl von Bierspitzeln, Terrorismus, Zukunftsstaat zc., der mit antisemitischer Brühe neu aufgewärmt als geistige Kost den Lesern des„Bundschuh" von Herrn v. Mosch aufgetischt wird, näher einzugehen. Als Kuriosität wollen wir nur noch erwähnen, daß Herr v. Mosch die komische Behauptung aufstellt, daß die„Antis" scharfe Gegner des Großkapitals sind und sowohl das jüdische, als auch das„deutsche" Großkapital bekämpfen, daß die Sozialdemokratie aber nur das„deutsche" Großkapital bekämpfe, vor den jüdischen Geldsäcken aber ehr- erbieligst Halt mache, weil sie ja im Judensolde stehe! Auch hätten die„Antis" nur des bedrängten Mittelstandes wegen gegen den Boykott Stellung genommen— und haben, so fügen wir hinzu, zur Rettung des Mittelstandes die bekannten Saufkolonnen gebildet. Nun, wir danken Herrn v. Mosch! Sein Verdienst ist, uns in ernster Zeit«in heiteres Viertelstündchen bereitet zu haben. Z»r Lokalliste. In Nixdorf schänkt der Gastwirth L. Sonntag, Prinz Handjery- und Lessingslraßen-Ecke, boykottirtes Bier. Diese Mittheilung möge besonders deshalb berücksichtigt werden, weil bei dem genannten Wirth der Holzarbeiterverband und die Tischler-Krankenkasse getagt hat. Dieselben haben das Lokal vor kurzem verlassen müssen. Tie freisinnige Majorität der Stadtverordneten-Versamm- lung kann sich gratuliren. Der Beschluß, aus der elektrischen Hochbahn zwei Wagenklaffen einzuführen, hat die begeisterte Zu- slimmung der„Kreuz-Zeitung " gefunden. Freilich, es wäre ja auch ein Unglück, wenn ein Junker, der aus einer fidelen Kneiperei heimkehrt, sich mit einem Arbeiter, der Ueberstundcn gemacht hat, Nachts um 12 Uhr in denselben Wagen setzen muß. Das wäre ja der reinste„Umsturz", den zu bekämpfen im Namen der „Ordnung. Sitte und Religion" sich Freisinn und„Kreuz-Zeitungs"- Adel brüderlich zusammenfinden. Arg verschnupft hat es im Feuerwerks-Labors- t o r i u in zu Spandau , daß wir die famose Entlassungsliste in unserer Nummer vom 2. September zu veröffentlichen in der Lage waren. Es mag oben gewiß nicht angenehm gewesen sein, daß ein sozialdemokratisches Blatt in der Lage war, über die Marimen, die in königlich preußischen Musterwerkstätten maß- gebend sind, unwiderlegliches Material zu veröffentlichen. Ein wenig wunderlich ist aber die Art, mit der die Herren im Feuer- werkslaboratorium den„Vorwärts" oder vielmehr das offizielle Aktenstück, das er der Oeffentlichkeit preisgab, im„Reichs-Anz." zu widerlegen trachten. Die ganze Entlassung-geschicht«. so wird im„Reichs-Anzeigcr" ausgeführt, sei garnicht böse gemeint ge- wesen, denn man habe— von den in der Nachweisung auf- geführten Aibeitern überhaupt keine entlassen! Man höre! Die Arbeiter sind geblieben und die im„Vor wärts" auf Grund amtlichen Materials ausgesprochene An- schauung. daß der Arbeiter im Staatsbetriebe mit derselben Rücksichtslosigkeit auf die Straße gesetzt wird, wie in dem einzig nach den Gesichtspunkten des Profits geleiteten Privatbetriebe, war nur von böswilliger Voreingenommenheit und sozial- demokratischer Hetzsucht diktirt. Die Entlaffungsliste aus dem Staatsbetriebe war höchstens eine kleine, schnell wieder gut gr machte Verirrung?? Ach nein! so liegt denn die Sache doch nicht. Der„Reichs Anzeiger" ist offenherzig genug, den Grund für die Zurücknahme der Entlassungsmaßregel anzugeben. Es hatte keine unpassende Sentimentalität die kühlen Kalkulationen gestört, sondern es waren einfach inzwischen größere Bestellungen ein- gelausen. Wir wiffen wirklich nicht, waS der„Reichs-Anzeiger" mit solcher Mittheilung von unfern Anschauungen widerlegen will. Der Umstand, daß man bei dem unvorhergesehenen Eingang größerer Aufträge die eingeschulten im Betriebe befindlichen Ar beiter vorläufig noch behält,— was bestätigt er anders, als die von uns und in der Entlassungsliste ausgesprochene Ansicht, daß die Rücksicht auf den Prosit das Maßgebende im Staatsbetriebe ist? Auch wüßten wir nicht, was die Andeutung, daß die auf die Entlaffungsliste gesetzten Arbeiter in einer Privat-Waffenfabrik hätten Unterkunst finden können, für die Zustände im Staats- betriebe eigentlich besagen soll. Es wäre besser gewesen, man befolgte den von unS vor einigen Tagen gegebenen Rath und verwendete die zu nutzlosen Widerlegungen und Untersuchungen verbrauchte Zeit zum Nach denken darüber, ob es denn nicht möglich, einmal in einem Musterbetriebe für die Arbeiter zufriedenstellende Zustände zu schaffen. „Die ca. 40 akademisch gebildete« Gemeinde- Schul lehrer," wird uns von betheiligter Seite geschrieben,„haben ihrer s. Z. veröffentlichten Petition„Erläuterungen' nachfolgen lassen, aus denen hervorgeht, daß eine Ma- gistratsvorlage beabsichtigt, die meisten der 3«- bis 40 jährigen Herren, zum großen Theile Familienväter, auf dem bescheidenen Gehalt von 1600 Marl zu lassen und nur einige auf die Stufe von 1900 M. zu bringen, die sie so wie so in kurzer Zeil erreicht hätten. Die Bittsteller heben hervor, daß sich der Magistrat mit dieser Vorlage in Widerspruch zu seinen eigenen früheren Beschlüssen setzt, sowie zu denjenigen der Stadtverordneten- Versammlung und den Bestimmungen des Herrn Ministers, wonach bei den Dienstalterszulagen allein das Dienstalter maßgebend sein soll. Ueberdies haben hervorragende Magistratsmitglieder, u. a. der Herr Bürgermeister sogar viel weitergehende Aufwendungen machen und den Akademikern für ihre gleiche Arbeit auch den gleichen Lohn wie den seminarisch gebildeten Lehrern zuweisen wollen; die Stadtverordneten haben 35 000 M. für die akademisch gebildeten Gemeindeschullehrer zur Verfügung gestellt, diese bitten aber nur um ca. 16 000 M. und boffen daher, daß ihre bescheidenen Wünsche am Tage der Berathung der Magistratsvorlage bei den Stadt- verordneten Gehör finden werden, und um so mehr, als sie selbst nach Gewährung ihrer Bitte, nach Anrechnung ihrer gefammten Dienstzeit, noch weit hinter den seminarisch gebildeten Gemeindeschullehrern z u r ü ck st e h e n. Es würden dann nämlich akademisch gebildete Familien» väter von 39—42 Jahren aus die Gehaltsstufe von SLOO M. kommen, welche die seminarisch gebildeten Lehrer bereits mit 29 Jahren erreichen." Diese widerspruchsvolle Behandlung der fraglichen Angelegen� heit erscheint dem begreiflich, der sich erinnert, daß unsere'Ge> meindeverwaltung von jeher bemüht gewesen ist. aus Kosten ihrer Angestellten, natürlich mit Ausnahme der Herren Bürgermeister, Stadlrälhe zc., möglichst zu sparen. Der Magistrat hat sich bis- her immer erst ziemlich lange nöthigen lassen, bevor er dem Ver langen schlecht bezahlter städtischer Angestellten nach einer Auf- besserung ihres Einkommens durch eine bezügliche Vorlage„ent gegenkam", die die Wünsche der Petenten oft auch nur theilweise befriedigte. Er denkt eben auch: ein zu rasches und zu vollstän- diges Entgegenkommen steigert die„Begehrlichkeit". Die Gemeinde schullehrer, die akademisch gebildeten sammt den seminaristischen, hätten sich in dem Kamvse, den sie bis jetzt mit der Gemeindeverwaltung der„Stadt der Intelligenz" um die Sicherung ihrer wirthschast- lichen Lage geführt haben, mit den städtischen Arbeitern trösten können, die von jener„Sparsamkeit" gleichfalls ein Liedchen zu singen wissen. Zum Amüsement seine? Puiliknm? bringt ein hiesige? freisinniges Blatt die Schilderung eiikeS„eigenartigen Jubiläums", das vor einigen Tagen in einer Kaffeeklappe in der Linienstraße gefeiert worden sein soll. Die Sache ist auch zu komisch.„Einer der dort Verkehrenden, alleS Leute, welche schon mehr oder weniger Gelegenheit hatten,„Jenseits von Gute und Böse" über ihr verfehltes Leben nachzudenken, beging die Feier seiner fünfzigsten Entlassung aus dem Cefängniß. Der Jubilar gehörte nämlich zur Klasse der sogenannten„Klimbim-Brüder". einer Spezies von Menschen, welche sozusagen auf das Gefängniß abonnirt haben und bestrebt sind, möglichst lange Zeit daselbst zuzubringen. Die Motive hierzu sind verschiedener Statur. Der Mehrzahl nach sind es Personen, denen es ihres hohen Alters wegen schwer fällt, Arbeit zu bekommen und nun auf„Etaatsunkosten" ihr« letzten Tage verbringen, wozu ihnen§ 361«ine willkommene Handhabe bietet." Es folgt dann eine humoristisch sein sollende Schilderung der Schliche und Wege, welche die Unglücklichen einschlagen müssen, um im Gefängniß den Hunger stillen zu können. Muß sich da nicht der Philister schon beim Morgenkaffee den Bauch vor Lachen schütteln? Aus rohen Römerzeilen wird erzählt, daß ein ehrenfester Herr seine Fische mit dem Fleisch von Sklaven gefüttert hat, die zur Arbeit zu alt geworden waren. Wie weit haben wir's jetzt gebracht, wo alte und schwache Leute, die zur Stillung des HungerS das Gefängniß aufsuchen müssen, dem Philister von freisinnigen Blättern zum Amüsement vor- geführt werden! Siehst«, mein Junge, n» hast du deine Backpfeifen weg! In einer großen, großen Stadl besteht ein kleines. ganz kleines Journal. Da dies Journälchen nicht leben und nicht sterben kann, verfiel sein höchst findiger Verleger auf allerlei Sensationen. Er wüthete in fürchterlicher mora- lischer Entrüstung gegen die schmutzigen Proletarierftiefel, die„unsere herrliche bürgerliche Kultur" niedertreten, brüllte nach Ausnahmegesetzen mit den Zeitungkulis des Königs Stumm um die Wette. Da er aber erkannte, daß auf diesem Gebiete die Konkurrenz zu groß und keine Seide damit zu spinnen sei, warf er sich kurz entschlossen auf eine Thätigkeit. die in unserer herrlichen bürgerlichen Kulturwelt fast nie versagt. Er ging unter die Dichter; das heißt, er schrieb einen Roman„Die „Eoursaal-Anna". Was Berlin an Schmutz, an Niedrigkeit birgt. was höchst ehrenwerlhe Leser in ihrer Lüsternheil und Zoten- Begier reizen kann, in ellenhasten Reklamen versprach es der Schlaue seinem Publikum zu bringen. Ein ganz merkwürdiger Rest von Schamhaftigkeit indessen bewog den höchst gestrengen Sittenrichter und Verleger, sich selbst als den Dichter der samose» Eoursaal-Anna zu nennen. Den Redakteuren war es strenge untersagt, den Namen des Verfassers zu verrathen. Aber wie es in der Welt geht, das Geheimniß blieb trotzdem nicht gewahrt. Der Verleger und Dichter wurde unmuthig vor Zorn. Er, der seinen Kulis ernste Fabrikordnungen aufzuerlegen liebte. erließ einen Ukas. Dreihundert Mark Be- l o h n u n g. hieß es darin, demjenigen, der mir den Redakteur oder Expeditionsbeamten namhaft macht, welcher das Redaktions- geheimniß preisgegeben hat. Dies Schriftstück wurde den Re- dakteuren zum unterzeichnen vorgelegt. Sie unterzeichneten, bis auf Einen, den Leitartikelschreiber, der sich der Dreistigkeit vermaß, auszurufen: Was soll mir dieser Wisch! Das kränkte das Majestäts- Bewußtsein deS Verlegers und er herrschte seinen Leitartikler, einen greisen Mann, also an: Ich verbitte mir. meine Erlässe als Wische zu bezeichnen. Der Leitartikelschreiber, der viel, sehr viel in seinem kleinen Journal erlebt, gesehen und erlitten hatte, entgegnete darauf: Ich halte es nicht für gentleman-mäßig, abhängige Re- dakteure in solcher Weife zum Spionir- und Denunziantendienst zu drängen.„Dann verlassen Sie sofort mein Lokal; entfernen Sie sich, Sie sind entlassen und haben keinen Anspruch mehr auf irgend welches Honorar." Der Leitartikler wurde darauf erregt und sagte:„Dann sind Sie ein Lump!" Den sonst nicht sehr empfindlichen Verleger kitzelte diese An- merkung seines Redakteurs und er fragte:„Haben Sie mich ge- meint! Erklären Sie sich!" Lange Erklärungen hielt der Redakteur für überflüssig und er versetzte seinem Verleger in Gegenwart von sechs Zeugen zwei schallende Ohrfeigen. Das verdroß den Guten bitterlich; er retirirte nach seinem Privat- zimmer, verriegelte die Thüre und schrie aus Leibeskräften: „Diener, werft den Kerl hinaus! Faßt an! Der Kerl ist gefährlich". Die Diener gehorchten dem Befehl« nicht und der Redakteur verließ unbehindert das Lokal.„Feiger Hund," sagte er noch, ehe er ging. Als er den Hof passirte, um nach der Hauptstraße der Großstadt zu gelangen, hörte er noch, wie der muthige Verleger durch's geöffnete Fenster Scheltworte hinter ihm ausstieß. Gelassen blieb der Redakteur stehen unt», rief seinem schwergekränkten Brotherrn noch die Worte zu z „Siehste, mein Junge! deine Backpfeifen hast du weg. Ver- dient hast du sie schon lange, du Protz!"— Das ist die Ge- schichte der kleinen Schlacht bei Leipzig . Am selben Tage noch ging der tapfere Verleger, tiefen Groll im Herzen, in die Vorstellung von Hauptmann's Webern . Seinem Groll machte er gehörig Lust. Alles begreifen, heißt alles verzeihen. Die Eröffnungsvorstellung des Zirkus Renz bot den Tausenden großer und kleiner Kinder, die all den waghalsigen Kunststücken zu Fuß und zu Pferde und der glänzenden Kostüm- pracht des Pers onals gern und freudig Bewunderung zollen, wiederum dasalle, liebeBild. DieSchaulust wurdevollauf befriedigt und wenn der Direktor auch in der ersten Vorstellung noch nicht mit den ganz aparten Dingen heransrückte, wenn der Abend nach alter Tradition ohne ein besonderes, größeres Ausstattungsstück blieb, so war doch das Publikum uicht allein mit Beifalls-, sondern auch reiche» Blumenspenden eifrig bei der Hand. Man ma» darüber denken, wie man will, der Zirkus bleibt nun einmal für weiteste Volkskreise pupulär, und unnütz wäre eS, in larmoyanten Klagen dies bedauern zu wollen. Wie soll es auch anders fein, wenn selbst viele Theaterdirektoren denken, daß, wenn der Berg nicht zu Mohamed kommt, Mohamed zum Berge kommen muß, und folgerichtig die Stätte der Melpomene zum ZirkuS um- wandeln? Da kann auch der zu ernsterem Sinnen geneigte Mensch sich die Urstätte moderner Kunstentwickelung einmal an- sehen und er wird finden, daß ihm dort durchaus nicht. das Schlechteste geboten wird. Die fleißige Mühe des) Direktors, in seiner Art Tüchtiges zu bieten, war auch am Mittwoch vom besten Erfolg gekrönt. Die Damen Frau Renz- Stark und Fräulein Wally Renz konkurrirten miteinander al? kühne Springerinnen auf Vollblutpferden, und wenn die jüngere Dame noch nicht die volle Gewandtheit zeigte, so soll ihr das als vielversprechende Debütantin gern verziehen werden. Reichen Beifall fanden«in großes Karouffel von 25 Rapphengsten. die Herr R. Renz vorführte, sowie ein von sechs Paaren in ver»! schwenderisch- prächtigen Kostümen aufgeführter Bolero. In „ikarischen Spielen" leistete die Bonhajr-Truppe Erstaunliches im« als kühner Jockeyreiter bewies Herr Wassiliams wieder seine altbewährte Geschicklichkeit. In den komischen Vorführungen konkurrirlen Herr Lavater-Lee und ein Esel mit einander— wem die Palme gebührt, daS mögen Kundigere, als wir, entscheide»! Gelinden Tadel verdiente es, daß die Reihenfolge der Vor- führungen zuweilen nicht so recht klappen wollte. Der Schwung wird aber bald wiederkehren. Die zweite Vorstellung bei Renz, welche wiederum daS mächtige Haus in allen Rängen gefüllt hatte, brachte das große Schaustück:„Auf, auf zur fröhlichen Jagd!", dessen glanzvoller Ausstattungsapparat tu dieser Saison durch Einfügung neuer und prachtstrotzender Gefährte in den Korso, durch Einreihung neuer kostbarer Pferde in die Jagd- und Cascadenrennen und durch neuen Kostümreichthum noch wesentlich verschönt worden ist. Ganz besonders anregend auf die Zuschauermassen wirkten wieder die Eascadenrennen, in denen Reiter und Reiterinnen ihre vollendete Gewandtheit und Sicherheit, sowie das neu zur Verwendung gelangte Pferdematerial seine außerordentliche Leistungsfähigkeit bewundern ließen. Ebenso stattlich nahm sich das stark besetzte rothe Feld aus, in welchem namentlich einige von früher noch nicht bekannt« jugendlich anmuthige Reiterinnen die Aufmerksamkeil erregten. Nach dem Brückeurennen mußte Direktor Renz, dem allseitig ausbrechenden Beifallssturme folgend, in der Arena erscheinen. Am kommenden Sonntage findet die erste Nachmittags- Vorstellung statt. zu welcher jeder Erwachsene freies Entre« für ein Kind erhält. Die Urania wird den im vergangenen Winter durch die thatkräftige Unterstützung einiger Freunde ermöglichten und mit so vielem Beifall aufgenommenen Zyklus von Vorträgen hervor- ragender Gelehrten in der kommenden Saison erneuern, jedoch, um vielfach geäußerten Wünschen entgegenzukommen� nicht in dem für viele Interessenten zu weit entfernt gelegenen Urania-' Gebäude in Moabit selbst, sondern in dem großen Saale Dorotheenstraße Nr. 27(Loge Royal Jork), der der Gesellschaft für diesen Zweck bereitwilligst überlassen worden ist. Auch sollen Zie Vorträge nicht wieder zu der unbequemen Zeit von 6 Uhr Abends, wie im vergangenen Jahre, sondern zur gewöhnlichen Theaterzeit beginnen. Eine stattliche Anzahl von Gelehrten ersten Ranges haben sich auch diesmal wieder bereit erklärt, an dem Unternehmen mitzuwirken, so daß ein Programm des Zyklus in. nächster Zeit bekannt gegeben werden kann. Die Anzahl der Vorträge wird voraussichtlich wieder aus zehn festgesetzt und das Abonnement nächstens eröffnet werden. Ein neues Projekt zur Anlage von elektrischen Unter- grund-Bahnen ist dem hiesigen Magistrat von einem Herrn H. Grauet unterbreitet worden; es weicht insofern wesentlich von den bereits bekannten Projekten ab, als dabei das System der Rutschbahnen zur Anwendung gebracht werden soll. Das Geleise soll aus einer horizontalen und zwei an deren Enden aufsteigenden Geleisestrecken bestehen. Durch Hinzuführung motorifcher Kraft soll die Geschwindigkeit des Wagens stets auf
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