I ö st- Mainz: So lange ich in der Partei stehe, haben wir die Taktik so oft wechseln sehen, wie das Wetter im April. Wenn nach Bebel die Annahme des Finanzgesetzes bereits eine Stärkung des Klafsenstaates bedeutet, so werde ich Ihnen nach- rveisen, daß auch Bebel die Prinzipalität, den Kapitalismus, die Hamburger Spiritushändler unterstützt hat, und neben den Bayern gehört auch mancher von Ihnen auf die Anklagebank. Wenn man die Annahme des Finanzgesetzes bereits bekämpft, so muß man mit viel mehr Recht die Leistung des Verfassungseides be- kämpfen. Gegen die Resolution Bebel sprechen aber auch Ver- fassungsbedenken, denn in de» meisten Landlagen dürfen die Ab- geordneten kein gebundenes Mandat übernehmen. Bei einer Abstimmung im hessischen Landtage hätte unsere Ablehnung des Finanzgesetzes eine Erhöhung der Steuerlast für das arbeitende Volk zur Folge gehabt, weil unsere Ablehnung, bei der aus- schlaggebeuden Stellung unserer Fraktion, eine neue Abstimmung durch beide Kammern und damit die Annahme der konservativen Budgetvorschläge zur Folge gehabt hätte. In anderen Fällen haben wir ebenso gegen das Finanzgesetz gestimmt. So lange wir aber nicht dem Mißtrauen unserer Wähler begegnen, müssen wir unser Verhalten bei der Abstimmung über den Gesammt-Etat von reinen Zweckmäßigkeitsgründen leiten lassen. Wenn Kollmar und Grillenberger auf die Anklagebank ge- hören, so gehört Bebel und die ganze Reichstagsfraklion gleichfalls auf die Anklagebank, denn ihr Verhalten zu den Stich- wählen hat ebenfalls den Bestimmungen des St. Gallcner Kon- gresses widersprochen. Die Wähler lassen sich nicht dirigiren, aber wenn wir bei der Wahl uns von Zweckmäßigkeitsgründen leiten lassen müssen, so müssen wir bei Ludgctsragen ebenfalls das kleinere Uebel wählen. Wenn nach Bebel's Resolution die Etatsbewilligung als ein Programmverstoß aufgefaßt wird, dann weg mit dem Verfassungseid. dann aber überhaupt heraus aus der Kammer. Begeben wir uns aber auf diese Bahn, dann dürfen Sie auch nicht vor der Gemeindcrathsthür Halt machen. In einzelnen Theilen des Reiches ist die Polizei Gemeindesache, wir müßten also gegen das Gemeindebudget stimmen. Und doch haben wir es in Mainz durch unsere Zu» stimmung durchgedrückt, daß das Schulgeld aufgehoben wurde. Hören Sie aber doch endlich mit der Ketzerriecherei auf. Wir Alle haben uns ja weiter entwickelt, vielleicht in verschiedener Richtung da und dort, auch Bebel hat sich geändert(V o l l m a r: Mauserung!) und doch haben wir uns immer wieder auf einem gemeinsamen Punkte zusammengetroffen. Ueben sie keinen Zwang aus, wir stehen sonst als dumme Jungen da, die bisher nicht gewußt haben, was sie wollen.(Glocke des Präsidenten.) Ich will das Gewiffen des Präsidenten nicht zu sehr belasten und bin gleich am Ende.(Heilerkeit.) Ich lasse mich nicht binden, immer das kleinere Uebel zu wähl«-.'. Ich thue für meine Wähler das Beste. Lehnen Sie deshalb den ganz überflüssigen Antrag Bebel ab. Das Amendement Stadthagen ist zurückgezogen; dagegen ist folgendes Amendement eingegangen: die Worte:„da die Be- willigung des Gesammtbudgets als Vertrauensvotum gilt" zu er- setzen durch:„so weit die Bewilligung des Gesammtbudgets eine Anerkennung der Berechtigung des bestehenden Klaffenstaates oder ein Vertrauensvotum für die Regierung enthält". Die De- batte wird auf Antrag Schmidt- München geschloffen. Persönlich bemerkt Timm: Die Berliner stellen Anträge nach ihrer besten Ueberzeugung. Die Bezeichnung„Anträge- fabrik Timm u. Ko. könnte er mit derselben Berechtigung zurückgeben und von einer„Vertrauensvotum- Fabrik Grillen- berger, Vollmar u. Ko." sprechen. Bebel: Meine Bezeichnung„Bauernfang" ist nur die konsequente Schlußfolgerung der Worte Vollmar's, daß sich die Bayern nicht aus Rücksicht auf die Genossen, sondern auf die indifferenten Bauern bei der Abstimmung leiten ließen. Wenn von einer Seite Vorwürfe über die Erschwerung der Agitation gemacht werden können, so treffen diese nicht mich, da ich blos eine Konsequenz gezogen, sondern sie treffen Vollmar, der die Grundlage für meine Schlußfolgerung geschaffen hat. Vollmar: Das sind ja Witzchen. Nach persönlichen Bemerkungen Joe st's, Stadt- bogen's, Lütgenau's bemerkt persönlich Vollmar: Wollte ich aus alle unrichtigen und zusammenhanglosen Be- hauptungen eingehen, so würde mich der„Großglockner da oben" (Heiterkeit) bald unterbrechen. Ich muß mich also auf ein paar Einzelheiten beschränken. Kein Mensch kennt Grillenberger besser wie Auer, er hätte deshalb die im Zorn herausgestoßenen Worte Grillenberger's nach ihrem inneren Sinne würdigen müssen. Grillenberger und mir ist der Vorwurf gemacht worden, wir wollten uns im Falle der Annahme von Bebel's An- trag„widersetzen"; davon ist gar keine Rede. Aber selbst wenn wir es thäten, so wäre das nur dasselbe was Bebel in Erfurt androhte, indem er sagte:„Wird Vollmar Recht gegeben, dann wähle» Sie ihn in den Vorstand, aber ich gehe hinaus in das Land, um die Fahne der Rebellion zu erheben." Kein Unglück- licheres Wort ist aus dem Parteitage gefallen, als Bebel's Wort vom„Bauernfange". Und Bebel hat auch keinen Anlaß zu dieser Schlußfolgerung gehabt, denn ich habe gesagt:„Wir wollen unsere Politik so einrichten, daß unsere Bauern uns ver- stehen und wir ihnen überhaupt näher zu kommen vermögen." Auer hat es merkwürdiger Weise gefallen, den ganzen Fall aus mich persönlich zuzuspitzen. Darin liegt eine Beleidigung gegen alle übrigen bayerische» Landtagsabgeordneten, ganz abgesehen davon,daß ich für höchst bedauerlich Halle, den alten Spahn gegen mich wieder auszugraben. Gegen Auer's Vorwurf, den er trotz wiederholter Zwischenrufe ausrecht erhallen:„ich habe mich als auf der rechten Seite stehend bezeichnet," bemerke ich, daß meine Worte waren:„Von dem Taktikstreit ist gesagt worden, er werde nach links und rechts geführt. Das„rechts" soll nämlich ich sein." Ich verwahre mich dagegen, mehr rechts zu stehen, als irgend einer in der Partei, durch unsere Thätigkeit haben wir bewiesen, daß wir vielleicht mehr links stehen als mancher andere. Auer: Wenn meine Ausführungen sich gegen Vollmar per- sönlich zuspitzten, so geschah daö nothwendig deshalb, weil ich gegen seine Darstellung polemisiren mußte. Es ist mir nicht eingefallen, die Bayern als„unverständige Bande" bin zustellen. Ich sagte vielmehr, daß ich es für Unverständlich halte, wie sie das Finanzgesetz annehmen konnten. Ueber Grillenberger sagte ich, ich kenne ihn besser als er sich selbst kennt, und er wird bald selbst zur Ueberzeugung kommen, daß wir recht haben; aber er stellt sich bockbeinig hin und sagt: jetzt geschiehts grab extra!(Heiterkeit.) Bebel stellt fest, daß er seine von Vollmar angezogenen Worte bezüglich der Gesammthallung der Partei ausgesprochen habe. Es handelte sich nicht um einen einzelne» bestimmten Fall, sondern um die Gesammltaktik, um die ganze praktische Thätigkeit der Partei und was ich damals gesprochen, würde ich heut wiederholen. Meinem Gewiffen würde es widerstreiten eine Taktik anzuerkennen, die für die ganze Partei verderblich wäre. Ter Fall, den wir heute zu behandeln habe», liegt aber ganz anders. Grillenberger: Wir haben nicht gesagt, daß wir uns nicht fügen wollen, �»dern aus materiellen Gründen nicht fügen können. Der Antrag Bebel ist ein Schlag ins Wasser, und davor wollte ich Sie warnen. Bei der daraus folgenden namentlichen Abstimmung wird der Antrag 113(Vollmar und Genossen) mit 141 gegen 93 Stimmen abgelehnt. Das Amendement Stadt- Hagen zum Autrage 114(Bebel und Genossen) mit 131 gegen 103 Stimmen a n g e n o m u e n. Der ganze Antrag Bebel mit dem Amendement Stadthagen sodann mit 164 gegen 64 Stimmen abgelehnt. Da die Anträge 73 und 76 zurückgezogen sind, 102 durch die Abstimmung erledigt ist, so ist damit dieser Punkt der Tages- ordnnng erledigt. Schluß der Vormittagssttzung l3/« Uhr Nachmittags. (Fortsetznng in der 1. Beilage.) Volikisthe Tleberltcktk. Berlin , den 25. Oktober. Ein neues Sozialistengesetz dürfte dieselben Folgen, aber in noch erhöhtem Maßstabe mit sich führen, wie das alte. Kaum war dieses ins Leben getreten und die Sozial- demokratie von der Oberfläche verdrängt und unmittelbar im Anschluß daran der große Aderlaß von 300 Millionen am Volke vollzogen, als auch der Kamps unter den bürger- lichen Parteien eine solche Feindseligkeit und Gehässigkeit annahm, daß es wahrlich keiner sozialdemokratischen Aus- reizung bedurfte, uin dem Volke die Augen zu öffnen. Man werfe nur einen Rückblick auf die Heitungen von 1379 und 1880. Großindustrielle und Agrarier, Eisenfabrikanten und Grubenbesitzer, Hunker und Hohe Finanz überboten sich in wüthendsten Schimpfreden, die alle darauf hinausgingen, einander den Vorwurf zu machen, die gemeingefährlichsten Ausbeuter des Polkswohls zu sein. Die Sozialdemokratie brauchte zu. allem diesem nur Ja und Amen zu sagen,"sttm in den von den Gegnern er- hobenen Vorwürfen gegen einander das Gesammtresnltat dessen zu finden, was sie der bürgerlichen Gesellschaft über- Haupt zur Last legen konnte. Diesmal würde der Kampf in noch größerer Wuth entbrennen; die kirchlichen und antisemitischen Prätentionen würden den Kampfplatz noch mehr erweitern; zu dem Kampf der Bourgeoisparteicn würde auch noch der Kleinbürger und Bauer, soweit er der antisemitischen Agitation Folge leistet, hinzugezogen werden und die klerikalen Bestrebungen dürften auch nicht in den Hintergrund treten. Und in diesem Tohuwabohu würde die Sozialdemokratie mit ihren Millionen Arbeitern, auch wenn ihr die öffentliche Arena entzogen würde, leichtes Spiel haben, in dem von den Gegnern aufgewühlten Boden Wurzel zu sasien. Ein neues Sozialistengesetz wäre schon etwas mehr als der Anfang vom Ende der bürgerlichen Gesellschaft!— Graf Botho Eulenburg, der preußische Minister- Präsident, soll in dem Wcttkampf mit dem Grafen Caprivi um die besten Pläne zur Bekämpfung des Umsturzes völlig unterlegen sein. Das„Tageblatt" versichert, er stehe völlig isolirt mit seiner Forderung straffster Ausnahmegesetze, auch im Bundesrath werde er auf Abweisung stoßen.„Speziell die bayerische Regierung weist", wie das Blatt aus aller- bester Quelle wissen will,„jeden Gedanken an eine Wieder- holung der Ausnahmegesetzgebung zurück. Sie ist weiter der Meinung, daß Gras Caprivi die Geschäfte mit so viel Ge- schick und weitem Blick führt, daß er für die Weiter- entwickelung ganz unentbehrlich ist. Die bayerische Regierung hält auch jede Aenderung des Vereinsgesetzes für unnöthig, soweit das bayerische Gesetz in Frage kommt; einer Regelung der Frage von Reichs wegen dürfte sie nicht beipflichten. Den Abänderungen �es Strafgesetzbuches, Er- Weiterung des§ 130, steht sie mindestens skeptisch gegen- über."t Daß die bayerische Regierung glaubt, mit ihrem eigenen reaktionären Vereinsgesetz völlig auskommen zu können, ist nicht erstannlich. Hat sie doch soeben erst durch die Auf- lösung der Münchener Verwaltungsstelle des deutschen Metallarbeiter- Verbandes gezeigt, was sie sich heute schon gestatten kann. Was die um Caprivi nun eigentlich planen, ist ans dem Wust der offiziellen, offiziösen und halboffiziösen lang- athmigen Artikel noch immer nicht ersichtlich. Ein an den Haaren herbeigezogener Artikel der„Nordd. Allg. Ztg." gegen den„Sozialist" läßt vermuthen, daß irgend etwas gegen die Presse geplant wird. Mit sonderbarer Polizei- logik wird da nämlich gefolgert, daß die häufige Verurthei- lung der Redakteure des„Sozialist"„auf organische Fehler unserer Preßgesctzgebung" zurückzuführen sei. Wir meinen allerdings auch, daß unsere Preßgesctzgebung durch und durch verpfuscht ist, da ja die Presse völlig vogelfrei gegen obrigkeitliche Verfolgungen ist. Die Polizeigenies der „Nordd. Allg. Ztg." denken aber natürlich au noch weitere Verschärfungen.— Leipzig marschirt an der Spitze der Reaktion. Die Stadlverordneten nahmen in ihrer Mittwoch- Sitzung das D r e i k l a s s e n- W a h l s y st e m beiden Stadtverordneten- Wahlen an. Erleichtert wird das Philisterthum der Pleiße- stadt aufathmen. Es glaubt jetzt sicher zu sein vor den bösen Sozialdemokraten, sicher wie der Vogel Strauß, als er beim Anblick des Jägers seinen Kops in den Saud ge- steckt hatte.— Das deutsche Antisksaverei-Komitee für Afrika hat sich aufgelöst. Seine Aufgabe, die Sklaverei der Araber zu bekämpfen, hat es nicht zu erfüllen verstanden, und dem Sklavereibetrieb der Leist und Konsorten ernstlich encgegen- zutreten, haben die Kolonialschivärmer augenscheinlich nicht den Muth.— Schadet dem Patrioten ein Duell? Der durch sein „politisches" Duell mit dem freisinnigen Amtsrichter Mantey in weiteren Kreisen bekannt gewordene hochkonservative Rechtsanwalt Schimmelfennig in Heinrichswalde bei Tilsit, welchem seiner Zeit die Strafe im Gnadenwege erlassen wurde, ist der Regierung in Köslin in Pommern zur kom- missarischen Beschäftigung überwiesen worden. Dieser bei Rechtsanwälten selten eintretende Fall verdient um so mehr bemerkt zu werden, als unmittelbar nach der Strafbefreiung des Rechtsanwalts die, wie dem„Berliner Tageblatt" ver- sichert wird, auf sicheren Grundlagen beruhende Nachricht von seiner Ernennung zum Regierungsrath durch die Zeitungen ging, damals aber als eine vollständig aus der Luft gegriffene Erfindung dementirt wurde. Von der kom- missarischen bis zur ständigen Beschäftigung ist nur ein sehr kleiner Schritt. Der an sich unbedeutende Vorgang ist für unsere öffentlichen Zustände recht bezeichnend.— Das Nekrntenkontingent muß in Oesterreich , wo man die deutschen Septennate nicht kennt, alljährlich be- willigt werden. Wie aus Wien gemeldet wird, bewilligte der Wehransschuß des Abgeordnetenhauses mit allen Stimmen gegen die der Jungczechen das Rekrutenkontingent für 1895. Die Jungczechen erklärten sich gegen die Bewilligung aus den bereits in der Delegation angeführten politischen, wirth- schaftlichen und finanziellen Gründen, doch solle dies keine Feindschaft gegen die Armee bedeuten.— Zur Sprachenfrage in Jstrie«. Aus Wien wird telegraphirt: Am Schlüsse der heutigen Sitzung des Abgeordnetenhauses wurden zwei Interpellationen eingebracht darüber, ob die von den Zeitungen gebrachten Nachrichten über die Vorgänge in Caps d'Jstria und Pirano wahr'■•*», ob es namentlich wahr fei, daß der Podesta in Pirano den Demonstranten namens des Regierungskommiffars versicherte, daß die Bezirksgerichte wieder amtliche Tafeln mit nur italienischer Aufschrist anbringen lassen würden, ferner ob die Regierung entschlossen sei, durch energische Maßnahmen die von der aufgereizten italienischen Volksmenge in einzelnen Städten Jstriens bedrohten Kroaten, Slovenen und konzilianten Italiener zu schützen und ob die Regierung das ihre Autorität schädigende schwächliche Verhalten der Behörden von Pirano billige.— Koloniale Eifersüchteleien zwischen Frankreich und England. Aus London wird gemeldet: Wie„Standard" schreibt, werde, falls Frankreich Mada- gaskar definitiv besetzen sollte, England bestimmt Kompensationen fordern. Die frühere Frage des europäischen Gleichgewichts ist heute eine Frage des Gleichgewichts auf der ganzen Welt. Aus Paris wird über die madagassische Frage das Folgende berichtet: Einer Meldung der„Autorits" zufolge wird heute Abend oder morgen eine Depesche des französischen Spezialgesandten Le Myre de Villers mit der Erklärung erwartet, daß der Ver- such, mit der Königin von Madagasiar auf gütlichem Wege zu verhandeln, aussichtslos sei.—„Matin" versichert dagegen, die Howasregierung werde den Franzosen auf den Rath Englands hin Zugeständnisse machen, welche eine kriegerische Lösung der Streitfrage ausschließen dürften. Außerdem liegt die folgende Depesche aus Paris vor: Wie„Siecke" meldet, wurde die Depesche des fran- zösischen Spezialgesandten in Madagaskar , Le Myre de Villers, nur dem Präsidenten Casimir Perier und dem Ministerpräsidenten Dupuy mitgetheilt. Die Antwort soll sofort an Villers ab- gesandt worden sein.—„Figaro" schreibt, wenn das Telegramm eine friedliche Lösung erwarten ließe, hätte man es sicher sofort in die Oeffentlichkeit gebracht.{—„Gaulois" meint, die Regierung werde auf Grund der seit zwei Tagen gewechselten Telegramme heute oder morgen definitive Beschlüsse fassen. Den belgischen Parlamentswahlen werden dem- nächst die Wahlen für die Provinzialräthe folgen. Die Brüsseler Partei-Organisationen haben für diese Wahlen folgendes Programm aufgestellt: 1. Allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht. 2. Proportional-Wahlverfahren. 3. Einführung des Referendums. 4. Ununterbrochene Tagung der Provinzialräthe. 3. Progressive Einkommensteuer. 6. Festsetzung der Mindestlöhne. 7. Normal-Arbeitstag. 8. Gleichberechtigung für beide Landessprachen. 9. Volle Koalitions- und Diskufsionsfreiheit. 10. Obligatorische Arbeiterversicherung. II. Obligatorische und kostenfreie Schule. 12. Unterstiitzung der armen Schulkinder. 13. Unterstützung der Gemeinden durch die Provinzen, zum Zwecke der Ernährung, Bekleidung und Versorgung mit Schul- büchern für die Kinder der Armen. 14. Unterstützung der Fach- und Fortbildungsschulen. 13. Unterstützung des Genossenschaftswesens durch die Pro- vinzialräthe. 16. Sofortige Abschaffung der Lizenzgebühren und Aufhebung der Getränke- und Tabaksteuern. 17. Verbesserung der Wege. 18. Sofortige Inangriffnahme der Hafenbau-Anlagen. 19. Verbesserung und Vermehrung der Provinzialstraßen. Die einzige Doppelwahl in Belgien . Unser Ge- nosse Leon Defuisseaux ist in Lüttich und Möns gewäbl� worden. Da er für Möns angenommen hat, ist in Lüttich eine Nachwahl erforderlich. Frauenstimmrecht in Belgien . Ein Theil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, äußert sich jetzt in der belgischen Regierung. Diese will zur Sicherung ihrer Herrschast und zum Zwecke der Ver- Minderung der sozialistischen Mandate den Frauen das Stimmrecht gewähren, in der Erwartung, daß die Frauen unter dem Einflüsse der Priester stets in überwiegender Mehrzahl für die klerikalen Kandidaten stimmen werden. Die„Jndep. Belge" meldet, daß im Lause sder kommenden Session mehrere Anträge in der Kammer gestellt, werden sollen, welche die Verleihung gewisser politischer Rechte an die Frauen betreffen. Die Sozialisten werden die Vorlage befürworten. Die Ultramontanen für die politischen Rechte der Frauen eintreten zu sehen, ist ein Schauspiel, wie es selten vergönnt ist zu schauen. Man ersieht aber hieraus, wie die bürgerlichen Parteien lediglich aus Gründen des momentanen VortheilS handeln. Unseren belgischen Parteigenossen dürfte ja diese Erweiterung des Wahlrechtes für den Augenblick einen Verlust einiger Mandate einbringen. Wer aber zuletzt lacht, lacht am besten, und das werden auch in diesem Falle wir sein.— Die Abhängigkeit der ultramontanen Abgeord- neten, die so oft geleugnet ivird, wird durch ein Haupt- organ der deutschen Zentrnmspartei, durch die„Kölnische Volks-Zeitung" bestätigt. Man schreibt derselben ans Brüssel : Nach Meldungen liberaler Blätter sollte Abbe Daens, welcher in Alost Woeste gegenüber steht, von seinem Bischof a divinis snspendirt worden sein. Der Sachverhalt wird klar aus folgen- dem, vom„Courrier de Bruxelles", einem Gegner des Abbe ver- öffentlichten bischöflichen Schreiben: Wir erfahren mit Schmerz, daß Sie das pricsterliche Gewand in unziemlichen und lärmenden Versammlungen immer mehr blosstellen. Das Aergerniß, welches Sie dadurch geben, zwingt uns, Ihnen fernerhin das Lesen der h. Messe in einer Kirche oder in einem öffentlichen Oratorium zu untersagen. Ueberdies werden wir, wenn Sie Ihre Unbe- sonnenheit fortsetzen, gezwungen sein, Ihnen das Lesen der h. Meffe (überhaupt) zu untersagen.— Sozialreform ist ohne die Sozialdemokratie, als drängenden Machtfaktor unmöglich. Dies Zngeständniß Bismarck's an unsere Reichstags- Fraktion gilt auch für Belgien . Selbst hinter Rußland blieb Belgien bis ganz vor kurzem in seiner sozialpolitischen Gesetzgebung zurück. Jetzt, wo dic� Sozialdemokratie als zweitstärkster Faktor auf der politischen Bühne erscheint, werden mit Danipf die sozialpolitischen Gesetzesvorlagen ausgearbeitet. Eine Depesche aus Brüssel meldet hierüber: Die„Jndependence Belge" verzeichnet ein Gerücht, wonach die königliche Botschaft, welche Ministerpräsident de Burlet bei Eröffnung der Kammer verlesen wird, folgende soziale Gesetz- entwürfe verkündigen werde: Gesetz der Errichtung von Pensions- kassen für Arbeiter; Gesetz betreffend den Maximal- arbeitstag für Kohlen- und Steingruben- Arbeiter von acht Stunden und serner das Gesetz über die Einführung der obligatorischen Sonntags- ruhe in Staats- undEisenbahn-Verwaltung'cn. Und da wagen unsere Gegner den indifferenten Ar- beitern noch einzureden, daß die Sozialdemokratie der Ar- beiterklasse nur Versprechungen für die Zukunft aber keinen Vortheil in der Gegenwart bietet. �
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