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Nr. 256.
Erscheint täglich außer Montags. Preis pränumerando: Vierteljährlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 Mt., wöchentlich 28 Pfg. frei in's Haus. Einzelne Nummer 6 Pfg. Sonntags: Nummer mit illuftr. Sonntags- Beilage ,, Neue Welt" 10 Pfg. Post- Abonnement: 8,30mt. pro Quartal. Unter Kreuz band : Deutschland u. Desterreich Ungarn 2 Mt., für das übrige Ausland 3 Mt.pr.Monat. Eingetr. in der Post Zeitungs- Preisliste für 1894 unter Nr. 6919.
11:50 911: Jahrg.
Vorwürts
Insertions- Gebühr beträgt für die fünfgespaltene Petitzetle oder deren Naum 40 Pfg., für Vereins- und Bersammlungs- Anzeigen 20 Pig. Inserate für die nächste Nummer müssen bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition abgegeben werden. Die Expedition ist an Wochentagen bis 7 Uhr Abends, an Sonne und gefttagen bis 9 Uhr Vormittags geöffnet.
Fernsprecher: Amrt 1, r. 1508. Telegramut- Adresse: Sozialdemokrat Berlin Berliner
Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.
Freitag, den 2. November 1894.
Expedition: SW. 19, 33euth- Straße 3.
Arbeiter! Parteigenossen! Trinkt kein boykottirtes Bier!
Au die Parteigenossen!
Nachdem der Parteitag in Frankfurt a. M. die Unterzeichneten mit der Leitung der Parteigeschäfte für das nächste Jahr betraut hat, fand im Anschlusse an diese Wahl sofort die Konstituirung der Parteileitung, entsprechend den Bestimmungen des§ 13 Abs. III unferes Organisations- Statuts statt.
In dieser Sigung wurden folgende Beschlüsse gefaßt: Die Adresse des Parteibureaus ist wie bisher
J. Auer, Berlin SW., Raybachstr. 9. Sämmtliche für den Parteivorstand bestimmte Briefe und Zusendungen sind nur an die vorstehende Adresse zu richten. Alle Geldsendungen dagegen sind nur an den Parteikassirer Albin Gerisch, Berlin SW., Rabbach str. 9, zu adreffiren.
Beschwerden über den Partei- Borstand oder dessen Geschäftsführung find an Heinrich Meister, Hannover , Pferdeft r. 9 einzusenden.
Nach den Bestimmungen des§ 4 des Organisationsstatuts hat die Neuwahl der Vertrauenspersonen alljährlich im Anschlusse an den Parteitag stattzufinden. Wir richten deshalb an die Parteigenossen die Aufforderung, diese Wahlen vorzunehmen und die Adressen der gewählten Vertrauenspersonen umgehend an das Parteibureau
einzusenden.
Für die Parteileitung: August Bebel . Paul Singer , Vorsitzende. J. Auer, W. Pfannkuch , Schriftführer. Albin Gerisch, Kassirer.
Der Tod des Baren. Der längst erwartete Tod des Zaren Alexander's III. ist am 1. November Vormittags in Livadia in der Krim eingetreten. Seit dem 13. März 1881 hat er auf dem Thron des russischen Reiches gesessen, der für ihn frei wurde, als sein Vater dem Dynamitattentat zum Opfer
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fiel. Hatten unter Alexander II. die regierenden Bureau-| gegen obrigkeitliche Bedrückung zu vertheidigen wagte. Alle traten das russische Volk mit Ruthen gezüchtigt, so haben die offenkundigen Thatsachen hindern aber die deutschen die Regierungsmänner zur Zeit Alexander's III., die Bobe- Unterthanengemüther aller Konfessionen nicht, ihrem Bydonoszew und Genossen, es mit Skorpionen gepeitscht. Eine zantinismus einen süßlichen Ausdruck zu verleihen, weil den finstere, bleierue, grausame und feige Gewaltherrschaft übten Zaren Alexander III. das allgemeine Menschenloos ereilt, fie aus, die sich gegen Alles kehrte, was in den Verdacht einer daß er sterben muß. Als ob nicht für diese Lage schon der selbständigen und freien Regung gerieth. Wer danach alte Homer den ewig mustergiltigen Ausdruck gefunden und strebte, dem Volke politische Freiheit, das Recht der Antheil- dem Achilles in den Mund gelegt hat: nahme an der Berathung und Verwaltung seiner eigenen ,, Wohl denn Lieber, so stirb denn auch Du! Was Angelegenheiten zu verschaffen; wer dem bedrückten Bauern, jammerst so sehr Du? Auch Patrokles ist gestorben wer dem Arbeiter aus seiner Noth emporhelfen wollte; und war ein besserer Mann als Du!" wer für Bildung und Besiz wirkte sie alle waren„ ver- Wie mancher weit bessere Mann ist nicht mit der Zu dächtig", sie alle fielen als Unruhstifter dem auf Ver- stimmung Alexanders III. von dessen Schergen zu Tode ges bannung, Kerker und Tod lautenden Urtheil der Gerichte, martert worden! oder wenn man ihnen nichts nachweisen konnte, der Ueber die Persönlichkeit Alexander III. haben wir uns „ administrativen" Verschickung nach Sibirien anheim. vor einigen Tagen ausgesprochen. Will man für ihn milTausende sind diesen Weg gegangen, Tausende der dernde Umstände geltend machen wegen der Schandthaten, besten Männer und Frauen Rußlands büßen noch die von seiner Regierung verbrochen worden, so kann man jetzt in den Bergwerken, in den Eiswüsten Sibiriens mur auf Charakterschwäche und durch beständige dafür, daß sie nicht stumm und und kalt, nur auf Angst erzeugte theilweise Unzurechnungsfähigkeit pläihren eigenen Vortheil bedacht, an den Leiden ihres diren. Um so ungeheuerlicher ist es, daß ein Boltes vorübergehen konnten; Tausende fiechen dahin, sofern so beschaffenes menschliches Wesen 13 Jahre lang auf das nicht der Tod die Verfolgungen des unumschränkten Baren Wohl und Wehe von Hundert Millionen Menschen einen und seiner Tschinownits abgekürzt hat. entscheidenden Einfluß ausüben konnte. Und nicht allein Es gehört die ganze Verkommenheit der europäischen in seinem eigenen Lande, auch in fremden Staaten wurde War es Bourgeoisie, die ganze Unterthanendemuth der Machtaubeter mit seiner Zustimmung Unheil angerichtet. dazu, wenn jetzt angesichts dieser schmachvollen Zustände in doch diesem geistig beschränkten, aber vom GroßmachtsRußland die Blätter, auch solche liberaler Färbung, dem gefühl durchtränkten Selbstherrscher vorbehalten, gegen einen Baren auf sein em Sterbebette verherrlichende Artikel widmen. benachbarten Better von Gottes Guaden" einen Anschlag Nirgends aber erscheint diese Verkommenheit jämmerlicher, in Szene sehen zu lassen, der in der Geschichte nur ein diese Unterthanendemuth hündischer, als in den deutschen Seitenstück hat: des mittelalterlichen Raubritters Kunz von Zeitungen. Denn die nämliche feige Quäleret, mit der das Kaufungen Prinzenraub. Barenregiment die liberale und sozialistische Gesinnung ver- Wie eine bittere Satire auf das angestammte Unter folgte, verhängte es, wie über die Polen , weil sie Polnisch , thanenvertrauen liest es sich, daß auch diesem Alexander Ill. auch über die Deutschen der Ostsee Provinzen, in seiner Thronfolgerzeit die Hoffnungen des russischen weil sie Deutsch sprechen. Und wie die Nationalität, gab Volkes auf den„ Kronprinzenliberalismus" begleiteten. Diese der Glaube der russischen Unterthanen dem Zarenregiment Unterthanenempfindung ist so unausrottbar, daß sie auch Anlaß zu den härtesten Verfolgungen. Alle Nicht- Orthodoxen, jetzt wieder Alexander's Sohne Nikolas, der als zweiter mochten sie Katholiken, Protestanten oder Juden sein, dieses Namens den russischen Thron besteigt, umschmeichelt. wurden als Unterthanen zweiter Klasse behandelt. Die Zwar daß ein Gefühl der Erleichterung bei dem Throns Judenverfolgungen wurden von dem Beamtenthum förmlich wechsel alle Bedrückten in Rußland erfaßt, ist nur natürgezüchtet, und mancher katholische polnische Priester und lich, denn schlimmer als bisher kann es im Zarenreiche deutsche protestantische Prediger hat in die Verbannung nicht mehr werden. nach Sibirien gehen müssen, weil er seine Glaubensgenossen
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Jch preßte Sylvia ein letztes Mal an meine Brust. Sie konnte fein Wort reden und besinnungslos trug man 28 sie hinaus.
Ich kann nichts mehr für Sie thun," sprach der Ge„ Es ist zu spät, Ihre Begnadigung zu erlangen."
Erinnerungen eines Kommunarden. hilfe des Bürgermeiſters zu mir.
Aus dem Französischen von Jakob Audorf. Sie verlor auf einen Augenblick das Bewußtsein, doch erwiderte ich, ich aber bin unschuldig. Diejenigen, welche " Man sucht nur für Schuldige um Begnadigung nach," erholte sie sich durch die Fürsorge des Arztes schnell wieder. in dieser Welt ernstlich das Gute anstreben, können nur im Da ich befürchtete, man würde uns nach Beendigung des Tode auszuruhen hoffen!"
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Ich
gefährten war, verlassen und man führte mich in den Saal oder eigentlich die gemeinsame Gruft zurück.
Als ich hier eintrat, war ich nahe daran, umzufallen; ich drohte zu ersticken. Unbekannte drückten mir still die Hände. Angesichts eines gewissen Todes schienen alle diese deniselben Schicksal verfallenen Männer gewissermaßen nur eine Seele zu haben.
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Unterdeß erscholl vom Hofe herauf der scharfe Ton eines Kommandos. Es war fünf Uhr. Die Pforte wurde geöffnet und Morgenluft drang frisch und scharf in den Trauattes schnell trennen oder auch, daß Sylvia von Neuem Der Beamte ging mit seinen Freunden fort. Ich Raum. Die entscheidende Stunde hatte geschlagen. Wir ohnmächtig werden könne, so bat ich den Beamten, mir vor- bat den Arzt, mir zu sagen, wie spät es sei. drängten uns vor, um als erste in den Tod zu gehen, erst zu erlauben, der mir so einzig theuren Person meinen vernahm zu meiner Verwunderung, es müsse vier Uhr aber man ließ nur ungefähr zwanzig zur Zeit hinaus. legten Willen mitzutheilen. Morgens fein. Da ertönte plöglich mit festem Ton eine helle Stimme und Meine theure Sylvia," sprach ich zu ihr, in wenigen Stunden werde ich nicht mehr am Leben sein. Wenn es Wenn man auf dem Punkte steht, aus dem Leben zu wie mit einem Schlage fielen alle ein. Man sang die Dir möglich ist, meinen Körper ausgeliefert zu erhalten, so scheiden, so strömen mit Macht alle die Gedanken auf uns Carmagnole": ist mein Wunsch, in der Nähe Deines edlen Vaters' be- ein, die in wichtigen Augenblicken unseres Lebens unser stattet zu werden und Du selbst wirst eines Tages an Gehirn bewegten. Unwillkürlich gelangt man zu einer Art Gewissensprüfung, indem man seine Vergangenheit überunserer Seite ruhen. Ich will auf meinem Grabe nur Blumen haben. Du hast mir gesagt, daß Du in einigen blickt. Hatte ich Unrecht gethan, indem ich handelte, wie geMonaten Mutter sein wirst. Lehre unserm Kinde, daß es schehen? Meine Ueberzeugung sagte mir, daß in den Ernicht dem Andenken seines Vaters flucht und erziehe es in eignissen, wie ich sie durchlebt, ich nicht anders handeln denselben Grundsäßen des Ehr- und Rechtsgefühles, die konnte noch durfte. In diesem Augenblick trat ein schwarz gekleideter Mann Dein Vater uns einzuflößen wußte. Sage ihm, wenn es ein Sohn ist, daß ich ohne Haß und mit einem reinen Ges in meine Zelle und wendete sich in salbungsvollem Tone
an mich:
Mein Sohn, wollen Sie sich, bevor sie sterben, mit
wissen in den Tod gegangen bin und daß er gegen unsere Feinde teine Rachegedanken hegen soll." 311 übermannen drohte. Was konnte ich ihr auch noch ihn nicht gekannt." Ich hielt inne, da die Aufregung Sylvia aufs Neue Gott versöhnen?" mehr in Gegenwart all der fremden Leute sagen?
Was woll'n Republikaner roth? Eisen, Blei und dann noch Brot, Das Eisen uns'rer Rache!" Blei für die heil'ge Sache! Und Brot für uns're Brüder! Es lebe der Blizz der Blize, Und Brot für uns're Brüder, Es lebe der Blizz der Geschüße!
Das unheimliche Knattern der Mitrailleusen erscholl, gefolgt von Ausrufen des Schmerzes und der Verzweiflung, dann erschollen noch einige einzelne Schüsse; den meisten von uns perlte der Schweiß auf der Stirne, alle waren bleich wie der Tod. Ein zweiter Trupp Menschen ging
Aufs neue dröhnten die Schüsse.
Gott ?" erwiderte ich mit bitterm Lächeln, ich habe Der Beamte las uns die betreffenden Gesetzesparagraphen ,, Aber bedenken Sie, wie schwer Sie gesündigt hinaus. Das Lied erscholl weiter. vor und richtete an uns die üblichen Fragen. Ich ant- Genug, mein Herr," rief ich aus, ich hatte nie weder Jett kam an uns die Reihe. Man ließ uns über den wortete mit fester Stimme und Sylvia hauchte ein von Sie noch einen der Shrigen nöthig zum Leben und jetzt noch Hof gehen und stellte uns an eine Mauer, den noch Schluchzeu faft ersticktes" Ja". Wir unterzeichneten und viel weniger zum Sterben." rauchenden Mitrailleusen und finster schweigenden Soldaten nach uns die beiden Zeugen, dann der Doktor. Als vierten Der Schwarze ging hinaus und warscheinlich dank gegenüber. Unsere Füße wateten im Blute unserer KameZeugen, der dem Gesetze nach erforderlich, nahmen wir den seiner christlich mildherzigen Empfehlung mußte ich das raden, von denen einzelne noch röchelten. Wehrere von Soldaten, der den Posten an der Thür inne hatte. Bimmer, in welchem ich getrennt von meinen Unglücks- uns, erstickt von Betlemmung, Schrecken und Abscheu,