Nr. 171<- ZS. Jahrgang
Heilage des Vorwärts
Mittwoch, 13. ftytll 1921
i GroßSerUn Neuer Markt. Wenn man Montag und Donnerstag in den Vormittagsstunden durch das westliche Charlottenburg wandert, entdeckt man eine wirt- fHaftliche Sehenswürdigkeit, einen neuen Wochcnmarkt, der sich, immerwährend wechselnd, von morgens 7 Uhr bis mittags um 1 in einer nicht sehr breiten Straße abrollt. In der Nähe des- kleinen Lietzensees sind leichte Buden oufge- stellt, die letzten Ausläuser des Marktes reichen bis an die Neue Kantstraße. Man geht durch die einzelnen Stände und entdeckt hier all die alten Bekannten, die Händler, die sonst an der Trinitatis- kirche, am Witzlebenwochenmarkt stehen, die Fleischer und die Fisch- Händler, den Feldgrauen, besten Laden aus einer großen Hohkiste besteht, in der zwischen Streu die großen und kleinen Landcier sorgsam eingebettet liegen, die kleine dicke Frau mit dem Lackhut, die zum Kauf von Pflaumenmus und Leinöl einladet, die Grieß- und Reishändler, bei denen es Sultaninen und Mandeln gibt. Die rothaarige junge Frau ist da, die mit Strumpfbändern und Resten handelt und mit ihren Nachbarn von der Käsebranche Freundschaft geschloffen hat: vom Wochenmarkt am Jriedrich-Karl-Platz ist die Blumenmadame erschienen, geschäftig stellt sie große und kleine Sträuße zusammen, die Vergißmeinnicht und die Himmelschlüstel- buketts„gehen" am besten, die stolzen, weißen Narzissen mit dem Feuermund sind weniger begehrt, 1 M. der Stiel, das ist sogar sllr diese westliche Gegend zu teuer. Die blühenden Apfelzweige sind bald vergriffen und die starkriechenden Hyazinthensträuße, ganz hell- blau mit weißen Streifen, finden viel Nochfrage, der Blumenstand ist nie leer. Viel Apselsinen, sehr viel Apfelsinen werden angeboten. Das kraste südliche Gelb steht fast feindlich im Grau der Straß». Zwischen den gackernden Hühnern in Holzkäfigen gurren weiße und! bunte Tauben, neben den Gemüsestönden flattern die Zelte des Wursthändlers. Kolonialwaren stehen in langen Reihen aufgebaut, die amerikanische Büchsenmilch konkurriert mit der holländischen Sahne. Vor dem großen Handwagen liegt der arme braungefleckte Ziehhund aus den bloßen Steinen, das nächste Mal wird sein Herr ihm hoffentlich eine Decke hinlegen, denn Charlottenburg liegt nicht in Afrika . Der.gelbe, kurzhaarige Ziehhund nebenan hat es bester, er liegt in Decken gehüllt auf einem trockenen Brett, sein Trinknaps steht neben ihm. In einer großen Bude stnd Küchengeräte ausgebreitet, von einem Pfahl zum anderen ist ein Strick gespannt, über der Warenauslage, eine Etage höher, klappern die Blechlöffel gegen die Kasserollen. In großen Mengen liegt der mattweiße Blumenkohl neben dem frischen Spinat auf breiten Planken, eilig geht man an den kräftig duften- den Heringstonnen vorbei, und ich verabschiede mich noch schnall von • einem guten Bekannten, es ist ein kleiner brauner Maulesel, ein alter Soldat aus dem Kriege, amerikanische Munitionsbespannung.... Gaunerei ohne<knüe. Aar 700 000 Mark Zigarettenbanderolen entwendet. Die Steuereinnahmen des- Staates find dauernd bedroht. Bor kurzem wurde gemeldet, daß Steuer marken in bedeutendem Um- -■ fange gefälscht und verkauft wurden, jetzt wird berichtet, daß eine Diebes- und Hehlergesellschaft für 7ÖOOOO Mark Zigaretten- und Zigarrenbanderoler. entwenoet und verschoben haben. Elf Personen hatten stch wegen dieses Vergehens vor der Straf- kammer des Landgerichts I zu oerantworten. Der Arbeiter Erich K a r tz. die Schlosser ErwinSütz und Max Engel waren im Reichsfinanzzollamt mit dem Verpacken von Zigaretten- und Zigarrensteuerbanderolen beschäftigt und benutzten diese Tätigkeit, davon Mengen im Werte von 7v0»c>0 M. zu entwenden. Durch Vermittlung von Bekannten haben sie diese an Tabak- und Z�ettenfabrikanten verkauft. Gütz und Engel haben dabei eme ganz besondere Diebestätigkeit entfaltet und wohl auch den größten Teil des Erlöses erhalten. Wegen gewerbsmäßiger Heh- lerei hatten sich der Monteur Friedrich L,esecke und em Kaufmann Max Citron zu verantworten. Der erstere wurde zu zwei Jahren, der letztere zu ein Jahr sechs Mo n a t e n Gefängnis wegen einfacher Hehlerei verurteilt. Gütz erhielt zwei Jahre, Engel ein Jahr sechs Monate und Kartz acht Monate Gefängnis. Die Fabrikanten Max Schier und Hans Schlesinger
wurden wegen Steuerhinterziehung mit 78 000 M. bzw. 178ÜM M. Geldstrafe bedacht, da angenonimen wurde, daß ihnen die Tatsache des Diebstahls unbekannt war. Die übrigen Änge- klagten kamen mit geringeren Gefängnisstrafen davon, drei von ihnen erhielten auch noch eine Bewährungsfrist. Ein großer Teil der gestohlenen Banderolen ist übrigens in das Amt zurückgebracht worden. vie Ahnungslose. Der Irrtum eines Standesbeamten veranlaßt« eine Frau, die mit ihrem Manne in Scheidung lag, eine neue Ehe einzugehen. Sie lebte glücklich und unbesorgt, bis sich eines Tages herausstellte, daß ihre Ehe nicht geschieden war. Nun mußte sie sich vor her 7. Strafkammer des Landgerichts I wegen Bigamie verantworten. Die Angeklagte Frau Rosa Adler war mit einem gewisten Klcmpin verheiratet. Dieser strengte die Ehescheidungsklage gegen sie an. Nachdem mehrere Termine stattgesunden hatten, hörte die Angeklagte nichts mehr von der Sache. Inzwischen hatte sie ihren jetzigen Ehemann kennengelernt und beabsichtigte mit diesem eine neue. Ehe einzugehen, zumal sich auch schon Familienzuwachs eingestellt hatte. Der Standesbeamte in Moldenberg, vor dem auch die erste Ehe geschlossen worden war, verlangte nun den Nachweis, daß diese geschieden sei. Die Angeklagte schrieb an das Land- gericht Ilk und erhielt im November 1316 ein Schriftstück mit der Ueberschrift„Im Namen d e s K ö n i g s". Ohne den Inhalt richtig zu verstehen, schickte sie dieses an den Standesbeamten in Moldenberg, der, ohne die Rechtslage richtig zu erfasten, das Schrift- stück als Scheidungsurteil ansah und die zweite Ehe schloß. Später stellte es sich heraus, daß hier ein grobes Versehen vorlag, denn in dem Urteil hieß es gerade, daß die Klage des Ehe- mannes abgewiesen wer, d. h. daß die erste Ehe zurecht be- stand.— Der Staatsanwalt hielt eine Mitschuld der Angeklagten für festgestellt und beantragte 6 Monate Gefängnis, wäh- rend R.-Ä. Müller-Strrmeyer die Freisprechung für ge- boten hielt, da man bei einer einfachen Frau aus dem Volke nicht so viel juristische Kenntnisse voraussetzen könnte, um ein vertlausu- liertes Gerichtsurteil zu verstehen Das Gericht folgte diesen Aus- führungen und erkannte auf Freisprechung.— Der Vorsitzende wies die Angeklagte darauf hin, daß ihre jetzige Ehe ungültig sei.
Casanova. Unter dem bochtönenden Namen eines Grafen Albert v. Casanova bat eS ein internationaler Hochstapler verstanden, lange Zeit hindurib großangelegte Betrügereien und Heirateickwindeleien zu verüben. Mit gesälichten Papieren verschaffte er sich Zutritt zu den angesehensten Berliner GeiellsckiaftSkreisen und seinem gewandten Aurtielen gelang es. mehrere junge Damen in sein Netz zu locken. Wenn der Trick mit der aussichtsvollen Ehe nicht verfangen wollle. so fllorte er sich als steinreicher Frlmindustlieller ein und eroberte to die Herzen und die Geldbörsen seiner Aus- erwählten. In großem Maßstabe arbeitete Graf v. Kasanova auch mit inhaltsschwere», aber gefälschten Kabeltelegrammen, die sür tbn aus vielen außereuropäischen Ländern eintrafen und große Geld« fendiliigen in Aussicht stellten. Auch von einem umfm, gleichen Landbesitz in Jlallen und Ungarn vstrgte der Hochstapler zu erzählen und es gelang ihm, große Darleben aiif diese Weise zu erhalten. Seine Wohnung nahm der Abenteurer stets in erst-. klaisigen HoielS und wohrtte dort auch zeitweilig als italienischer Botschastsattache Alle seine Betrügereien' fanden vollen Glauben und jicherlen ihm bohe Eunr ahmen. Bor einigen Tagen aber er- eilte ihn daS.Schicktal. Eine von ihm betroqeize Schauspielerin er- staiteie Anzeige bei der' Polizei und den Beamten der Inspektion B II im hiesigen Polizeipräsidium gelang es. den falschen Grafen zu verhaften. Die Personenseststellung hat ergeben, daß der Gras Casanova der Sohn eines MaurerpolierS auS Oste- rode in O st p r e u ß e n ist und A l b e r t R o m e i c'a heißt. Der Betrüger ist 23 Jahre alt.__ Raumluxus in Tienstwoßnungen. Daß die Dienstwohnungen mittlerer und höherer Beamten oft unnötig groß bemessen sind, mußte man schon in der Zeit vor dem Kriege als einen Unfug ansehen. Heute, wo weite Kreiie der Be- völkerung unter dem Wohnungsmangel leiden, fällt der mit Dienstwohnungen getriebene RaumluruS noch unangenehmer auf. Manche der Beamten empfinden selber die Größe der ihnen zu- gewiesenen Wohnungen als eine Lost, andere aber fühlen sich wohl in ihrem hochherrschastlichen Heim und wollen auch jetzt trotz Wohnungsnot nichts davon abgeben. Leider sind die Wohnungs» ämter gegenüber Jnbabern zu großer Dienstwohnungen ziemlich
machtlos, weil für Dienstwohnungen ein Sonderrecht besteht, das die Abzweignng überflüssiger Räume erichwert. Zu welchen Ungletchheiten und Ungerechtigkeiten das führen kann, lehrt ein Beilpiel, daS uns aus Beamlenkreisen mitgeteilt wird. Der Präsident W a r b u r g von der Physikalisch- Technischen ReichSanstaltin Eharlottenburg Hai eine Dienst- Wohnung von zehn Zimmern, die der im Gmienalier stehende Herr mit seiner Gattin und einer Hausangestellten bewohnt. Dagegen muß ein wissenschaftlicher Assistent der Anstalt, Dr. Lothe, sich immer noch mit der von ihm vor dem Kriege bewohnten„Dienstwohnung" beHelsen, die auS einem einzigen Zimmer besteht. Es fehlt dieser Wohnung jedes Nebengelaß, und die Küche wird durch einen in dem Zimmer aufgestellten Einlochkocher erietzt. Bor dem Kriege war der Assistent ledig, in der Kriegszeit aber beiratete er. und nach dem Kriege mußte er dann seine frühere„Dienstwohnung" wieder übernehmen, in der seine Gattin jetzt ihrer Niederkunft entgegen- sieht. Seit sechs Monaten steht Dr. Bothe beim Wohnungsamt Eharlottenburg aus der Dringlichkeitsliste, ohne daß er Aussicht bat, von dort eine Wohnung zu erhalten. Der Beamtenausschuß, besten Beimittlung er schließlich in Anspruch nahm, wandte sich an den mit Räumen reich gesegneten Präsidenten Warburg , holte sich aber einen völligen Mißerfolg. Präsident Warburg antwortete dem Ausschuß, er könne in dieser Angelegenheit nichts tun. über die Dienstwohnung des Präsidenten verfüge der Rerchsminister des Innern. Hoffentlich ist der Beamtenausschuß den ihm hier gewiesenen Weg gegangen und bat sich an den ReichSm'irister des Innern gewandt. Bon diesem müsien wir erwarten, daß er über die Wohnung des Präsidenten io„verfügt", wie es daS Bedürfnis und die G c- rechtigkeit erfordern._ Das Tiebeslager in der Mirbachstraste. Ein große« Hehlernest wurde in der Mirbachstraße durch d-e Aufklärung eineS großen Goldwarendiebstahls in der Jerusalemer Straße 5 6. der in der Nacht vom 24. zum 25. v. M. in der Uhren- Handlung von Schenk ausgeführt wurde, aufgedeckt. Das eigenartige Verhalten des dort tätigen Wächters Gustav Krämer führte die Kriminalpolizei auf die Spur. Derselbe hatte mit zwei anderen jungen Leuten, dem mehrfach vorbestraften Hans M i ch a l S k i und dem bisher unbescholtenen Arbcitsbnrichrn Wil » beim Kriening, den Diebstahl ausgeführt. Der Wächter batte den beiden Burschen den Schlüsiel für daS genannte HauS ausgehändigt, so daß sie sich einen zweiten anfertigen lasten konnten. Bei der Ausführung des Diebstahls hielt sich der Wächter zunächst an einer anderen Stelle auf, während die beiden Burschen die Tat vollführten. Sie machten dabei jedoch so großen Lärm, daß der Wächter sich veranlaßt sah. sie zur Ruhe zu ermahnen. Bei vieler Gelegenheit erhielt er gleich- zeitig ein Drittel der von den beiden erbeuteten Uhren und Gold- waren, die insgesamt eine» Wert von 100606 M. halten. Alle drei sind nun festgenommen worden. ES wurde festgestellt. daß sie. ihre Beute für ganze 6 000 M. an einen Kino besitz er Taube in der M i r b a ch st r a ß e verkauft ballen. Eine dort angestellte Haussuchung förderte nickt nur den größten Teil der auS dem eben erwähnten Diebstahl herrührenden Uhren an da» Tageslicht, sondern eS lvurde auch ein großes Lager von anderen gestohlenen Sachen entdeckt, u. a. ein Ballen Seide von 600 Meter Länge, der von der- Fran eines Wächters Stein an Taube verkauft war und ursprünglich 1260 Meter lang war. U. a. fand man auch eine Schreibmaschine Urania Nr. 16111 sowie einen Film„Staatsanwalt BriandS Abenteuer", den Taube für ganze 3000 Marl -getauft hatte und der«inen Wert von 150 000 M. repräsentiert.
Die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer und Lehre- rinnen. Bezirk Sgruppe Groß-Berlin. halte rn den letzten Monaten einen gewaltigen Zuwachs neuer Mitglieder zu verzeichnen. Doch ist eine große Anzahl parte'genö'si'cher Lehrer noch nicht der A.-G. beigetreten. Viele sind noch der Ansicht, daß der Beitritt zur A-G. sich mit ihrer Stellungnahme zum Deutschen Lehrerverein nicht vereinbaren ließe. Im Interesse des Sozialismus wie der Partei muß un'er Bestreben darauf gerichtet sein, den neutralen Deutschen Lebrerverein geichlosien zu den freien Gewerk- schaften überzuführen. Uniere Genosien im Deutschen Lehrerverein müsien dort praktisch mitarbeiten, bis die Mehrzahl der Lebrel'chait für den Sozialismus und iür den Gedanken der freien Gewerkschaft gewonnen ist. Somit ist uniere Stellung zum Deutschen Lehrer- verein klar vorgeze�chnet. AuS Gründen der Parteifi'zmlin'ollte jeder parteigenöisiiche Lehrer nach den Beichlüsien der Parteitage in Weimar und Kastel handeln, die besage», daß die Partei- genössische» Lebrer und Lehrerinnen aller Schnlgattvngen veipfsichtet sind, sich in erster Linie der„Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer
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Sline Menschenkind. III. Der Sündeafall. Von Martin Andersen Rexö.
Eine Enttäuschung brachte der jzof Stine jedenfalls vor- läufig nicht. Die ihn umgebende Luft von Klatsch und bösen Gerikhten einzuatmen, fiel ihr nicht schwer: und sie bot An- reiz genug, die Spannung in ihrem Kindersinn wachzuhalten. Stme hatte sich viel von dem Neuen versprochen, so viel, daß sie ein Grauen davor empfand, hineinzugeraten. Und bis auf ttieiteres hatte sie keine Veranlassung, Anstoß an etwas zu nehmen. Der dunkeln Rätsel gab es hier genug. Die Finster- nis konnte so lebendig um einen werden, daß sie einem ge- radezu nach den Deinen packte. Aber auch der helle Tag hatte das Seine zu erzählen. Hier gab es Fleischtöpfe wie im Elsternnest", nur viel größere: man brauchte nicht vor jeder Mahlzeit mit den Batzen in der Hand hinzulaufen, um Einkäuse zu machen. Hier rannten Hühner herum und legten ihre Eier abseits an die unmöglichsten Stellen: Schweine standen und himmelten den langen Tag über dem Troge, der immer leer war, soviel auch hineingeschüttet wurde: hier waren kleine Kälber, deren Augen im Halbdunkel des Stalles zu wunderlich blauen Lich- tern wurden, wenn man den Tieren erlaubte, einem an den Fingern zu saugen. Stine erkannte das alles mit seltsamer Lreude wieder: wie wenn warmer Talg von der Kerze über Finger hcrabläuft. so empfand sie das unterm Herzen. 7)as Milchsieb hing zum Trocknen auf dem Pfosten, der Tür �zum Wirtschaftsraum, und in den Dachrand der Nebenflügel waren Geräte hineingesteckt. Rechen und Heidekrauthacke. Die Art saß so fest im Hauklotz, daß sie kaum herauszubekommen war: und die Sensen hingen in dem großen Dornbusch vorm Hof. die scharfen Klingen nach dem Stamm zugekehrt, damit die Kinder sich nicht verletzen tonnten. All das war wie im..Elsternnest", nur viel, viel großer. Sogar ein. zweiter Kater Pers war hier vorhanden, ein rich- tiger Faulenzer, der den ganzen Tag auf einem warmen Stein lag und sich von der Sonne beschelnen ließ. In der Nacht aber bekam chn niemand zu sehen außer den Ratten und Mäusen. Er glich Pers geradezu unheimlich und mar ebenso zärtlich zu ihr. Es war bemahe, als ob sie einander
immer gekannt hätten. Aber sie hatte ja selber gesehen, wie! der Krugwirt mit seiner gewaltigen Trollfaust nach Pers, dem l Fischdieb, griff, und chn in einen Sack stopfte. Er schlug den Sack erst ein paarmal gegen den Molenstein und schleuderte ihn dann in den Hafen hinaus— und in dem Sack waren Steine! Es war nicht einmal sicher, daß Pers die seinen Goldbutten des Krugwirts gestohlen hatte..Der Vorn-und- hinten-Jakob schlich in der Nähe umher, und er war aar nicht so einfältig, wie die Leute immer sagten. Jedenfalls hätte der„Menschenfresser" den Korb nicht aus den Augen lasten sollen. Aber sterben mußte Pers, trotz den Tränen der Kinder. Jetzt schien es so, als wäre er wieder aus dem Grabe auf- erstanden. Selbst darin glich dieser Kater Pers aufs Haar, daß er ebenso versessen auf Fische war wie jener. Jeden Morgen lief er an den Strand und hüpfte auf die großen Steine hinaus. Dort saß er auf der Lauer nach den Flundern und anderen kleinen Fischen, die sich auf dem flachen Wasser aufhielten: und wenn sie nahe genug kamen, schlug er mit der. Pfote unter sie hinab und zog sie auf den Stein hinauf. Es war recht belustigend zu sehen, wie Wasterscheu und Appetit in ihm kämpften, so daß er am ganzen Körper er- schauderte. Das waren die einzigen Fische, die er bekam: denn auf dem Bakkehof aß man niemals Fisch, weil man glaubte, einen Bandwurm davon zu bekommen. 2. Heimweh. Jeden Morgen gegen vier Uhr erwachte Stine davon, daß scharrende Tritte über das Steinpflaster hin nach der Tür ihrer Kammer herübertönten. Der bejahrte Tagelöhner war es, der sie zu rufen pflegte, wenn er am Morgen kam. Stine konnte ihn nicht leiden: sein Mund war immer unrein — von Kautabak und groben Worten, und es wurde erzählt. daß er nicht gut zu Frau und Kindern sei. Im Nu war sie aus den Federn.„Ich bin auf!" rief sie und hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an die. Türklinke. Kam sie ihm nicht zuvor, so stieß er die obere Halbtür weit auf und stand dann grinsend da, den schmierigen, blauzähnigen Mund weit geöffnet. Sobald sie ihn wieder nach dem Wohnhause gehen hörte, ließ sie. die Klinke los und schlüpfte in die dünnen Kleider. Ihr Herz hämmerte gegen das graue Hemd, während sie sich das Haar flocht und dabei durch die offene Halbtür in den Tag hinmisstarrte.' Den einen Zopf hielt sie im Munde. während ihre Finger emsig mit dem anderen beschäftigt
waren, und sie blinzelte zum Meere hinaus, wo der Tages- schimmer lag, sprühend wie zehntausend Funken. Der starke Morgen trug ihr von allen Seiten sellsame Düfte. Licht und Frische zu, und es durchrieselte sie von den Haarwurzeln bis zu den Zehen. Sie mußte niesen und verlor den Zopf aus dem Munde. ' Dann stand sie draußen auf dem Steinpflaster, glatt ge- kämmt und mit zwei dünnen Zöpfen auf dem Rücken, ein wenig blaugefroren anzusehn und ganz wach. Sie glich einem der Vögel, die plötzlich aus dem Dunkel unterm Gesträuch hervorgeschossen kommen und vom Lichte flachgedrückt werden. Nun warf sie einen verstohlenen Blick nach dem Wohnhause hinüber— und war plötzlich um den Giebel verschwunden. „Da läuft die Dirn' wahrhaftig wieder ans Meer," sagte der Tagelöhner, der in der Küche saß und seinen Morgen- imbiß(oute.„Rein verrückt ist sie nach dem Wasser: man sollt' glauben, daß sie Fischblut in sich hat." „Laß sie doch," erwiderte die Magd.„Was schad's denn? Die Frau und der Sohn find ja noch nicht auf." Stine eilte auf den nackten Füßen durch das nasse, scharfe Sandhaargras, bis an den hohen Küstenhang, wo das Meer ausgebrestet unter ihr lag. in wunderbar rosenfarbenem Blaß oder grau und aufgepeitscht, je nachdem das Wetter war. Das war so weit gleichgültig. Stine machte sich nichts aus dem Meere, nicht die Spur. Etwas Gutes hatte es ihr nicht ge- bracht, dem Großvater hatte es die Gicht verschafft, und im Dasein Großchens und ihrem eigenen war es die ewige Un- ruhe gewesen. Aber es bespülte ja nun einmal auch das Fischerdorf: das gleiche Wasser war dort und hier: man hätte hinübersegeln können, wenn auf dem Bakkebof ein Boot ge- wesen wäre. Stine war es gleich, wie das Meer aussah; es Halle die Aecker vom Hof auf der Landzunge weggefresten und die Leute arm gemacht, im Sturmwetter halle es an Graßchens Hütte gerüttelt und seine Schaumspritzer bis zu deii Fensterscheiben hinaufgesandt. Sie kannte Dinge, die ge- mutlicher waren. Wenn sie aber Glück halle, konnte es chr gelingen, zu sehen, wie die Boote aus dem Dorf vom nächt- lichen Fang nach Hause zurückkehrten. Die Entfern' mg war zu groß, als daß sie sie voneinander hätte unterscheiden können; aber das des Baters war darunter, und sie war überzeugt, daß er hierher starrte. Sie suchte sich ein Boot aus. das das feine fein sollte, und verfolgte es, bis es hinter der Landzunge verschwand, wo das Dorf versteckt lag. (Forts, folgt.)