i Beilage zum„Vorwärts" Berliner Volksblatt. Loftales.' Spät kommt sie, doch sie kommt-- und immerhin besser spät wie gar nicht!—, die Erkenntniß von der Wirkung des Bierboglotls bei den Preßossiziösen, die sich bald die Finger wund geschrieben haben, um die Wirlungslosißkeit des Bierboykotts nachzuweisen. Sie, die bislang in übermulhigster Weise auf die Arbeiter pfiffen, sie pfeifen jetzt auf einem ganz anderen Loche. Sie stimmen jetzt recht sentimentale Melodien an und selbst die „Berliner Borsen-Zeitung" muß mit süßsaurer Miene wohl oder übel nun auch zugestehen, daß der so oft verspottete oder ver- lachte Boykott doch ein recht übel Ding ist, nämlich für die Bier- sabrikanten, und daß die Arbeiter doch verflixte Kerls- sind, mit denen nicht zu spaßen ist. Von wohthuend komischer Wirkung sind die Kapriolen, welche das Börsen- blatt macht, um sein Eingcständniß von der Wirkung des Bierboytotts abzuschwächen und nach Möglichkeit zu maskiren. Der„Vorwärts", meint die„Berliner Börfen-Zeitung" könne sich die Mühe eines Nachweises der Wirkung des Bierboykotts ruhig ersparen, denn daß die von der Sozialdemokratie boykottirten Brauereien die Folgen des Boykotts an ihrem Absätze merken würden, sei von ihnen noch niemals bestritten, sondern vielmehr für ganz selbstverständlich gehalten worden. Wenn Zehntausende von Arbeitern das Ringbier in Acht und Bann thun, sa könne die Wirkung hiervon in Gestalt einer Verringerung des Absatzes der Ringbrauereien nicht ausbleiben. Das klingt freilich ganz anders, als die früheren, allerdings sehr kurzbeinigen Lügen über die NichtWirkung des Bierboykotts, von den allsonntäglich überfüllten Brauerei- Biergärten, von den in Ringbier schwelgenden Arbeitern, von" dem trotz des Boykotts gesteigerten Bierabsatze der Ringbrauereien und anderen schönen Tingen mehr, in denen auch die„Berliner Börsen-Zeitung" ihr redlich Theil geleistet hat. Es ist freilich höchst fatal, nun eingestehen zu müssen, daß man sich so gewaltig„geirrt" habe. Deshalb giebt sich die„Berliner Börsen-Zeitung" auch die größte Mühe, den unangenehmen Eindruck, den das Eingeständniß dieses„Irr- thumS" aus ihr Leserpublikum nothwendig machen muß, möglichst zu verwischen, indem sie gleich hinterher behauptet:„Wirkungs- los ist und bleibt der Boykott gleichwohl." Eine derartige Schluß- folgerung wirkt sicher verblüffend auf die Leser des BörsenorganL, und dies ist der berechnete Knalleffekt, der die Lahmheit der Begründung, welche dieser Schlußfolgerung beigefügt ist, nicht erkennen lassen soll. In der Begründung wird nämlich gesagt, daß der Boykott„gleichwohl"(d. h. trotz seiner Wirkung) wirkungslos sei und bleibe insofern, als die Brauereien trotz dieser durch den Boykott verschuldeten Absatz- Verringerung noch nicht einen Augenblick darüber in Zweifel ge« rathen seien, lieber diese unerfreulrche momentane finanzielle Folge des Boykotts auf sich zu nehmen, als sich unter daS Joch der Arbeiter zu beugen und sich von ihnen vorschreiben zu laffen, an welchen Tagen sie zu feiern und wen sie anzustellen haben. Also der Boykott wirkt, aber er bleibt dennoch wirkungslos, weil die Brauereien noch immer„lieber diese unerfreuliche momentane (vielleicht dauernde) finanzielle Folge des Boykotts auf sich nehmen. als sich unter daS Joch der Arbeiter zu beugen",— eine Logik. der„Berliner Börsen-Zeitung" würdig! Mögen die Braue- reien immerhin die unerfreuliche finanzielle Folge des Boykotts auf sich nehmen; das ist Geschmackssache und haben die Brauereien mit sich und ihren Aktionären abzumachen,~ wir können ja warten, bis sie es für angemessen finden, der kost- spieligen Laune keine Opfer mehr zu bringen. Den scheinbaren Kampsesmuth der Brauereien spiegelt auch der Jahresbericht der Schultheiß-Brauerei pro I8S3/84 wieder, welch letzterer das Schwergewicht auf die Wiederherstellung der gelockerten„Diszi- plin" der Arbeiter in den Brauereien legt. Militärische Disziplin, willenlose Unterordnung der Arbeiter unter den Willen der Bier- sabrikanten, Erlödtung jeder selbständigen Regung der Arbeiter, von Gleichberecktigung keine Spur, das ist das Ideal der Bier- sabrikanten als Vorkämpfer des kapitalistische» Unternehmerthum�! Nun, auch die Arbeiterschaft ist von unerschöpflichem Kampfesmuthe beseelt, auch sie kämpft für Ideale, aber für würdigere, sie kämpft für ihre getretenen Menschenrechte und wird in ihrem Kampfes- muthe um so mehr bestärkt, als selbst die Schultheiß-Brauerei die Wirkung des Boykotts nicht mehr abzuleugnen sich getraut. In dem Jahresbericht pro 1893/94 wird zugegeben, daß für das neue Geschäftsjahr„ein weiterer Rückgang des Absatzes infolge des Boykotts" zu erwarten sei, sowie daß der Boykott„un- zweifelhaft ein für die Brauereien empfindliches Kampfmittel in den Händen der Arbeiter sei, da sie zu den hauptsächlichsten Bic-rkonsumenten zu rechnen seien." Spät kommt sie, die Er- kenntniß, doch sie kommt! Darum, Arbeiter! Parteigenossen! Hoch der Boykott! Herr Hoflieferant Bötzow hat die Güte gehabt, der hiesigen Unfallstation I in der Wilhelmstraße ein„flottes Ge- spann" zu einem Krankenwagen zu schenken. Es entzieht sich unserer Kenntniß, ob Herr Bötzow auch schon die Güte gehabt hat, die arme Näherin in der Klosterstraße ausreichend zu unter- stützen, die durch sein Gespann vor einiger Zeit zum Krüppel gemacht und derart ins Elend gerathen ist, daß eine Reihe hiesiger Bürger in einem, Herrn Bötzow tief beschämenden Flug- blatt an das Mitgefühl der hiesigen Einwohnerschaft appelliren mußte. Zur Lokalliste. Heise. Lichtenbergerfir. 21. mußte von der Liste gestrichen werden, weil er neben boykrttfreiem Bier auch noch Ringbier führte. Thien, Köpnickerfir. 150—151 führt Ring- bier. Außerdem verdient noch erwähnt zu werden, daß dieser Herr am Mittwoch Abend einen Flugblattvertheiler durch einen Schutzmann hat festnehmen lassen. Christians, Görlitzer- straße 46, hat die Kontrolle verweigert. Ruft, Oppelnerstr. 43, führt Ringbier.— Die Mitihcilung, daß Gastwirth Grebing, Chausseestr. 98. Boykotlbier schänkt, beruht auf einem Jrrthum. Grebing schänkt nach wie vor boykottfreies Bier. Ferner schänkt Kliiht, Zimnierstr. 6, Boykottbier. Ausweisung eines Berliner « a»S Berlin! Genosse Verlagsbuchhäudler Adolf Hoffmann hat seitens des Polizei- Präsidenten, Freiherr» von Richthosen, folgenden Schreibebrief erhalten:' Der Polizeipräsident. Journ. Nr. 6234 V E. 94. Berlin , den 3. November 1694. Es ist zu meiner Kenntniß gelangt, daß Sie seit dem Jahre 1391 zu Magdeburg . Zeitz , Naumburg wiederholt wegen öffent- licher Beleidiguna und Vergehens gegen das Preßgesetz mit Geld- strafen und Gefängniß destraft sind. Von der mir auf grund des ß 2 Nr.•?. des Gesetzes vom 31. Dezember 1842 und§ 3 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1667 zustehenden Besugniß(! D. Red.), bestrafte Personen' von Landespoli,ci- wegen von dem Ausenthalt in Berlin auszuschließen, will ich im vorliegenden Fall mit Rücksicht darauf. daß Sie hier einen reellen Broterwerb(!! D. Red.) gefunden haben, vorläufig keinen Gebrauch machen und Ihnen den Aufent- halt hier versuchsweise gestatten.(!!! D. Red.) Es geschieht dies jedoch nur unter Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs und in der Voraussetzung, daß Sie weder zu polizeilichem noch gericht- lichem Einschreiten Veranlassung geben werden.(!!!! D. Red.) Sollte Ihr Verhalten dieser Erwartung nicht entsprechen, so würde ich mich genöthigt sehen, die oben erwähnten gesetzlichen Bestimmungen unnachsichtlich gegen Sie zur Anwendung zu bringen.(!!!!! D. Red.) Der v. r Polizeipräsident. . R i ch t h o s e n. An den Buchhändler Herrn Adolf Hoffmann , Wohlgeboren, hier, Krautstr. 33 a. Worin bestanden die„Bestrafungen" des Genossen? Die in dieser Verfügung angezogenen gesetzlichen Bestimmungen rechtfertigen nach keiner Richtung hin die Drohung des Polizei- Präsidenten oder seine ungeheuerliche Ansicht über das Auffinden „reellen Broterwerbs". Z 3 des Gesetzes über die Freizügigkeit gestattet, solchen Personen, die wegen Land st reicherei oder iviederholten Betleins innerhalb eines Jahres bestraft find, von Landespolizeiwegen den Aufenthalt in einem Bundes- staat zu verweigern. Genosse Hossmann gehört zu dieser Kategorie nicht. Er ist lediglich wegen Preßvergehens(in seiner früheren Eigenschaft als Redakteur des„ V o l k s b o t e" in der Zeit vom Oktober 1890 bis April 1893), und zwar ledig- lich wegen angeblicher Beleidigung mit einer Reihe von Geldstrafen und in drei Fällen mit Gefängniß- strafe(von 10 Tagen, 14 Tagen und deinem Monat) bestraft. Und dennoch erachtet sich der Polizeipräsident für befugt, ihm eine derartige Drohung zuzusenden! Auch das altpreußische Gefetz vom 31.12.1342, aus das ferner Herr von Richt- hosen sich beruft, ist durchaus ungeeignet, zur Rechtfertigung seiner Maßregel zu dienen. Allerdings besteht nach Ansicht des preußischen Ober- Verwaltungsgerichts bekanntlich trotz des deutschen Freizügigkeitsgesetzes noch das alte preußische Gesetz vom 31. I?. 1842 in tz Nr. 2 zu Recht. Nach diesem Gesetz kann die Polizei jeden Deutschen innerhalb des einigen Deutschlands aus ihrem Bezirke ausweisen: jedoch nur dann, wenn er verurtheilt ist und wenn er der Polizei deshalb als die öffentliche Sicherheit gefährdend erscheint, und überdies nicht aus seinem Geburtsort. Hoffmann ist ein geborener Berliner . Es ist selbstredend, daß Genosse Hoffmann Beschwerde erheben und eventuell Klage im Vcrwaltungs-Slreitverfahren erheben wird. Soll die Thatsache, daß einem lediglich wegen politischer Vergehen bestraften Redakteur das sogenannte Vagabundcnsormular zugesendet werden kann, einen Versuch darstelle», wie weit man im„neuesten" Kurs auf dem Wege der Verwaltung vorzugehen beabsichtigt? Glaubt die Polizeibehörde ernstlich, jeden Redakteur ausweisen zu dürfen, weicher Redakteur wäre dann ausweisungssicher? Ist nicht selbst der Redakteur der„Kreuz-Zeitung ", Herr v. Hammerftein, wieder- holt wegen Beleidigung bestraft und ist nicht einmal Berliner ? Wir hoffen, daß es dem Genoffen Hoffmann gelingen wird, durch Bermiltelung des Oberpräsidenten, eventuell des Ober-Ver waltungsgerichts, den Herrn Polizeipräsidenten über den Um- fang seiner Befugnisse eingehende Belehrung zu theil werden zu lassen. Die Vororte tvolle» eingemeindet werden! Eine Ver sammlung des Ausschusses für die Eingemeindung der Berliner Vororte hat gestern folgende Resolution gefaßt:„Die Versamm- lung hält die von der gemischten Deputation der städtischen Be- Hörden in Aussicht genommene Eingemelndungsgrenze für ver- fehlt und unmöglich, weil dieselbe der hohen, ernsten Bedeutung der Dinge, wie den wirthschafllichcn und sozialen Verhällniffcn der Vororte nicht Rechnung trägt. die natürlichen Grenzen der Gemeinden willkürlich durchschneidet und endlich die so dringend gebotene Eingemeindung der nördlich, nordöstlich und südlich von Berlin gelegenen Vororte gänzlich außer Acht läßt. Die Versammlung spricht ihr Bedauern darüber aus, daß durch den Beschluß der gemischten Deputation die .m öffentlichen Interesse aothwendige Eingemeindung der Berliner Vororte nur eine erneute Verzögerung erfährt und richtet an die königliche Staatsregierung die ehr- erbietige Bitte, dem Landtag der preußischen Monarchie schon in seiner nächsten Session eine Gefetzesvorlage wegen' Einverleibung der Berliner Vororte in demjenigen Umfange zur Beschlußfassung unterbreiten zu wollen. welche seitens desEingemeinde-AusschusseS in seiner Denkschrift in Vorfchlhg gebracht war- den»st." Daß die reaktionäre Hausagrarier-Venvaltung ohne gesetzlichen Zwang die nothwendig« Eingemeindung vornehmen wird, glauben auch wir nicht: Hat doch zur Beseitigung der Miethssteuer auch erst die gesetzgebende Körperschaft eingreifen müssen, die trotz ihres ultrareaktionären Wesens ein Körnchen mehr sozialpolitischen Salzes besitzt als unsere Gemeinde- Vertretung. Verschämte Arme sind eine der erballlichsten Errungen- ten der klassifizirten Gesellschaft.„Verschämte Arme" sind die Anhängsel der sogenannten„besseren Stände", das„Gefell schaftsproletariat", das mit seinem ganzen Fühlen und Denken der„Gesellschaft" angehört, dem aber die Geldmittel fehlen, um „mitmachen" zu können. Da aber für sie arin sein als eine Schande gilt, ebenso wie sich durch ehrliche Arbeit sein Brot zu verdienen, so ist jenes Proletariat bestrebt, seine Armuth nach außen hin zu verbergen. Vor den Augen der„Leute"„standcs- gemäß" aufzutreten, erachten sie als eine selbstverständliche Pflicht, ja sie sehen sogar mit Geringschätzung auf daS„gewöhnliche Volk" herab, in dessen Augen sie wiederum trotz ihres Standesdünkels nichts als armselige Hungerleider sind. Und daS„gemeine Volk" mit seinen gesunden Anschauungen hat auch hierin das Richtige getroffen. Thatsächlich sind die„verschämten" Armen nichts als Hungerleider, denn aus Kosten der Befriedigung ihrer natürlichsten Lebensbedürfnisse suchen sie„der Welt" gegenüber e.ne gewisse fadenscheinige Eleganz zu behaupten, die indessen in den seltensten Fällen dir thatsächliche Armuth, die überall hervor- guckt, zu verhüllen vermag. Besitzen sie Energie genug, durch Arveil nicht ihren Lebenslinterhalt, nein, nur Geld zu verdienen, so geschieht es unter dem Ausgebot aller möglichen Vorsichls- maßregeln, damit nur ja nieinand erfahre, daß sie für Geld arbeiten. Welche Schande! Daß solche„verschämte Arme" auf die Mildthätigkeit ihrer besser situirten Verivandten oder„Standes- genossen" angewiesen sind. Und die„Gesellschaft" erkennt that- sächlich diese Unterstützungspflicht an. Sind doch die„verschämten Armen" Fleisch von ihrem Fleisch, welche»nan aus Klassen- intereffe nicht völlig ins Proletariat hinabsinken lassen darf. Wir berichteten unlängst über die„Deutsche Gesellschaft zur Ver- sorgung verschämter Armer mit freiem Brennmaterial." Der- artige Vereinigungen mögen wohl noch mehrere bestehen, wir sind darin nicht so eingeweiht. Auch dürfte man wohl nicht fehl gehen mit der Vermuthung, daß die„verschämten Armen" Kost- gänger zahlreicher bestehender„Wohlthätigkeirsvereine" sind. Aber nicht allein der Fürsorge der privaten bürgerlichen Gesellschaft haben die„verschämten Armen" sich zu erfreuen, nein, sie»verdcrr auch von der Armendirektion protegirt, obgleich sie für gewöhn- lich mit dieser gesellschaftlichen Institution bei Leibe nichts zu thun haben wollen. Alljährlich erscheint jetzt näinlich in deren Publikationsorgancn eine Anzeige folgenden Inhalts:„Seit einer Reihe von Jahren besteht hier die Sitte, daß Einivohner aller(?) Stände, anstatt sich ihren Freunden, Gönnern u»»d Bekannten beim Jahres- ivechsel durch Visitenkarten zu empfehlen, ein entsprechendes Ge» schenk zum Besten der verschämten Armen zahlen lassen. Die namentliche Bekanntmachung der geehrten Geber, welche, falls sie ihre Beiträge durch Domestiken übersenden, durch deutliche Bemerkung ihres Namens und Charakters resp. ihrer Geschäfts- bezeichnung ersucht werden, wird durch das Kommunalblatt, die „Vossische", die„National-Zeitung" und das„Jntelligenzblatt" noch vor Neujahr erfolgen. Um dies aber ermöglichen zu können, müssen wir ersuchen, die Beiträge spätestens bis, den 31. Dezember d. I., Nachmittags 1 Uhr einzuzahlen." Dies« >vie gesagt jetzt alljährlich erscheinende Bekanntmachung der Armendirektion spricht für sich selber. Es kann an sich auch nicht»veiter entfremden, daß eine klassenstaatliche Behörde ihren armen Standesgenossen nach Möglichkeit zu Hilfe kommt. befremden muß aber, daß auch von dieser Behörde ein Unterschied gemacht wird z, vischen„verschäinlen Armen" und„gewöhnliche» Armen". Eigentlich müßte man im Gegensätze sagen„unverschämten" Armen, wenn dieses Prädikat nicht die erstere Kategorie verdiente. Denn»ver arm ist, auf die Hilfe seiner Mitmenschen angeiviesen und in der traurigen Lage. Almosen annehmen zu müssen, der soll nicht den lügenhaften Schein erwecken, als ob er etwas„Besseres"»väre, als diejenigen. die öffentlich als„Almosenempfänger" gekennzeichnet sind. Wey dies thut, der ist nicht„verschämt", sondern„unverschämt". Die„Kolonie" Friedenau , die am 9. November daS 20 jährige Jubiläum ihrer Erhebung zu einer selbständigen Land- gemeinde„feiert", beansprucht thatsächlich ein geivisses Interesse, das freilich mit dem von einigen Vereinen des Ortes ver- anstaltetcn Jubiläums-„Klimbim" nichts zu thun hat. Die Grün- dung Friedenaus führt in die Anfänge jener„Kolonisation" zurück, durch die man Anfang der 70 er Jahre der Wohnungs, noth in Berlin und noch manchem anderen abzuhelfen suchte. Mit welchen Hoffnungen und Wünschen man jene ersten Versuche begleitete, lehrt ein Anfang 1874 erschienener Aufsatz von Dr. G. Schivabe(damals Direktor des Statistischen Bureaus der Stadt Berlin ), in welchem versucht wird. zu zeigen, daß das zu jener Zeit erst erstehende Friedenau das Ideal einer„Kolonie" zwar noch nicht sei, aber ihm doch schon ziemlich nahe koinme. Der Aufsatz stützt sich auf statistische Erhebungen vom Oktober 1873. Damals be- stand Friedenau erst aus 44 Häusern mit 121 Haushaltungen und 540 Bewohnern. Ueber dieses Häuflein, das in seiner Zu- sammensetzung dem Einfluß jedes Zufalls preisgegeben war. werden die detaillirtesten Angaben nach Alter, Geschlecht. Ri- ligion, Beruf u. f.»v. gemacht, und es werden daran—»vunder- lich genug— sogar»veitgehende Schlußfolgerungen geknüpft. Unter anderem heißt es da:„In der That. schon durch die normale Mischung der Bevölkerung, in der kein Stand besonders stark hervortritt. fällt eine große Anzahl sozialer Mißstände a priori fort, die anderwärts die Schivärni- sparen zu bedenkliche» Gährungsprozessen aussenden. K»lrz. die Kolonisation macht ganz von selbst vieles wieder zur Natur. was durch die künstlichen Verhältnisse des dichten und»nassen- haften Zusanimenwohnens zur Unnatur geivorden ist." Die spätere Entwickelung von Friedenau , das heute 8550 Einivohner zählt, hat aber diese Hoffnungen zuschanden gemacht. Es sieht längst in Friedenau in bezug auf die Wohnungsverhältnisse und ihre Folgeerscheinungen nicht wesentlich anders a»ls als in Berlin . Und in den übrigen„Kolonien", die seitdem gegründet worden sind. sowie in den zahlreichen Vororten, die sich zu Filialen der Haupt- stadt entivickelt haben, liegen die Verhältnisse ebenso. Nirgends eine Spur von„normaler Mischung" der Bevölkerung, nirgends «iie Spur von Verbesserung der Wohnungsverhältnisse für die bentzlose Klasse! Die Sonderung der„Stände" wird in ven „Kolonien" und Vororten ebenso streng und nach denselben Prinzipien durchgeführt, wie in Berlin : d. h. die Wohlhabenden wohnen in angenehmer Umgebung und die Unbemittelten in den nüchternen Miethskaserncn, die bekanntlich auch in den Vor- orten für sie bereitet sind. Die besitzende Klasse xwohnt jetzt in den„Kolonien" am Wannsee, am Griebnitzsee oder am Grüne- wald noch besser, als in der Thiergartenstraße, während die besitzlose in Reinickendorf . Neu- Weißensee, Friedrichsberg. Rixdorf u. f. w. vielleicht noch schlechter wohnt, als ans dem Wedding , dem Gesundbrunnen oder am Görlitzer Bahnhof. Jene„Kolonisations"-Schwärn,er hatten vergessen, daß das kapitalbesitzende Unternehmerthum, auf dessen Hilfe sie angeiviesen blieben, den Teufel»vas nach„Mischling der Stände" und„Ver- besserung der Wohnungsverhältnisse der arbeitenden Klasse" fragt, sondern nur mitthut,»vo's was zu verdienen giebt. Die meisten neueren„Kolonien" um Berlin verdanken ihre Entstehung diese»» und keinem anderen Wunsche. Friedenau , das übrigens, zwischen Grunewald oder Wannsee und Neu-Weißensee die Mitte bildend. vorwiegend den„Mittelstand" beherbergt, ist aus die elbe Weise entstanden. Vo»n Ettave,»Handel I« Berlin . In einem Vorortblatt findet sich folgeiides Inserat:„Achtung! Achtung! Heute sind 75 kräftige Landmädchen o h n e R e i s e k o st e n von Insel Rügen und Mecklenburg eingetroffen und 21 tüchtige Ackerknechte; selbige gebe ich mit ganz billiger Provision. Um schleunige Auf- träge bittet G. M. Hoffstaedt. Berlin 0., Madaistr. 6, am Schlesi- schen Bahnhof" je. Groß ist der Unterschied zivischen Berlin und Kamerun gerade nicht mehr. Einem Betrüger»st es vor ernigen Tagen gelungen, von dem Kassirer e,ner hiesigen Gewerkschaft 19 M. zu erschwindeln. Der Betreffende gab an. Karl G e h r k e zu heißen, und will aus Württemberg gebürtig sein. Er ist etwa 24 Jahre alt, 1,75 Meter groß und trägt einen schivarzen Schnurrbart. Die organisirte Arbeiterschaft wird vor diesen» Betrüger gewarnt. Vor Hunger ist am Donnerstag Abend vor dem Hause Landsbergerstr. 106 ein junger Mann zusammen gebrochen. Vor- übergehenden, die sich seiner annahmen, erzählte er. daß er seit zwei Tagen. nichts gegessen habe. So gut es ging, sorgte das Publikum für die Wiederherstellung des Opfers unserer herrlichen sozralen Zustände.
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