Nr. 224 ♦ 38. Jahrgang
Heilage öes Vorwärts
Sonnabenö, 14. Mai 1921
GroßGerlln Markt im Zrühjahr. Di« Heller Trompetentusch klingt's über den Markt, klingt's durch den hellen Sonnenschein, der scheinbor vom dicken Kirchturm b:rlmtersteigt. Es flattern Buden und Bänder. Tausend Weiber- stimmen hängen in der Lust, durchschritten vom ernsten Männerbaß — und tausend gelb«, rote und grüne Früchte liegen leuchtend in den Körben. Dazwischen spreizen sich bunt die Blumen, liegen die Brote, schmiegt sich der Heringsdust. An den Haken der Schlächter hängen schwer und rot die Fleischstücken, zappeln die Würste. Irgendwo kollert«In Hahn, gluckst eine Henne, poltert ein Topf zu Boden. Töpfe! viel«, viele Töpfe: in heller und dunkler Glasur, braun und bunt. Wenn da ein übermütiger Münchhausen über den Platz tappeln würde. O weh! die Dienstmädchen würden singen vor Lachen und die Karpfen in den Fässern mit den Schwänzen schlagen. „Eier sind billiger, Eier sind billigerl"„Gnädige Frau, nehmen Sie einen Blumenkohl mit, der ist halb geschenkt!"„Wunderbare Saaaije—.' Es plärrt und girrt, klappert und irrt. Gleich einem Riesen- käsig mit Riesenmenschen wächst der Markt in die Mittagsstunde hinein. Wie Lochen klingt's über den Platz, um den die Häuser mäßig stehen, mit den Fensteraugen blinzelnd. Alles kaust und ver- kauft, feilscht und kreischt, nimmt und gibt mit frohen Augen, als wenn das Geld scheffelweise in den Taschen läge. Und dabei.... siehe links den Bettler und rechts die Alte, die in den Abfällen wühlt und welche gar keine lustigen Marktmusikanten sein mögen. Aber heut ist Markt; er brüstet sich Hochaus in seiner nahrhaften Herrlichkeit und schenkt uns ein Bild, wie es eine gut gelaunt« Großstadt nur zu geben vermag. Gut gelaunt? „Gnädige Frau, warum nehmen Se nich den Hering, der is doch wundcrscheen.. der fthwierige Groß-Serliner Etat. Der städtische Haushalt 1921 von Groß-Berlin wird, wie dos Bachrichtenamt des Magistrats misteilt, in den nächsten Togen vor« beraten und festgestellt werden. Dos Kommunalabgabengesetz ver- langt den Beschluß der Stadtverordnetenversammlung und die Ge- nehmigung der Steuerverteilung noch im Juni. Nachdem der unter ganz außergewöhnlichen Schwierigkeiten nachträglich aufgemachte Haushalt 1920 einen Fehlbetrag von �00 Millionen Mark erbracht hatte, lag aus der Hand, daß für 1921 nur unter schärfster Sparsamkeit in allen Ausgaben ein Gleichgewicht hergestellt werden kann. Die ersten Entwürfe liegen jetzt vor. Wenn alle in sie eingestellten Ausgaben geleistet werden sollten, so würde nach einer ersten überschläglichen Schätzung im Jahre 1921 der Fehl- betrag sich auf nicht weniger als auf 750 Millionen Mark erhöhen. Dieses unmögliche Ergebnis hat den Magistrat ver- anlaßt, die gesamten Voranschläge einer nochmaligen Be- arbeistung unterwerfen zu losien. So schmerzlich es fein mag, so muß man sich damit abfinden, daß in diesem Jahre alle Ausgaben der Verwaltung auf dos unbedingt erforderliche Maß beschränkt wer- den müssen. Auch in der dieswöchigen gemeinsamen Verhandlung des Ma- oistrots mit den Bürgermeistern der Bezirke ist diese Notwendigkest eingehend besprochen worden. Die Aufgabe der Bezirke und Ber- malttingen der nächsten Wochen wird es sein, in den bisherigen Vor- onschlägen in solchem Umfange Beschränkungen vorzunehmen, daß das Gleichgewicht des Haushalts unter allen Umständen erreicht wird. Die Verhandlungen in den städtischen Körperschaften werden im Juni beginnen. Probefahrt öerlin— Lichterfelöe-Gst. Die Vertreter der Berliner Presse waren zu einer Besichtigung»- und Probefahrt mit zwei neuarstgen Triebwagen eingeladen, die vor kurzem zwischen dem Potsdamer Vorortbahnhof und Lichter- selde-Ost und zurück stattfand. Die Einrichtung der Wagen ist in-
sofern neu und ungewohnt, als die quergestellten Bänke sich nicht wie in Stadt- und Vorortzügen auf einer Seite befinden, sondern daß immer abwechselnd eine Bank rechts, eine Bank links steht, so daß, wenn man durch den ganzen Wagen gehen will, man sich in Schlangenlinie bewegen muß. Auch faßt jede Bant nur drei Sitze, während die Bänke der Vorortwagen vier Sitze haben. Da sich 6 Doppelbänte im Wagen befinden, so fallen nicht weniger als 12 Sitzplätze aus, da der ganze Wagen nur 40 Sitzplätze saßt. Man glaubt aber diesen Verlust an Sitzplätzen riskieren zu können, well man damit bei dem auf der Untergrundbahn stattfindenden schnellen Personenwechsel auf kurzen Strecken, besonders in der Innenstadt mehr Raum für Stehplätze gewonnen hätte. Ein weiterer Vortell kommt hinzu: An jeder Längsseitc befinden sich 4 Schiebetüren, dagegen in den jetzigen Untergrundbahnwaqen nur zwei. Diese Schiebetüren, die bedeutend breiter sind als die Klapptüren der Stadtbahn, lassen ein sehr schnelles Ein- und Aussteigen zu. Auch würden jene Unfälle fortfallen, die fortwährend dadurch entstehen, daß die Klapptüren, wenn sie zu früh geöffnet werden. Draußen- stehende treffen. Da nun aber diese Wagen besonders für den Vor- ortverkehr und nicht für die Untergrungbahn benützt werden sollen, so ist bei den langen Strecken des Vorortverkehrs der Ausfall an Sitzplätzen doch so erheblich, daß man dem Publikum, besonders der arbeitenden Bevölkerung, nicht gut zumuten kann, diesen Verlust zu tragen. Will man deshalb den neuen Wagentyp nicht ändern, so müßte man unbedingt dazu schreiten, eine Anzahl leichter Klapp- sitz« anzubringen. Unzureichend ist zurzett auch die Lüftung der Wagen. Da die Fenster nicht heruntergelassen werden können und sich auch an d» Decke keine ausreichende Bcntilatton befindet, so entsteht bald eine unerträgliche Temperatur. Hingegen müßte für den Winter un- bedingt eine Heizung gewährleistet werden. Die Holzbänke, und zwar die Sitze wie die Rückenlehnen sollten in modernen Wagen doch unbedingt den menschlichen Körperformen angepaßt werden, wie das vielfach bereits in den bekannten Vorortwagen der Fall iftz Gerade Sitze und Lehnen führen zu einer vorschnellen Er- müdung des Körpers. Herr Eisenbohndirektionspräsident Wulff, der die Fahrt selbst mitmochte, wird die Härte der Bänke gespürt hoben. Im übrigen ober mochten die Wagen in ihrer Neuheit und mit ihrem ruhigen sicheren Gang einen durchaus angenehmen und erfreulichen Eindruck._ Um die Ungültigkeit der Stadtverordnetenwahl. Bekanntlich hatte der Bezirksausschuß die letzte Berliner Stadt- nerordnetenwahl als ungülttg erklärt. Dagegen hat die Berliner Stadtverordnetenversammlung durch den Rechtsanwalt Dr. R o s e n- selb Berufung eingelegt, lieber diesen Einspruch findet nun a m 16. Juni Termin vor dem Oberverwaltungsgericht statt. Die Berufung der Stadwerordneienverfammlung hat jetzt eine erhebliche Stütz« erfahren durch ein Gutachten, das der Ober- regierungsrat v. Dultzig erstattet hat, der die U n h al t b a r k« i t der Entscheidung des Dezirksausschusses nachweist. Der neue Raubmorüverfuch in Neukölln . Der Aeberfallene schwer verletzt, der Täter flüchtig. Der bereits im gestrigen Abendblatt kurz mitgeteilte Raubüber- fall auf den Zigarrenhändler Friedrich Kegel in der Hobrechtstr. 5 zu Neukölln stellt sich als eine Tat von außerordentlicher Brutalität dar. Der Ueberfallene, der bereits 73 Jahre alt ist, liegt infolge der erlittenen Verletzungen noch vernehmungsunfähig danieder. Der Greis lebte ganz allein und bewohnte ein Zimmer hinter dem Laden, was das Zustandekommen der Tat, über die uns noch folgendes be- richtet wird, erklärlich erscheinen läßt. Eine Tochter, die in der Hagelberqer Straße wohnt, erschien fast jeden Tag, um dem Greis die Wirtschaft in Ordnung zu bringen. Als sie gestern zur gewohnten Zeit, in der neunten Morgenstunde, wieder erschien, fand sie im Laden ihren alten Vater aus schweren Kopfwunden blutend besinnungslos vor. Geld aus einer leeren Kassette lag verstreut umher. Ein Arzt stellte mehrere Kopfver- letzungen fest, die von einem Messer oder einem anderen Werkzeug herzurühren scheinen. Der Verwundete wurde nach dem Kranken- haus Am Urban gebracht, wo er noch vernehmungsunfähig danieder- liegt. Nach Lage der Sache handelt es sich um einen versuchten Raubmord, der von einem Kunden, vielleicht auch mehreren, verübt worden ist. Bald nachdem der alte Mann seinen Laden auf- gemacht hat, ist jedenfalls der Verbrecher in der harmlofen Maske eines Kunden erschienen und hat Zigaretten verlangt. Darauf läßt
der Umstand schließen, daß auf dem Ladentisch ein Päckchen mit 10 Zigaretten fertig gemacht dalag. Wahrscheinlich in dem Augen- blick, �als Kegel im Begriff war, Geld zu wechseln und zu dem Zweck sich über die Ladenkasse beugte, ist der Verbrecher über ihn her- gesollen. Er hat sich dann des Inhalts der Ladenkasse bemächtigt und wahrscheinlich auch in den Taschen des Ueber- fallenen noch größere Beute gefunden. Um sich gegen Ueberraschun- gen zu schützen, hatte er die beiden Türen von innen abgeschlossen und nahm nun seinen Ausgang durch dos Küchenfenster. Der alte Mann soll 15 000 bis 20 000 M. in seiner Brieftasche gehabt haben. Ob das richtig ist und was dem Räuber in die Hände gefallen sein kann, muß auch erst noch festgestellt werden. Auf die Ergreifung des Flüchtigen ist eine Belohnung von 5 000 Mark ausgesetzt. Mitteilungen nimmt Kriminalkom- missar Gennat im Berliner Polizeipräsidium entgegen. Ein Frauenmord? Gestern vormittag wurde am L u i s e n u f e r, gegenüber der Michaelkirchwache der Schutzpolizei , ein menschlicher Unter- schenke! aus dem Wasser gezogen, der anscheinend von einer Frauenleiche herrührt. Er ist dicht über dem Knie abgetrennt worden und scheint mit einer Säge durchschnitten zu sein. Die Kriminalpolizei ist mit der Aufklärung des Fundes beschäftigt. Die juristische Sprechstunde fällt am Sonnabend, den 14., und Dienstag, den 17. d. ZI?., aus.
Die Goldzähne als Verräter. Der dreiste Diebstahl auf der Reichsbank, bei dem am 16. August vorigen Jahres dem Postbetriebsassistenten Starke bei der Ein- zahlungskasse für Papiergeld aus der Reichsbank ein P o st b e u t e l mit 143000 Mark Inhalt ge stöhlen wurde, beschäftigte die 2. Strafkammer des Landgerichts 7. Als Diebe waren die Kauf- leute S ch y g a K w i a t, der sich auch Leo Pfeffermann nannte und Peisach Lewkowicz ongeflagt. Am Tage des Diebstahls benützte ein jüdisch aussehender Mann in einem unbewachten Augenblicke die Gelegenheit, mit dem Beutel zu verschwinden. E- wurde beobachtet, wie er auf einen in voller Fahrt befindlichen Straßenbahnwagen aufsprang und alsdann einen anderen Mann heranwinkte, der ebenfalls den Straßenbahnwogen bestieg. Am Dönhoffplotz verschwanden die beiden spurlos. Die An« geklagten sollen nun die beiden Leute, die auf dem Straßenbahn- wagen gesehen wurden, sein. Mit fünf anderen sind sie in Danzig verhaftet worden, von wo aus sie nach Amerika reisen«olllen. Während die 5 wieder aus der Haft entlassen wurden, hatten sich die beiden Angeklagten wegen des Diebstadls zu verantworten. Beide bestritten ihre Schuld und traten einen Alibibeweis an. Kwiat wollte in Köln gewesen sein. Ein Zeuge bekundete jedoch, daß er an dem Tage nach dem Diebstahl in einem Lokal gehört habe, wie jüdische Männer sich erzählten, daß Kwiat eine„große Sache" gemacht habe. Er habe die ganze Nacht durchgezecht und alle freigehalten. Lewkowicz versuchte den Nachweis zu führen, daß er sich zu jener Zeit in einer Krankenanstalt aufgehalten habe. Das Gericht nahm auf Grund der Zeugenaussagen an, daß diese Alibibeweise mißlungen seien, um so mehr, als einer der Zeugen mit voller Bestimmtheit bekundete, daß er Lewkowicz sicher als den Mann wiedererkenne, der auf die Elektrische gesprungen sei, da er wie dieser den g a n z e-n M um d voller goldener Zähne hatte. Die Verteidiger hielten trotzdem die Belastungsmomente für eine Verurteilung für nicht ausreichend. Dos Gericht erkannte jedoch gegen den vor- tusij bestraften Angeklagten Kwiat unter Versagung mildernder Umstände auf 2 Jahre Zuchthaus und gegen Lewkowicz auf 2 Jahre Gefängnis und außerdem zu je 5 Iahren Ehroerlust.
„Pikatite" Presse. Wegen versuchter Erpressung stand der Herausgeber der„Neuesten Nochrichten" und der„Großstadt- b i l d e r", Detektiv Arthur Keil, vor dem Schöffengericht. Der Angeklagte paradiert in seinen Zeitungen vorwiegend mit Sensa- tiovsortikeln über allerlei Berliner Krebsschäden. Aufdeckung von geheimen Sünden, Kuppeleiasfären und mit sogenannten pikanten Enthüllungen. Er wurde beschuldigt, in zwei Fällen mit der Der- öfsentlichung solcher Artikel gedroht zu haben, wenn ihm nicht i n dem einen Falle 2000 M., in dem anderen 1000 M- als Kaufpreis für die Artikel gezahlt würden. Der Angeklagte bestritt diese Beschuldigung, der Gerichtshof sah sie
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Aber ihre Aufmerksamkeit wurde auf vielen Wegen von ihrem Aeußern auf das Innere gelenkt. Eines Tages stellte sie fest, daß sie runde Knie habe— sie würde also gut zu ihrem Manne sein! Das war an und für sich etwas Selbst- verständliches: daß sie schlecht zu jemand sei. hatte ihr nocy niemand vorgeworfen; aber es war angenehm, wenn's einem handgreiflich bestätigt wurde. Sie wurde sich mancher Seiten ihres eigenen Wesens bewußt, und daran erlebte sie zuweilen wirkliche Freude. An falscher Bescheidenheit Iltt sie nicht, das Dasein war arm genug, ohne daß sie selbst es noch ärmer zu machen brauchte. Der Vergleich mit andern fiel hier nicht gerade zu ihren Ungunsten aus,— sie meinte tm wesentlichen bestehen zu können. Es war bloß der langweilige Umstand dabei, daß die Leute meistens nach dem Aeußeren gingen! Aber als sie so in sich hineinschaute, sah sie auch Dinge. die sie nicht mit Freude erfüllten, sondern nur mit Vefremven und Erstaunen. Und manchmal bekam sie Angst. Sonne und Wind spielten mit ihr, und das Resultat war merkwürdig. Es war ein Lachen in ihrem Sinn, das lag da sozusagen auf Lager, war dauernd zu spüren als kribbelndes Gefühl, als Antrieb, selbst in ernsten Situationen loszuspru- dein. Aber außer diesem Lachen spukte auch manches andere in ihr, beunruhigende Gedanken, Empfindungen, die sie auf nichts Vekanntes zurückführen konnte. Von Tag zu Tag be- gegnete't ihr Worte und Handlungen, die etwas in ihr ver- schoben. Eine Hand hatte gedankenlos ihre Flechten umfaßt! von diesem Tage an schenkte sie ihrem Haar Beachtung, sie empfand es als etwas für sich selbst, als ein Wesen, das Auf- merksamkeit beanspruchte. Sie mußte es aufnehmen und fühlen, ob es richtig saß. mußte es lockern, wenn es zu tot auf dem Kopfe lag, und es neu flechten! Und aus Dankbarkeit darüber, daß sie sich damit beschäftigte, begann es zu wachsen, wurde dicker und weicher. Und in Stine wuchs es auch. Sie hatte seltsame Empfin- düngen, bald hier, bald da, als ob Säfte schnell zu einer Stelle im Körper strömten und nun zu einer andern. Manchmal tat ihr der ganze Körper weh— und ihr wurde schwindlig: das feien Schmerzen, die vom Wachs«, kämen, meinte Sine. De» lang« Tag konnte sie still dasitzen und dieses Sefühl ver-
folgen: in chren werdenden Brüsten war solche Unruhe. Sie hörte das Reden der Erwachsenen, ihre versteckten Andeutungen, und lauschte auf eine eigene Art: und sie sah den Verkehr der Knechte und Mägde in einem neuen Lichte. Am Sonn- abendabend versammelten sie sich auf einem der Höfe weiter landeinwärts und tanzten im Grünen zur Harmonika: Stine hatte Herzklopfen, wenn sie in der Kammer stand und sich zurechtmachte, um hinzulaufen und zuzusagen. Es kam vor, daß der eine oder andere Bursch auch nach ihr griff. Sie schlug nach ihm, war aber nicht mehr aufgebracht dabei wie früher, nur erschrocken. Das Verhältnis der Bäuerin beschäftigte sie stark. Sie sing an, manches zu verstehen,— ahnte, daß in der starken Bauersfrau verborgene Kräfte gärten, die das Licht des Tages nicht vertrugen und jahrelang im Zaume gehalten worden waren, nun aber unwiderstehlich hervorbrachen. Karen fei im gefährlichen Uebergangsalter, fagts Sine,— ein mystisches Wort, das allerlei enthalten konnte. Wenn die Bäuerin mit ihren Kleidern in Stines Nähe war, durchrieselte diese ein seltsames Frösteln, und sie verspürte einen Reiz an den Haar- wurzeln. Alles und alle wurden beherrscht von diesem Seit- samen, von dem Karen besessen war, Sine und die Arbeits- leute,— und auch der Sohn auf seine Art: ihre Blicke wurden so sonderbar, sie sprachen und taten so verstohlen, hatten ver- blümte Zeichen und Augenbewegungen. Dieses merkwürdige Grauen spukte bis weit ins Kirchspiel hinein: wildfremde Leute näherten sich und begannen, Stine auszufragen— und hielten dann inne und sprachen von Wind und Wetter. Es kam ihr so vor, als hielte die ganze Welt ein Auge auf den Bakkehof. Sein Schatten wirkte bis in die Ferne. Kam bei Zu- fammenkünften die Rede auf den Hof, so blieben die Gemüter daran hängen und beschäftigten sich nur mit dem einen: der Liebe in allen ihren geheimen, verhängnisvollen Schattierun- gen. Ein eigenartiger Glanz kam in die Augen, und alles mögliche Versteckte wurde hervorgezogen. Geheimes wuchs in jedem Winkel. Stine sog ein mit Augen und Ohren, bis sie in eine nervöse Spannung versetzt wurde: rein physische Angst er- griff Besitz von ihr und zerriß ihr Gemüt, so daß das Grauen sie packte, ohne allen Grund. Eines Tages, als sie vor dem Hof beim Mittagsmelken saß. entdeckte sie ihr eigenes Blut auf dem Melkschemel. Ein Schwindelgefühl ergriff sie; niemand hatte mit ihr davon ge- sprachen, was kommen würde, keine Mutter hatte sie behut- ja« i» das Mysterium des Leb«» eingeführt. Nim wurde
sie brutal hineingeworfen, sein Symbol, das Blut, verband sich in ihrer aufgeschreckten Phantasie mit so viel anderem Grauen. Weiß vor Schreck, wankte sie hinein. Im Tor traf sie Karl. Er fragte, was ihr fehle, und be- kam mit Mühe so viel aus ihr heraus, daß er die Ursache ihrer Angst erriet. Er lächelte gutmütig, und dos beruhigte sie: es war fast das erstemal, daß sie ihn lächeln sah. Aber dann wurde er ernst.„Daraus darfst du dir nichts machen," sagt» er und streichelte ihre Wange,„denn das bedeutet ja nur, daß du nun im Begriff bist, ein erwachsenes Weib zu werden." Stine war ihm aufrichtig dankbar für seinen Trost: sie war nicht ärgerlich darüber, daß er hierin ihr Vertrauter ge- worden war. Für sie war er nicht gerade irgendein Mann, sondern ein menschliches Wesen, ein Hilfloser, der oft s i e nötiW gehabt und nun dafür ihr wieder eine Handreichung getan hatte,— das war so einfach. Eine Aenderung in beider Verhältnis trat nicht ein, abgesehen davon, daß es Gegen- seitigkeit im Trösten schuf. Stine hatte nun auch einen, an den sie sich vertrauensvoll wenden konnte, wenn sie nicht weiter wußte. 10. Sörine kehrt heim. Stine hatte gerade die vier Buben abgefüttert, und es war gut gegangen. Auf einem kleinen Hügel hatte sie dos Vesperbrot angerichtet, und die vier hatten sich im Kreise darum lagern müssen: sie sollten lernen, hübsch still am Tisch zu sitzen und nicht umherzuspringen, mit dem Butterbrot in der Hand. Und sie sollten lernen, einander etwas zu gönnen und aus der gemeinsamen Schüssel zu essen,— damit haperte es hauptsächlich. Am liebsten wollte jeder seine Portion für sich haben und gierig dreinhauen oder am allerliebsten damit beiseite schleichen und sie ganz für sich verzehren, wie ein herrenloser Hund. Stine zwang sie, sitzen zu bleiben und aus dem gemeinschaftlichen Troge tzu essen. Gab sie einem von ihnen ein Stück, so verfolgten die drei andern das mit gie- rigen Blicken, sie hatten die Augen mehr beim Essen des an- dern als beim eigenen. Dann war sie immer wieder binter ihnen her. Neid konnte sie nicht leiden. Auch wenn sie selber satt waren, wollten sie mehr haben. Stine erkannte, wie wahr Großchens Worte waren, daß der liebe Gott den Magen vor den Augen satt macht.„Ihr sollt richtige kleine Menschen sein, wie Paul, Else und Christian," sagte sie.„Die teilen immer msteinander. wenn sie etwas haben." Und nach und nach nahmen die Kinder Lehre an. Die größeren liefen den kleineren nicht mehr fort, sondern hielten sie hübsch an der Hand»--- wenigstens solange Stine sie beobachten konnte. (Lorts- folgt.)