Nr. 243 4 ZS.Iahrgang
Heilage öes vorwärts
Vonnerstag, 2b. Mai 1421
Wie wirö öie Milchversorgung Herlins? Der Magistrat schützt die Verbraucher.— Abwehr des Wuchers.
Der 1. Juni bedeutet für das Reich und für Berlin im besonderen, eine weitere Etappe im Abbau der dem Handel wie der Landwirtschaft verhaßten Zwangswirtschaft, deren Mißerfolge gar nicht in der Methode dieser durch die allgemeine Not begründeten Wirtschaftsform zu suchen find, als vielmehr in der seit dem ersten Tage ihrer Einrichtung eingesetzten planmäßigen Hintertreibung der oolksfreundlichen Wirksamkeit. Auch in den Zeiten unerhörtester Not wollten Produzenten und Zwischenhändler das Recht haben, die Preise nach Angebot und Nachfrage zu bestimmen. Man erinnere sich des Sturmlaufs gegen die Fleisch-Zwongswjrtschaft. Man erinnere sich der lieblichen Redensarten sesiens der Agrarier und Händler, nach denen bekanntlich dafür gesorgt werden würde, daß das Volk im freien Handel gutes Fleisch zu mäßigen Preisen— etwa 10 M. das Pfund— erhalten sollte. Was ist von diesen Re- dereien wahr geworden? Fleisch ist zwar da, wer aber kann es kaufen? Das Spiel mit üen Lieferungsverträgen. Gemäß einer Verfügung des Reichsernährungsministers soll die zwangsmäßige Bewirtschaftung von Milch, Butter und Käse fallen, und zwar erstreckt sich die neue Freiheit, mit der das Volk beglückt werden soll, zunächst auf die Produzenten, das sind die Landwirte. Sie haben in Zukunft das Recht, mit ihrer Milch zu tun und zu lassen, was ihnen beliebt. Sie können, was bereits vielfach geschehen ist, mit Gemeinden und Händlern Lieferung s- vertrüge abschließen. Sie haben aber auch das Recht, die Voll- milch zu entsahnen und die Sahne zu verbuttern oder an Kondito- reien zur Herstellung von Schlagsahne zu verkaufen, während die Magermilch an die Schweine verfüttert wird. Der Lieferungsoer- trag soll nun, nach der Versicherung der Landwirte, das vorzügliche Mittel sein, dessen sich Gemeinden und Händler jederzeit bedienen können, um sich die benötigten Quanten Milch sicherzustellen. Zu- nächst ist schon recht bemerkenswert, daß, nachdem die V e r p f l i ch- tung zur Ablieferung von Milch immer mehr versagt hat, jetzt plötzlich, sobald nur erst der freie Lieferungsvertrag da ist, auch die Milch da sein soll. Mit andern Worten, die Milch ist natürlich auch heute schon da, nur wollen die Landwirte sie zu den jetzigen Preisen nicht hergeben. Ferner kommt es bei einem Liefe- rungsvertrag auf die Befristung an. Die Frist,-bis wie lange er läuft, kann kurz oder lang sein. Und nun ist die Tatsache zu ver- zeichnen, daß die Landwirte sich keineswegs an langfristige Der- träge binden, die allein doch imstande wären, auch auf längere Zeit hinaus einen bestimmten Preis festzulegen. Man rechnet vielmehr heute schon in der Landwirtschaft auf ein starkes Anziehen aller Milch- und Milchproduktenpreise zum kommenden Herbst und schließt demzufolge auch die Lieferungsverträge ab. Was das Stsi- gen der Preise im Herbst zu bedeuten hat, werden wir weiterhin sehen. Außerdem aber ist man auch bei den Produzenten kein Freund von Konventionalstrafen, das ist die Vertragsstrafe, die der Liefernde an den zu Beliefernden zahlen muß, wenn er mit der Lieferung gar ganz ausfällt. Die Dinge liegen also derart, daß die Milchproduzenten zwar mit Großhändlern und Großabnehmern Verträge eingehen, daß die Abnehmer aber bei Nichtlieferung kei- neswegs auf Vertragsstrafe dringen können. So stellen sich die Lieferungsverträge offenbar dar als das berühmte Messer ohne Heft, dem die Klinge fehlt. Die Staöt kn einer Zwangslage. Soll nun Groß-Verlin mit seinen insgesamt vier Millionen Einwohnern— also mehr als das ganze württembergssche Land zu»
sammen—, soll dieser gewaltige Wirtschaftskörper einer solchenUn- gewißheit überlassen, soll er auf Gnade und Ungnade den Produ- zenten und Händlern ausgeliefert werden? Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Gemeinden in der Uebergangszeit das Recht haben, die Belieferung der Bevölkerung sicherzustellen, und zwar durch die bisherigen städtischen Verteilungsstellen. Damit soll er- reicht werden, daß zum mindesten Kinder, Schwangere, stillende Mütter und bestimmte Kategorien Kranke nach wie vor ihre Milch erhallen. Diese Pflicht wie bisher weiter zu er- füllen, sieht die Stadt Berlin als selb st ver st änd- lich an. Auf Grund von bereits getätigten Lieferungsoerträgen sollen an Berlin vom 1. Juni ab insgesamt täglich.400 000 Liter Milch gellefert werden. Davon entfallen, gleichfalls täglich, 240000 Liter an die oben bezeichneten Kinder usw., so daß 250000 Liter im freien Verkauf zur Verfügung stehen würden. Bisher hat der Liter Milch 3 M. gekostet. Es ist das Bestreben der Stadt Berlin , diesen Preis für die Milch der Kinder, Säuglinge usw. beizubehal- ten, weil dieser Preis, an sich schon 2000 Proz. des Friedenspreises, so hoch ist, daß ihn bereits heute weite Kreise der armen und ärm- sten Bevölkerung überhaupt nicht bezahlen können und infolge- dessen die Karten verkaufen. Um einer fortschreitenden Verelen- dung vorzubeugen, müssen also die Schwangeren, Säuglinge usw. die Milch zum mindesten zu dem bisherigen Preis bekommen. Der Liter Milch kostet der Stadt selbst frei Bahnhof Berlin aber schon 2,60 M., wovon aus Fracht je nach Entfernung auf den Liter 30 bis 70 Pf. entfallen, so daß die Landwirte für den Liter immerhin noch 2 M. und darüber erhalten. Kaust die Stadt zu 2,60 M. ein, verkauft sie zu 3 M., so hat sie dabei einen Schaden von 60 Pf. pro Liter, denn die Selbstunkosten betragen nach Berechnung des Milch- amtes pro Liter 1 M. Ueber diese Selbstunkosten der Stadt ist bereits viel gestritten worden, weil man sie für zu hoch hält. Wie dem auch sei, muß die Stadt die Milch an Säuglinge, Kinder usw. weiter wie bisher zu 3 M. liefern,, so würde sie bei täglich 140000 Liter zu je 60 Pf. einen Verlust von 84 000 M. haben. Das macht im Jahre die enorme Summe von 30 000 000 M. Woher soll die Stadt dieses Geld nehmen? Vielleicht wissen die bereits erwähnten Zauberkünstler auch hier Rat. Nun bringt eine bürgerliche Korrespondenz die Nachricht, daß zwischen dem Berliner städtischen Milchamt und den Berliner Milch- Händlern Verhandlungen stattgefunden haben, in deren Verlauf die Händler dem Amt vorrechneten, daß, wenn es den Preis für die im freien Handel erhältliche Milch auf 3,55 M. pro Liter festsetze, die durch die Kartenmilch hervorgerufene Unterbilanz vollkommen gedeckt werde, ja, daß die Händler sogar noch monatlich 35 500 M. an das Milchamt rückvergüten können. Sollte die BerOhnung der Händler wirklich zu Recht bestehen, so wäre allerdings unverzüglich nachzuprüfen, wie es kommt, daß das Milchamt der Ansicht ist, es könne die durch die Kartenmilch hervorgerufene Unterbilonz nur dadurch wettmachen, daß es die freie Milch zu 4 M. verkaufen. Ob nun aber die Milch im freien Handel 4 M., ob sie 3H5 M. kostet, der Preis ist in dem einen wie dem andern Fall so hoch, daß manche Hausfrau in verzweifelte Tränen ausbrechen wird, denn 3,55 M. sind noch immer 2400 Proz. des Friedenspreises. Die Bevölkerung wird aber zweifellos auch sonst allen Berechnungen und Der- sprechungen des freien Handels mit dem denkbar größten Miß- trauen begegnen müssen, wenn sie sich der ganz ähnlichen Ver- sprechungen bezüglich Fleisch und Eier erinnert. Auch hier wurde das Blaue vom Himmel herunter— versprochen. Heute sind die Preise im freien Handel 3000 Proz. über Friedenspreis. Weiterhin aber kommen wir jetzt auf das eingangs Erwähnte zurück. Die Lieferungsverträge sind überall kurz. Jetzt, in der Zell des Grün- futters, sind die Kühe vollmilchend. Im Herbst wird das Bild we-
fentlich anders aussehen und dieselben Herren und dieselbe bürger- liche Presse, auch die demokratische, die sich in Entrüstung über die städtische Milchpolitik überfistelt, wird vermullich im Herbst, wenn die Agrarier und Händler erklären, sie müssen leider die Preise er- höhen, verlegen brummeln: Die Berliner sind ja auch rein toll nach Milch. Soviel kann die Landwirtschaft natürlich nicht schaffen. Da müssen ja die Preise— nach der manchesterlichen Lehre von An- gebot und Nachfrage— in die Höhe gehen. Nur das eine ist jetzt sicher: die die Milch am nötigsten haben, Kinder bis zu vier Jahren, stillende Mütter, Schwangere und be- stimmte Kranke, werden nach dem 1. Juni ihre Milch zum Preise von 3 M. für den Liter weitererhalten. Für die übrige Bevölke- rung, d. h. für die, die es zahlen kann, werden weitere 260 000 Liter vorhanden fein. Der Preis wird jedenfalls in diesen Tagen festgesetzt werden. Dem freien Handel aber wird in Zukunft die ganz besondere Aufmerksamkeit des Berliner Volkes gellen müssen. * Das Rachrlchlenaml des Magistrats teilt mit: Aus Anlaß der Neuregelung der Milchoerteilung und Festsetzung der Preise hat sich der Magistrat in seiner gestrigen Sitzung mit allen ein- schlägigen Fragen eingehend beschäftigt, lieber das Ergebnis der Beratung wird sofort weitere Mitteilung ergehen. Die Unterlagen für die Nachricht über eine angebllch beabsichtigte Verteuerung des Milchpreisev sind in einer Reihe von Punkten völlig unzutreffend. Vor allen Dingen kann von einer beabsichtig- tenVerteuerungderMilchum4SPfennigzuLastea des Handels keine Rede fein. Kampf um Groß-6erlin. Den PPN. wird von Onterrichteter Seite geschrieben: Aus verschiedenen Teilen des neuen Groß-Verlin laufen beim Ministerium des Innern und beim Parlament Petitionen ein. die das Gesetz der neuen Stadtgemeinde Groß-Berlin vom 27. April 1920 abändern bzw. rückgängig machen wollen. Auch im prcußi- schen Landtag sind entsprechende Anträge gestellt worden, die bereits in den letzten Sitzungen vor der Vertagung auf der Tagesordnung gestanden, aber noch nicht erledigt werden konnten. Sie werden vermutlich einer Kommission überwiesen werden, die Gelegenhell nehmen wird, die Einzelbcschwerden und eine etwaige Abänderungs- bedürftigkeit des Gesetzes eingehend zu prüfen. Schon heute kann ober gesagt werden, daß es a u ß er o r d e n t- lich schwierig sein würde, nicht bloß politisch, sondern auch sachlich die durch das Gesetz vollzogenen Eingemeindungen tell- weise rückgängig zu machen. Abgesehen davon läßt sich bei der Kürze der Zeit, während der das Gesetz vom 27. April o. I. erst in Wirksamkeit ist— die wirkliche Durchführung ist auch heute noch nicht vollständig beendet—, heute noch gar nicht sachlich beurtellen, ob die Nachteile, die in den bettefsenden Petitionen ins Feld ge- führt werden, sich nicht auch auf andere Weise als durch Rückgängigmachung zweckmäßig und zufrieden, stellend beseitigen lassen.
Der Mann im Koffer. wenn einer als Stückgut fährt. Eine tragikomische Einbrecherzeschichte, wert jedem Witzblatt zur Zie?de zu gleichen, wurde vor der Strafkammer des Land- gerichts ll verhandelt. Dort hatten sich die beiden B r L d e.r, Ar- tisten Max und Paul Arndt , anter der Anklage des versuchten schweren Diebstahls und der Urkundenfälschung nochmals zu verant- worten. Der erste Termin muhte vertagt werden, weil die Anße- klagten behaupteten, daß sie zu ihrem Geständnis durch Drohungen der Polizeibeamten gezwungen worden seien. Nach diesem Geständnis hatten sich beide einen arttgen Plan ausgearbeitet. Danach sollte sich Max, mit Einbrechwert- zeug und einigen Nahrungsmitteln ausgerüstet, in einen Koffer einschließen lassen, den sein Bruder Paul als Stückgut nach Spandau aufgeben und dabei sich selbst unter falschem Namen als Empfänger bezeichnen sollte. Auf dem Wege vm�er�orckstraße�iach�pandau�ollte�lax�m�üterw�
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Sline Menschenkind.
III. Der Sündenfall. Bon Martin Andersen Nexä. Ms Beute der Verwirrung und Berzweiflung ging sie umher; ihr war, als starrten alle Menschen sie an, als ver- hielten sich alle so wunderlich, fast feindselig. Karl blieb ihr fern; wie sie's auch einrichten mochte, es war nicht möglich, allein mit ihm zu reden. Ein gutes Wort wäre jetzt so will- kommen gewesen, aber niemand hatte es für sie übrig. Und die daheim... wenn die es zu wissen bekämen... der Vater! Eines Tages kam Sine in den Stall zu ihr hinüber- gelaufen.„Du sollst zur Bäuerin hineinkommen!" sagte sie und starrte sie an mit Augen, die starr vor Schreck waren. Stine selbst hatte keine Angst; sie hatte eher das Gefühl, daß jetzt ihre Befreiung kam. Karen saß in der guten Stube am Tisch; sie sah aus wie eine, die Gericht halten soll; sie hatte ein schwarzes Kopftuch umgenommen und hiell ein Buch in der Hand. Hinter ihr stand Karl; er sah flehend auf Stine. Aber sie gestand osten alles, wie es war,— so war's wenigstens überstanden. Bei all dem Uebeln hatte die Bäuerin doch immer in dem Rufe gestanden, recht zu tun, wenn's ernstlich darauf ankam. Sie würde gewiß anerkennen, daß Stine sich Karls angenommen hatte,— und ihr drüber weghelfen.« Aber hierzu reichte Karens Rechtssinn jedenfalls nicht aus. Vielleicht lag es daran, well sie dem Sohne gegenüber schuld- bewußt war und ihn gerne zum Mitschuldigen haben wollte. Sie ergriff für ihn Partei, schalt ihn nicht einmal aus, son- dern wandte all ihren Zorn Stine zu. „Das hat man also davon, daß man sich deiner angenom- men und dir Essen und Kleider gegeben hat," sagte sie. „Schande kriegt man zum Dank— und Unglück obendrein. Ließe man dir dein Recht zukommen, so verklagte man dich bei der Obrigkeit und begnügte sich nicht damit, dich abzu- weisen. Du kannst selber die Paragraphen hier sehen!" Karen hielt das Gesindegesetz vor sie hin und redete in feierlicher Buchsprache.„Du hast eines der Kinder des Hauses zu Schlech- tigkeiten verleitet,— Paragraph sechs. Du hast dich eines unzüchtigen Verkehrs mst einer anderen zum Hausstande ge- hörigen Person schuldig gemacht,— Paragraph zwölf. Und obwohl du ein lediger Dienstbote bist, bist du schwanger,— Paragraph dreizehn. Du hast dein Recht dreimal ein- gebüßt, und man kann mit dir tun, was man will. Mach, daß du fortkommst,— und zwar«in bißchen plötzlich�
Mit leblosem Ausdruck nahm Stine das alles hin, sie weinte nicht einmal. Da saß die Bäuerin mit dem Gesetz in der Hand, verurteilte sie nach seinem unzweideutigen Buch- staben,— und stellte trotzdem die Wahrheit auf den Kopf. Das Ganze war so sinnlos, aber Lars Peters seltsames Wort fiel ihr ein. daß der Dienende kein Recht hat. Als die Bäuerin sie aufforderte, sich davon zu scheren, ricktete sie den Blick auf Karl; zwei erstaunt fragende, unschuldige Kinderaugen schauten ihn an. Würde er gar nichts sagen? Aber er hiest sich nahe zur Mutter und sah sie an, als fei sie eine durch- triebene Verführerin. Da wankte sie hinaus, ging in ihse Kammer und packte ihr Bündel. Vielleicht war Karen der Gemütsstimmung ihres Sohnes nicht ganz sicher, sie wollte Stine so schnell wie möglich vom Hof haben; jedenfalls folgte sie ihr und trieb sie zur Elle an. Als Stine das Bündel unter den Arm genommen hatte und gehen wollte, schlug Karen plötzlich das Deckbett zurück.„Hast du da die Sünde betrieben?« sagte sie und sah ihr mit gierigem Ausdruck ins Gesicht. Stine trottete aufs Geratewohl vorwärts. Was sie wollte, wußte sie nicht; in ihr selbst war alles erloschen, und um sie her war es bitterlich kalt und leer. Nur eine Vor- stellung festigte sich etwas in ihr: sie wollte nicht nach Hause, — nicht um alles in der Welt! Es war Vorfrühjahr, der Frost war noch nicht aus der Erde gewichen: die Felder waren entsetzlich aufgeweicht. Aber sie trabte weiter, patschte durch den Morast vorwärts, blieb stecken und kam wieder los— und gelangte zur Koppel. Das Wasser stand um ihre„Jnselchen", auf denen sie ihre Nester gehabt hatte; sie mußte heranwaten. In ihren Schuhen gluckste das Wasser, und ihre Nase lief; sie weinte innerlich, mit unaufhörlichem schwachem Jammern; aber ihre Augen waren starr und trocken. In den Nestern war's kahl und kalt, das Gebüsch hatte keine Blätter; da lagen noch kleine Gegen- stände aus ihrer Spielzeit, wie sie sie hinterlassen hatte. Sie watete zurück und setzte sich auf den Moorhang, wo sie so oft gesessen hatte, mit ihrer Arbeit beschäftigt,— die Beine baumeln lassend, wie sie es gewöhnlich tat. Sie starrte in das braune Wasser hinab, wo die Hechte schon nach den Wasserkäfern jagten, und dachte an alle die trüben Geschichten, die sie von Mädchen gehört hatte, die sich in ihrer Not das Leben genommen hatten; sie dachte auch daran, wie kalt es da unten sein müsse, und ein Schauder überlief sie. Wie schwermütige Weisen hatten ihr die Berichte im Sinn gelegen, so fern und unwirklich,— und doch so traurig. E» gab Lieder darüber, und sie hatte sie hier unten gesungen und vor Mitleid dabei geweint. Aber nun wußte
sie mehr davon. Man fand sie ja,— die armen Wesen; und mit dem Kinde unterm Herzen wurden sie begraben. Und wenn der Tag kam--. Sie mußte an die Frau des Krug- wirts denken, die ihr Kind nicht wickeln konnte, und am aller- meisten an das Ungeborene, das das alles durchmachen mußte— ein stierendes kleines Geschöpf ohne Wickeln und Windeln—, daß ihr das Herz blutete. Voll Grauen zog sie sich von dem Wasser zurück und irrte ratlos umher. Oben von den Feldern rief eine Stimme, sie hob den Kopf... es war Karl. Laufend und winkend kam er herabgeeilt. Einen Augenblick stand sie empfindungslos da. dann wandte sie sich um und floh.„Ich muß mit dir reden!" Sie hörte seine Schritte hinter sich, lief, daß die nassen Röcke ihr um die Fersen schlugen, und schrie wie von Sinnen. Ueber die ganze Koppel lief sie, cm Rasmus Nytters Hütte vorbei, wo die Kinder standen und ihr erstaunt nachgassten, und weiter, bis sie auf die Kommunalstraße stieß, die zum Dorf führte. Dort verbarg sie sich in den Dünen. Erst als die Dunkelheit hereinbrach, wagte sie sich ins Dorf. Sie schlich um die Häuser herum zum Hafen hin, um niemandem zu begegnen; sie meinte, jeder müsse es ihr an- sehen können, wie es um sie stand. Lars Peter arbeitete im Boot zusammen mit seinen Kameraden; einer von diesen er- zählte etwas, und sie hörte den Vater lachen. Tief und warm dröhnte es aus seiner Brust; Stine hätte beinahe darob auf- geschrien. Hinter einem umgelegten Boot hiell sie sich versteckt; naß und erstarrt saß sie da und wartete darauf, daß er fertig werden würde. Es dauerte entsetzlich lange: die Arbeit im Boot war getan, aber sie blieben auf der Mole stehen und schwätzten. Stine jammerte in der Kälte leise vor sich hin; sie begriff es nicht, daß jemand so unbekümmert schwatzen könne. Endlich sagte er Gute Nacht und kam. Stine richtete sich auf.„Bater!" flüsterte sie. „Was zum Henker.— bist du es?" rief Lars Peter ge- dämpft.„Wie kommst du denn hierher?" Sie sagte nichts, stand nur schwankend im Dunkel. „Bist du krank, Kind?" fragte er und umfaßte sie, um sie zu stützen. Er fühlte, wie naß und elend sie war, und starrte ihr ins Gesicht.„Hast du was Unangenehmes erlebt?" stagte er. Sie wandte das Gesicht ab, und bei dieser Be- wegung stieg ihm eine Ahnung auf.„Komm, laß uns nach Hause gehen." sagte er und umfaßte behutsam ihren Arm. „laß uns zu Mutter nach Hause geben!" Seine Stimme über- schlug sich. Zum erstenmal hörte Stine ihren großen, starken Vater stöhnen, und der Laut schnitt ihr ins Herz. Da ver- stand sie im Ernste, wie verzweifell das Ganze war. (Forts, folgt.)