Nr. 273 ♦ 3$. Jahrgang
2. Heilage öes Vorwärts
Sonntag, 12. �uni 1921
GroßSerlln Der aufgefrischte Aoo. Der Zoo ist wieder auf der Höhe. Die Kriegszcit, die ihn arg mitgenommen hatte, ist jetzt für den Garten so ziemlich überwunden, zumal ihm bis in die neueste Zeit dankenswerte Schenkungen zu- gegangen sind, die manchen fühlbaren Mangel ergänzt haben. Heute fällt gleich beim Eintritt vom Tiergarten aus in der Mitte des Bärenzwingers die weiße Gestalt der geschenkten Eis- bärin auf, deren Käfig längere Zeit leer stand. Schlagen wir den großen Weg an der Nordseite des Gartens ein, so kommen wir zu dem alten Hause, das neben anderen kleinen Tieren zwei Exemplare des Landschnabeltieres, darunter des langschnäbeligen birgt, jene merkwürdigen Klookentiere, die neben den Beuteltieren die älteste uns erhaltene Form der Säugetierwelt darstellen und den eigen- artigen Fauna Australiens charakterisieren. Nach einem kurzen Be- suche bei Zebras , Pferden und Eseln schreiten wir entlang an den Gehegen des Hornviehs und schauen seltene Tiere wie Zebus, Faks, Wisente und Bisons. Der Wisent, der lange Zeit für den längst ausgestorbenen Auerochsen gehalten wurde, gehört ebenfalls zu den im Schwinden begriffenen Tierarten, findet sich im wilden Zustande nur noch im Kaukasus und wurde bisher noch in der Heide von Bialowies gezüchtet, doch hat hier der Bestand im Kriege sehr gelitten. Der Bison ist der eigentliche Büffel der Prärie Nord- rmerikas und unserer Schuljugend durch die Indianergeschichten be- sonders vertraut. Daß gleich andern Tierarten manche dieser Rinder den Garten durch Junge bereichern, ist eine erfreuliche Tatsache. Der eingeschlagenen Richtung folgend, kommen mir zu felsigen Partien und stehen bald vor der großen Inschrift, welche die Men- schenaffenstation ankündet. Da haben wir eine Sehenswürdigkeit, die der Garten vor dem Kriege nicht aufwies. Die großen Schim- pausen und der hier geborene junge geben durch ihre Menschen- ähnlichkeit den Anhängern der Abstammungslehre viel Stoff zu Beobachtungen. Bon den Felsen der Raubvögel aus machen wir einen Abstecher in südlicher Richtung, kommen zu dem großen Antilopenhause mit der prächtigen Palmenpslanzung und zu Vogelhäusern und den malerischen Teichen für Schwimmvögel. Die wenigsten Besucher dürften sich heute noch bei den Raben- vögeln des schwarzgefiederten Gesellen entsinnen, dessen Name 1869 dazu beitrug» dem damals gegründeten Aquarium einen schnellen Ruhm zu verschaffen, des in Australien heimischen, durch seine wun» derbere Kunstfertigkeit im Pfeifen von Melodien ausgezeichneten Flötenoogels. Die Wasiervögel sind wieder sehr reich vertreten und zeigen sich namenllich an den Felsgrotten an der Südfront des großen Vogelhauses in ihrer ganzen Schönheit. Unter den Stelz- vögeln ruft der ehrwürdige Marabu mit seiner philosophischen Er- scheinung so manches Witzwort hervor. Etwas weiter nach Osten konimen wir zu dem Hause, das für die Besucher unter zwanzig meist die Hauptanziehung besitzt, dem großen Raubtierhause. Von Tigern findet sich nur noch ein, dafür aber auch sehr schönes Exem- plar aus dem Amurgebiete, von Löwen aber mehrere, dazu Pumas , Wölfe, Hyänen, Schakale und ein prächtiger Luchs. Und so durch- wandern wir noch viele schöne Gegenden des Gartens, die uns auch durch Gewässer, Hügel- und Baumwuchs locken, um mit der westlichsten Partie abzuschließen. Hier besuchen wir u. a. die Fasa- nerie, deren Bestand in anerkennenswerter Weise immer weiter ergänzt wird, und zuletzt die drei Hauptbauten: Flußpferdhaus. Siraußenhaus und Elefantenhaus. Das erstgenannte hat leider nur noch einen Insassen, ein altes, seit dem vorigen Jahre oer- witwetes Flußpferd, das meist in träger Ruhe vor sich hindämmert. Zwei Zwergflußpferde, welche von Unkundigen oft für junge Fluß- Pferde gehalten werden, wohnen im Elefantenhause. Letzteres weist noch zwei sehr stattliche Vertreter des langgerüsselten Riesen unter den Landtieren auf,«inen Asiaten und eine Afriknerin, dient auch den Hissarzebus zum Heim. Außer Straußen und Kasuaren zeigen sich hier auch Känguruhs, darunter einige von beträchtlicher Größe. Man kann den Rundgang mit dem Bewußtsein beschließen, daß die berühmte Tiersammlung trotz der schweren Zeiten noch immer ihren alten Ruf bewährt. So mancher Zoologische Garten
ist in den letzten Jahren eingegangen. Der Berliner ober soll uns erhalten bleiben. » Im Berliner Aquarium sind jetzt in der Infekten- Abteilung zahlreiche interessante Vertreter unserer heimischen Kerb- tierwelt in den verschiedenen Entwicklungsstufen ausgestellt. So finden wir Gabelschwanz-, Trauermantel-, Pfauenaugen-, Bären- und viele andere Raupen, die nun bald der Verpuppung entgegen- gehen. Auch Hirschkäfer sind nicht nur in stattlichen männlichen und weiblichen Stücken, sondern auch als Larven— riesige Engerlinge— vorhanden. Die endgültigen Staötbahnfahrpreife. Einheikssatz: Z. Klasse 70 Pf., 2, Klasse 1 ZN. 3m Vorortverkehr über 10 Kilometer höher. Die neuen Fahrpreise auf der Stadt- und Ringbahn ab 1. Juli sind nunmehr endgültig fe st gesetzt: Danach bleiben die Preise im Stadt- und Ringverkehr, wie sie zunäckst in Aussicht genommen waren, d. h. der Einheitssatz für jede Fahrt innerhalb der Stadt- und Ringbahn beträgt in der 2. Klasse 1 M. und in der 3. Klasse 70 Pf.— Im Vorortverkehr werden ab 1. Juli erhoben: bei Entfernungen bis zu 10 Kilo- meter 70 Pf. in der 3. Klasse und 1 M. in der 2. Klasse. Für Eni- fernungen bis zu 23 Kilometer beträgt der Fahrpreis 3. Klasse für jede weitere 3 Kilometer 10 Pf. und bei Entfernungen über 23 Kilometer für jeden Kilometer 10 Pf. mehr. Der Fahrpreis der 2. Klasse ist um das 1,3fache höher als in der 3. Klasse. Kinder- fahrkarten kosten die H ä l f t e des Fahrpreises für Erwachsene. Militärfahrkarten werden nicht mehr ausgegeben, ebenso sind auch die Arbeiterrückfahrkartenpreise in den neuen Tarif nicht mehr aufgenommen. Besondere Hundekarten liegen für den Berliner Verkehr nicht mehr auf, für die Beförderung eines Hundes muß eine Fohrkarte wie für einen Erwachsenen gelöst werden. Die Mlndeskfahrpreise im Vorortverkehr gelten nach diesem neuen Tarif bis zu folgenden Stationen: Vom Stettiner Bahnhof noch Wittenau (Kremmener Bahn ), Wittenau (Nordbahn) und Blankenburg ; vom Lehrter Bahn- Hof nach Fürstenbrunn, Charlollenburg nach Grunewald , Spandau- West, Pichelsberg; vom Potsdamer Bahnbof nach Marienfelde , Groß-Lichterfelde -Ost und Groß-Lichterfelde-West; vom Görlitzer Bahnhof nach Niederfchöneweide-Iohannisthal und nach Oberspree; vom Schlesischen Bahnhof nach Kaulsdorf , Sadowa und Nieder- schöneweide. Die kriegsbeschädigkenabteile. Zur Sicherstellung einer bequemen Beförderung der Kriegsverletzten während der Zeiten des Berufsverkehrs hat die Eisenbahnverwaltung im Eifenbohndirektionsbezirt Berlin auf sämtlichen Strecken in allen Vorort- und Ringbahnzügen zwei Ab- teile, die unmittelbar neben den Wagen 2. Klasse liegen, als Abteile bezeichnet, die nur für die Kriegsbeschädigten bestimmt sind. Die Mehrzahl der Reisenden, die diese Abteile benutzen, sind aber kern- gesund, und nur zu häufig muß man die Beobachtung machen, daß Beinverlegte in letzter Minute humpelnd nach einem anderen Abteil hasten, um überhaupt mitzukommen. Diesen Zuständen soll nun eine Verfügung der Eisenbahndirektion Berlin an die Beamten ab- helfen, die angewiesen werden, den Kriegsbeschädigten, die sich als solche ausweisen, in den Abteilen für Schwerbeschädigte einen Platz zu verschaffen. Reisende ohne Ausweis- als Kriegsbeschädigte haben auf Verlangen in den Kriegsbeschädigtenabtcilen(durch rote Schilder gekennzeichnet) Platz zu machen. Gegen Sie Auflösung öes Schloßlazaretts. Nochmaliger Appell an die Oeffenllichkeit. Die im Schloß. Lazarett in Charlottenburg unter» gebrachten Kriegsbeschädigten hatten gestern eine Versammlung noch dem L u i s e n p l o tz einberufen, um nochmals öffentlich Protest gegen ihre Behandlung zu erheben. Es waren etwa 3000 bis 4000 Personen erschienen, unter denen sich Vertreter mehrerer Organi- sationen von Kriegsbeschädigten befanden. Iostomski vom „Internationalen Bund der Kriegsopfer" erklärte, daß dieser gegen die rigorosen Mittel protestiere, die man im Charlottenburger La- zarett in Anwendung bringe. Es sei dringend notwendig, die Auf- lösung des Lazaretts zu oerhindern und die darin be- findlichen Brüder in ihrem Kampfe zu unterstützen. Riemer (Wirtschaftliche Bereinigung Kb.) sprach sich in gleichem Sinne aus. Genosse Pfarrer Blei er wandte sich u. a. gegen die Maßregelung eines Lazarettinsassen, der im Grunde genommen doch nichts weiter
getan habe, als seinen Kameraden die Treue zu halten. Man mög« Msnschenliebe und Nächstenliebe bekunden und durch die Tat zeigen, daß man das Elend beseitigen wolle. Es sei zu wünschen, daß man den Opfern des Krieges die Schloßräume weiter belasse, um ihnen hier eine wohlverdiente Erholungsstätte zu bieten. P i r e n t e(Ber- trauensmann) unterzog die Berichte in der bürgerlichen Presse einer scharfen Kritik. In den Berichten habe man alle Dinge aufgebauscht, um die Abwehr der Kriegsverletzten in ein schlechtes Licht zu setzen. — Schließlich wurde ohne Gegenstimme eine Resolution angc- nommen, die gegen die Maßregeln der Behörden, insbesondere gegen die Sperrung der Nahrungsmittel für die Verwundeten pro- testiert und die sofortige Wiedereröffnung des Lazarellbetriebes, die Forffetzung der arztlichen Behandlung und Bewilligung der sonstigen gerechten Forderungen der Kriegsopser verlangt. Tie erschwindelte» Liebesgabenmillionen. TaS Strafverfahren gegen die Deutichamerikanerin Miß Vir» pinia Moll, die feinerzeil wegen eines ins Ungeheuere gegangenen LiebeSgabenickwindels verhahet worden ist und den ReickiSfiskuS um kolossale Summen geschädigt hat, ist so weit zum Abschluß gebracht, daß die Anllage erhoben ist und die Haupt- Verhandlung noch vor den Gerichisierten staltfinden wird. Die Anklage richtete sich gegen die verwitwete Privatiere Virginia Moll aus Lodi in Nordamerika , den Kaufmann Kurt Mautner wegen Betruges, Schleichhandels und Preistreiberei, ferner gegen den Bankbeamten Erich F l a t o w wegen Beihilfe. Der Hauptbeteiligte, Kaufmann Leo H i r f ch f e I d aus Kopenhagen , ist flüchtig geworden. Die Verhandlung, die vor dem Wuchergericht bei dem Landgericht i stattfindet, wird einen großen Umfang annehmen, da außer den von der Staatsanwaltschaft vorgeladenen hohen Beamten der in Frage kommenden Reichs- und Ministerialbehörden und anderen Personen auch zahlreiche Entlastungszeugen vorgeladen sind, io daß etwa 30 Personen als Zeugen vernommen werden sollen. Das Goldversteck im Mundwasser. UebermangansaureS Kali hat in aufgelöstem Zustand« eine fast undurchsichtige tiefpurpurne Farbe. Das benutzte ein Dieb, der eine Haussuchung erwartete. Er zerschlug allerlei Gold- fachen, die er gestohlen halte und versenkte die Stücke in eine Flasche, die mit der purpurnen Flüssigkeit gefüllt war. Das Gold war so nicht zu sehen, und der Dieb ließ die Flasche ganz offen auf dem Waschtische stehen, als ob sie sein Zahn Wasser enthalten hätte. Vielleicht hatte er vorher die berühmte Novelle von E. A. P. Oe...„Der entwendete Brief" gelesen. Doch der deutsche Detektiv Dupin war glücklicher als Bobby Poad. Wenn es ihm auch nicht gelang, einen Millionendieb zu fassen, so konnte er doch wenigstens die Goldschätze dem purpurnen Kalibade entreißen und sie dem Eigentümer wieder zustellen.
Ein großer Zuwelendiebstahl in Paris beschäftigt auch die Der- liner Kriminalpolizei. Dem Pariser Iuwelenhändler Boucheron wurde ein Halsband gestohlen, das 400 000 Fr. wert ist. Es besteht aus 87 weiß-cremfarbenen Perlen verschiedener Größe. die zusammen 333 Gramm wiegen. Das Schloß trägt einen runden Brillanten. Man vermutet, daß der Dieb versuchen wird, seine kost- bar« Beut« in einer der großen Hauptstädte zu Geld zu machen; vielleicht im ganzen,-vielleicht auch in einzelnen Perlen. Deshalb fahndet auch die Berliner Kriminalpolizei nach dem Schmuckstück. Mitteilungen sind an die Dienststelle Bl. 7 zu richten. Die Beisetzung Harry Bälden«. Unter großer Beteiligung de» Publikums fand gestern nachmittag aus dem alten L u> s e n k i r ch- h o f am Bahnhof W e st e n d die Beisetzung des auf so tragisch« Weise aus dem Leben geschiedenen Harry Waiden statt. Der An- drang der Menge war so groß, daß der Zugang zum Kirchhof durch Schutzpolizei abgesperrt werden mußte und kaum der hundertste Teil der Erschienenen in die Leichenhalle Einlaß finden konnte. Der Deutsche Bühnenverein , die Deutsche Bühnengenossenichaft, der Oesterreichische Bühnenverein, der Verband der Bühnenautoren, der Verband der Berliner Theaterdireitoren und zahlreiche andere hatten Deputationen entsandt. Nach einleitendem Cborgesang und der Trauerrede des Pastors der Luisenkirche widmete Präsident Rickelt namens der Bühnengenossenichaft und des Wiener BurgtbeaterS dem Dahingeschieden ergreifende Abschiedsworte. Nach Rickelt sprach namens deS Deutschen Theaters Bertbold Held, namenS des Deutschen BühnenvereinS der geschäftSsübrende Vorsitzende Aitur Wolfs, für die deutschen Bühnenschriftsteller Ludwig Fulda und schließlich am offenen Grabe, das Tausende von Menschen tief bewegt umstanden. Direktor Alfred Halm . Dann senkte sich der Sarg in die Grube, auf den Hunderte und Hunderte von Händen die letzten Schollen warfen.
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Die Rächer. Roman von Hermann Wagner.
„Beweisen Sie es mir... Schlagen Sie,— schlagen Sie — Ihren Nebenbuhler aus dem Felde. Ihn. Den einen..." Sie sprach das Wort„schlagen" leise aus, zog es hin und gab ihm einen Ton, der in seiner Grausamkeit etwas Lieb- kosendes hatte. Er sah Blut, aber es schien ihm. als ob es zwischen pmgen Blumen rönne. Gar nichts Abschreckendes hatte das, dafür viel, das ihn reizte, sich um seine Sinne wie ein süßer Dust legte. Von diesem Tag an haßte er sie, weil er wußte, daß er sie würde lieben müssen, was immer sie ihm auch antäte. Und von dieser Stunde an wurde es ihm zur Gewißheit, daß jener Mann, jener andere, jener eine, den sie meinte und von dem er wußte, daß sie ihn liebte, ihm verfallen war. Und von diesem Augenblick an, da er sich über dies im klaren war, blühte ein seltsames Gefühl in ihm auf, ein Gefühl des Milleids mit diesem Fremden, so, als bedauerte er es, daß er ihn, der von ihr verurtellt und der ahnungslos war, töten mußte... Es kamen Tage, an denen sein Blut so ungestüm nach ihr verlangte, in so weher, blinder Glut, daß er das Gefühl hatte, jedes Verbrechens, auch des abscheulichsten, fähig zu sein. Dann wurde es dunkel vor seinen Augen und eine Stimme schrie ihm heiser zu:.Eile, eile— denn du hast keine Zeit!" Unablässig grübelte er darüber nach, wie er zu seinem Ziel gelangen könnte, mit einem Schlag, über Nacht. Mitten in der Arbeit konnte ihn dieser dunkle Drang an- fallen, so daß er stöhnend auffah und stundenlang abwesend vor sich hinstarrte..Wie?" jagten unablässig die Gedanken in ihm.„Wie?" Er ersann die unmögstchsten Gelegenheiten und Situatio- nen, Duelle, Ueberfälle, heimtückische Morde. Und'er trat zitternd vor sie hin, vor sie, die ihn zum Bösen trieb, und suchte in ihren Augen. Diese sprachen, in- dem sie schwiegen. Und sie schenkten sich ihm ganz, ganz und gar, in all chrer rätselvoll lockenden Tiefe.„Tue es," schmeichelten sie,„du tust es für mich!" Da überraschte den Schwankenden ein Zufall, als wäre er eine Schickung. Unvermutet stand er dem Mann, der ihm im Wege war, gegenüber, nachts, in der helldunklen Bsleuch- mng des Nu» m D« Wohnung Lena»,
Er erstarrte, als er ihn sah. Sein Atem stand still, und vor seinen Augen kreisten rote Räder. Alles Blut stieg ihm zu Kopf und machte ihn trunken. Drinnen wartete sie... Er sah ihr Lächeln, fühlle ihre Locken und sehnte sich namenlos nach den Armen, die ihn umfangen sollten, um ihn für immer zu binden. Da hob er mit einem Lachen, das voll hallender Freude war, voll Befriedigung und voll Befreiung, die Waffe, die er ständig bei sich trug, und richtete sie auf den Mann, der zurück- wich, in Todesangst, schreiend, die Arme vor das Antlitz haltend, um dem Anblick des scheinbar Wahnsinnigen zu ent- gehen. Und plötzlich krachten die Schüsse, rasck hintereinander, hart, das Hell-Dunkel mit metallener Schärfe durchschneidend.. Aber die Schüsse weckten ihn auf. Wo war er? Was hatte er getan? Er stand sich selbst plötzlich wie einem Unbekannten gegen- über, besah sich, bestaunte sich und gewann doch keine Klarheit über sich. Er starrte auch auf sie. die aus dem Zimmer stürzte, wie auf eine Fremde, verwundert, feindselig, aber jetzt völl,g ohne Haß und ohne Liebe. Sie war blaß, jedoch ihre Augen leuchteten.„Sie," rief sie laut und kalt und so grausam, daß er vor ihr erschrak. „Sie,— was haben Sie getan?" „Getötet," sagte er müde, wie erschöpft von einer An- strengung, die Jahre gewährt hatte. „Nein," höhnte sie ihn,„er lebt!" „Er lebt?" In ihrer Stimme war derselbe Jubel wie in der Geste, mit der sie jetzt den Geretteten umfing.„Stümper!" schrie sie.„Narr! Mörder!" Die Worte trafen ihn, als kämen sie aus weiter Ferne, sein ganzes bisheriges Leben winkte ihm aus dieser Feme zu, vor ihm enteilend, während er zurückblieb, in einem neuen Leben, das er noch nicht kannte, dessen Schrecklichkeit er aber ahnte, unter Menschen, die ihn nun hielten, fessesten, mit sich fortschleppten... *** Der Direktor legte das Manuskript weg und sah den Pastor an. Dieser schien geniert und unschlüssig, wie er sich zu ver- halten habe, Wieder rieb er sein« gepflegten Hände, ,3a,"
sagte er schließlich und dehnte die Worte,„so. wie Sie das lesen, ist es ein Roman..." „Es ist die Wahrheit," entgegnete der Direktor,„nur mit mehr Wärme gesehen, als ein Gerichtshof sie aufbringt." Der Pastor wischte diese Worte mit einer frommen Geste gleichsam aus.„Sie haben recht," sagte er friedfertig und machte doch- zugleich ein unnahbares Gesicht,„der Mann war' kein Charakter, er verdiente seine Strafe." „Fünf Jahre, die er als ein Bereuender und Gebrochener entgegennahm, um sich bald darauf mit seinem Schicksal zu versöhnen." Der Direktor zündete sich eine neue Zigarre an und gab seiner Stimme etwas Lässiges, als verachte er den Mann, über den er sprach.„Wie jedem Einfluß, so unterlag Hermann Reisner sehr schnell auch dem des Gefängnisses. Das Ge- fängnis modelte ihn um, wie ihn jenes Weib umgemodelt hatte: aus einem Mörder wurde ein Büßer. Er, der nie ein starkes Ich besessen hatte, besaß auch hier keines und nahm gern jenes Ich an, das man hier von ihm verlangte. Deshalb wurde er ein Mustergefangener. Und so geht er übermorgen in die Freiheit, um dort von dem, dem er zuerst in die Hände fällt, wieder ein neues Ich zu erhalten." „Wobei wir hoffen wollen, daß es ein gutes Ich sein wird," sagte der Pastor mit Nachdruck.„Aber Sie sprachen noch von einem zweiten Fall— dem Fall--" „Behrens," nickte gelassen der Direktor, sog nachdenklich an seiner Zigarre, griff nach dem zweiten Manuskript und las: 3. An einem heißen Augustnachmittag des Jahres 1893 hatten zwei Boote, die auf der Hamburger Außenalster fuhren, einen aufregenden Anblick. Etwa einen halben Kilometer von ihnen entfernt schwamm ein drittes Boot, deffen Insaffen zwei Männer waren, deren heftige Gesten darauf schließen ließen, daß sie erregt mitein- ander strstten. In dem einen der zwei zuschauenden Boote saß ein junger Mann, ein Handlungsgehilfe, der seinen freien Nachmittag dazu benützt hatte, mit seinem Freund und besten Braut, die sich in dem anderen Boot befanden, auf der Alster zu rudern. Dieser junge Mann ließ nun die Ruder sinken, richtete sich auf, zeigte auf die in der Ferne Streitenden und sagte lachend:„Was die nur haben!" In dem gleichen Augenblick aber stieß er einen lauten Schrei aus.(Fortsetzung folgt.)