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Nr. 317 38. Jahrgang

Seilage öes Vorwärts

Ireitag, 8. Juli 1921

GroßGerlm Zum tzohn auf Sie Republik ! Im dritten Jahr der Republik haben manche Reich»» und Staatsbehörden noch nicht begriffen, daß sie sich nicht mehr .kaiserlich' und.königlich' nennen diirfen. Zu der Liste der imVorwärts' veröffentlichten Fälle, in denen diese Be- zeickmungen versehentlich oder wissentlich beibebalten worden sind, kommen immer noch neue Beiträge aus unserem Leserkreise. Nach wie vor treibt die Postverwaltung es am schlimmsten. Immer wieder wird uns gemeldet, daß Postämter es hat kaum noch einen Sinn, sie hier einzeln zu nennen an den Hausfronten als.kaiserlich' bezeichnet werden. Dar- unter sind solche, die imVorwärts' schon früher genannt wurden, bei denen aber seitdem nicht? geändert worden ist. Eigenartig berührt es, daß auch die Justizverwaltung die gesetzlich durch die Verfassung festgelegte Aenderung der Staatsform nicht so, wie es nötig wäre, beachtet. Warum.prangt' das Wort .Königlich' noch an GerichlSgebäuden, wie z. B. in Neukölln am Amtsgericht und in Charlottenburg am Landgericht? In Char- lottenburg sind solche wie eine Verhöhnung der republikanischen Verfassung wirkenden Ueberbleibsel der monarchischen Zeit besonders häufig. Das Hauptzollamt in der Berliner Straße.schmückt' seinen Eingang noch mit einem Wappenschild, dessen Inschrift diese Behörde für.königlich' ausgibt. Das Charlottenburger Standes- amt in der Lützower Straße hat in der Haustürnische die vor kurzem von uns gerügte Bezeichnung.Königlich' inzwischen durch Ueberkleisterung verdeckt. Dagegen sieht man am HauSeingang des Charlottenburger Standesamtes in der Rankestrohe noch ein Wappenschild, deffen Inschrift das»Königlich' in unversehrter»Schön- heit' zeigt. Auch Schriftstücke mit Stempeln, aus denen die Worte .Kaiserlich' oder.Königlich' nicht getilgt sind, sind uns wieder noch vorgelegt worden. Daß auch hier wieder die Post dabei sein zu müssen glaubt, wundert uns schon lange nicht mehr. In der Haupt- kaffe des Postamts Berlin 3 sFranzösische Straße) wird noch ein .kaiserlicher' Dienststempel benutzt, und dasselbe geschieht im Paket- Postamt. Ebenso kommt es bei der Post immer wieder vor, daß sie Formulare weggibt, auf denen sich da« Wort.Kaiserlich' gänzlich unausgestrichen präsentiert..Königlich' nennt sich noch daS Standesamt in Wilhelmshagen auf einem auS der monarchischen Zeit unverändert beibehaltenen Handstempel, der einem um Mitte Juni 1821 von dort abgesandten Brief auf- gedrückt ist. Gleichfalls im Juni 1821 benutzte die Kanzlei der Eisenbahndireklion Berlin noch einen Handstempel mit dem Zusatz .Königlich', wie wenn wir keinen November 1818 gehabt hätten. Auch die Eisenbahnstationskasie in Eberswalde stempelt nochtönig- lich' zur höheren Ehre Wilhelms des Letzten, des nach Holland aus- gekniffenen Deserteurs. Gegenüber dem fortdauernden Gebrauch solcher Handstempel wird es schwer, noch an ein bloßes Versehen zu glauben. Wie die Zuschriften aus unserem Leserkreis zeigen. ist man in weiten Kreisen der Bevöllerung der festen Meinung, daß die Beibehaltung der.Königlichkeit' und.Kaiserlichkeit' in Hand- stempeln, auf Formularen und an Dienstgebäuden weiter nichts als eine drei st e Provokation sei. Es ist uns nicht möglich, alle uns über derartigen Unfug zu- gegangenen Mitteilungen hier wiederzugeben. Erwähnen wollen w'r aber bei dieser Gelegenheit, daß auch Privatpersonen da« Treiben mitmachen und sich keck noch.Hoflieferanten' nennen. Als.Hoflieferant' wird noch die Firma C. Epner in Berlin am Molkenmarkt durch Inschrift an der HauSfront ange« priesen. Auf eigene Art soll die Butlerfirma Gebrüder Groh die Frage gelöst haben, was sie mit ihrem Hoflieferantentitel machen soll. Wir sehen ihn noch groß und breit in den Jnichrifren an ver- schiedenen Filialen, die in den.nobleren' westlichen Teilen Groß« Berlin« gelegen sind. Bei manchen derjenigen Grob-Filialen aber,

die in den Stadtteilen des Ostens und Nordens liegen, ist der Hoflieferantenritel wie man uns mitteilt beseitigt. W i r haben allerdings sogar in den mindernoblen' Stadtteilen noch leine Filiale der Gebr. Groh gesehen, bei der wirklich alle Spuren der ehemaligen Hoflieferantenherrlichkeit beseitigt wären. Dreist unö gottesfürchtig. Unberechtigte Kirchen st euereinforderungen ge- hören bei der evangelischen Berliner Stadffynode anscheinend zu den unausrottbaren Dingen. Solche imVorwärts' schon oft be- sprochenen Mißgriffe kommen immer wieder vor und immer wieder machen sie böses Brut bei den nicht Kirchensteuerpflichtigen, die mit derartigen Forderungen belästigt werden. Verwunderung erregt dabei gewöhnlich die Unbefangenheit, mit der die Kirche dem Belästigten obendrein die Pflicht zuschiebt, seinerseits den Nachweis zu führen, daß er tatsächlich nicht kirchensteuerpflichtia ist. Das entspricht den bisherigen auf Gesetzesbestimmungen sich stützenden Gepflogenheiten im Steuer- wesen überhaupt, wo ja jeder einer Steuerpflicht verdächtige Staats- bürger von der Steuerbehörde nach dem Grundsatz behandelt wird: Ich behaupte alles und erwarte den Gegenbeweis." Daß aber auch die Kirche nach ähnlichem Rezept soll verfahren dürfen, will vielen Leuten nicht in den Sinn. Wer schon vor Jahrzehnten so vernünftig war, seinen Austritt aus der Kirchengemeinschaft zu voll- ziehen, und ihn in vorgeschriebener Form beim Gericht zu Protokoll zu geben, der kann sich doch noch jetzt plötzlich mit einer Kirchen- steuerforderung überrascht sehen. Wenn er denWisch" unbeachtet beiseite wirft, könnte er eine neue Ueberraschung erleben; denn bei Unterlassung des Widofpruchs darf die Kirche auch ihre unberech- tigte Forderung schonungslos eintreiben. Wer aber die empfehlens- werte Vorsicht übt, Widerspruch zu erheben, erhält vom geschäfts- führenden Ausschuß der Berliner Stadtsynode etwa folgenden Be- scheid, wie ein Leser unseres Blattes ihn uns jetzt wieder vorlegt: Sie sind uns als evangelisch zur kirchlichen Steuerung über- wiesen worden. Außerdem sind Sie nach Auskunft des Ein- wohnermeldeamts dort als evangelisch verzeichnet. Sie können deshalb von der Kirchensteuerpflicht nur dann befreit werden, wenn Sie uns innerhalb 14 Tagen durch Urkunde(Taufschein, Aus- trittsbescheinigung) den Nachweis liefern, daß Sie der evange- lifchen Kirche nicht angehört haben oder aus der evangelischen Kirche in der gesetzmäßigen Form ausgeschiedn sind, oder uns angeben, an welchem Tage, bei welchem Gericht und unter wel- chem Aktenzeichen Sie den Austritt erklärt haben. Nach Ablauf obiger Frist mühten wir annehmen, daß Sie den Ihnen obliegen- den Nachweis.ffcht erbringen wollen. Das Einziehungsverfahren wird dann fortgesetzt werden. Der Mann, der mit dieser unberechtigten Kirchensteuereinforde- rung belästigt wird, weist uns durch Ueberreichung der amtlichen Schriftstücke nach, daß er bereits am 30. Oktober 1895 aus der katholischen Kirche und seine Frau am 2 7. September 1919 aus de» evangelischen Kirche ausgetreten ist. Man beachte hier, daß der Mann überhaupt niemals der evangelischen Kirche angehört hat, an die er jetzt Steuern zahlen ,olll Das ganze Vorgehen der Ver- liner Stadtsynode, die unberechtlgterweise Steuern von ihm for- dert und ihm dann den Beweis der NichtVerpflichtung auferlegt, erscheint ihm als eine Dreistigkeit, die nicht dadurch gemildert wird, daß sie mit Gottesfurcht gepaart ist Es ist skandalös, daß die Kirchcngemeind-m immer noch kein Mittel gefunden haben, sich selber Gewißheit darüber zu verschaffen, wer zu ihren Mitgliedern gehört und wer nicht. »Kronen entlaufen." Ein hiesiger Kau'mann, der im Besitz von 850 000 öfter- reichischen Kronen war, hatte mit deren Verkauf einen Kauf- mann Falzgraben beousiragt. Dieser gab an, das Geld in Hamburg günstig verkaufen zu können. Als er sich ans der Reise dorlhin be­fand, sandte er an seinen Auflraggeber ein Telegramm»Kronen entlaufen, Verfolgung aufgenommen'. Der Enip- fänger wartete zunächst auf aussühilicheren Bescheid und erfuhr, daß seinem Beauslraglen naw besten Angaben das ganze Geld auf der Fahrt im v-Zuge gestohlen worden sei. Er gab an, das Pake! mit den Noien in leinen Mantel gewickelt und aut das Gepäcknetz gelegt zu haben. Ein Dieb habe ihm nun den Mantel mir dem Gelde gestohlen. Dre Verfolgung, die er aufgenommen habe, sei jedoch ergebnislos gewesen. Die Sache erschien jedoch verdächtig

und die Kriminalpolizei stellte fest, daß Falzgraben vor seiner Reise schon hier in Berlin einen Teil der österreichischen Kronen in deutsches Geld umgesetzt hatte. Er wurde deshalb unter dem dringenden Verdacht, die ganze Summe unterschlagen zu haben, festgenommen. Die Trinkgeldfrage in der Oefsentlichkeit. Der Zentralverband der Hotel -, Restaurant- und Eafe-Ange stellten erläßt folgenden sehr bcachtens- werten Aufruf an das Publikum: Das Trinkgeldunwesen ist durch das Vorgehen der Gesellschaft für Soziale Reform zu einer das gesamte Publikum angehenden Frage geworden. Alle Stände und Berufe sind gleich stark daran interessiert. Als das Gesetz den Steuer- abzug von 10 Proz. für alle Arbeitnehmer vorschrieb, ging ein Rau- schen der Entrüstung durch ganz Deutschland . Wenn aber irgendein Gastwirt seinen Gästen eine Steuer von 10 Proz. in Form von Be- dienungsgeld vorsetzt, so wird das mit Achselzucken hingenommen. Würde man es sich gefallen lasten, wenn die Warenhausbesttzer, um die Löhne für die Angestellten zu sparen, an der Kasse zu den Ver- kaufspreisen einen Aufschlag von 10 Proz. für die Bedienung des kaufenden Publikums erheben würden? Die Steuerlasten, die jedem Arbeiter und Angestellten heute auferlegt werden, sind, wie man immer wieder hört, für jeden einzelnen drückend. Aber trotzdem be- zahlt das Publikum geduldig immer noch besondere Steuern in Form des Trinkgeldes in ziemlicher Höhe. Wer trägt nun eigentlich die Schuld an diesen Zuständen? Zum größten Teil das Publikum selbst. Wer Trinkgeld gibt ist mindestens ebenso schuldig, wie der- jenige, der Trinkgeld nimmt. Nur im Interesse des Publikums liegt es, den Kampf gegen das Trinkgeld zu führen. Eine Unsitte des Mittelalters wird auch durch die Tatsache jahrhundertelanger Ueber- lieferung zu keiner sittlichen Einrichtung, und die Ungerechtigkeit des Vorenthaltens einer geregelten Entlohnung wird durch die Berufung auf ihr Alter noch lange keine Gerechtigkeit. Deshalb fort mit dem alten Zopf, fort mit dem Trinkgeld! Wenn die Trinkgeldgeber aus- sterben, werden gleichzeitig auch die Trinkgeldjäger mit beerdigt.

Granaten im Gntsteich. Auf dem Rittergut Marienfelde befindet sich in der Mitte des Gutsbofes ein Teich. Als gestern vormiltag mehrere Landarbeiter mit der Reinigung des Wassers beschäftigt waren, fanden sie auf seinem Grunde 11 Stück 7,5 ow- und 2 Stück 10 om-Granaten. Der Fund wurde der Schutzpolizei übergeben.

Die SPD. -Elkernbeiräie Eharlokkenburgs nahmen in ihrer letzten Sitzung Stellung zu zwei infolge der Etatstürzungen notwendig ge- wordenen Maßnahmen des Bezirksamts VII, die für das Wohl der Schuljugend von ganz besonders nachtelliger Wirkung fein werden. Seit Jahren wird in den Charlottenburger Schulen nach Be- endigung des Unterrichts im Interesse der Schulhygiene eine tägliche Reinigung der Klastenzimmer vorgenommen. Durch die eingetretenen Etatskürzungen aber soll in Zukunft nur noch dreimal wöchentlich eine Säuberung der Schulzimmer statt. finden. Die SPD. -Elternbeiräte Ehorlottenburgs erheben gegen die für das körperliche Wohl unserer Schuljugend so bedenkliche Maß- nähme ganz energischen Protest. Als eine geradezu erschütternde Bedeutung für das Charlotten- burger Schulleben aber muß die beabsichtigte Beschränkung der Zahl der Schulpflegerinnen von 18 auf 5 be- trachtet werden. Die Schulpflegerin ist das Bindeglied zwischen Schule und Heins, zwischen Lehrer und Eltern; sie ist dierechte Hand' des Schularztes, eine unentbehrliche Hilfskraft des Lehrers für die Behandlung und Beurteilung der Kinder; sie erforscht die häuslichen Verhältnisse, sorgt für die Unterbringung der Kinder in Ferienkolonien, Waldschulen, Walderholungsstätten und Landaufent- Haltsstellen: in ihrer Hand liegt zum Teil die Organisation der Schul- und Quäkerspeisung: sie ist kurz gesagt vom sozialen Standpunkte aus betrachtet die wichtigste Persönlichkeit im ganzen Schulleben überhaupt. Und ausgerechnet diese wichtige Kraft, die überdies für ihre Mühewaltung noch eine ganz unzureichende Entlohnung erhält, soll unseren Charlottenburger Schulen wieder genommen werden. Gegen diese unsoziale Maßnahme erheben die Charlottenburger Elternbeiräte im Namen der dadurch besonders betroffenen Arbeiter- beoölkerung gleichfalls ganz entschieden Protest. Dezirksbiidongsausschuß Groß- Berlin. Jeden AbendDer Kuhreigen ' im Wallner-Tbeater. Eintrittskarten d 7,60 M. Für alle Sonntagsnacbmiltags-Opernauffübrungcn im Tbealer der

24s

Die Rächer.

»Und

Roman von Hermann Wagner. Er schüttelte schon wieder gleichmütig den Kopf. dennoch i ch w ill.. i!" Und wohin wollen Sie?" Er war plötzlich wieder sehr ernst und ruhig.Ich weiß es nicht. Ich weiß nur. daß ich den Weg, den ich gehe, bis an sein Ende, bis ans Ziel gehen muß. Und ich denke, daß ich dieses Ziel eines Tages sehen werde. Dann will ich es Ihnen zeigen." Ich werde warten." sagte sie.Und ich glaube, daß ich nicht lange werde warten müssen. Der Weg, den Sie gehen. führt in die Unendlichkeit, wie alle Wege, die wir machen... Aber der Ihre ist beschwerlich. Sie werden bald müde sein." Und dann... dann wollen Sie mich aufnehmen... und inich bei Ihnen ruhen lassen?" Ja." Er nahm ihre beiden Hände und küßte sie dankbar:Gut. wir wollen warten." Er führte sie selbst hinaus, bis hinunter in den Garten. Er sah ihr nach, bis sie verschwand. Dann kehrte er ins Haus zurück. Prokop!" rief er erregt und freudig.Packen! Packen! Wir müssen reisen! Wir muffen fliehen!" Er nahm die Papiere, die sie bei ihm zurückgelassen hatte. wog sie in den Händen und dacstte: Es wäre unlog'.fch, wenn ich ihr gegenüber bereuen würde, es wäre ein Verrat an meinem Grundsatz. Sie erwartet es auch nicht. Denn sie kennt jetzt meinen Weg. Er rief seinen Diener.Prokop," sagte er, rasch die Adreffe der Frau von Marisch auf das Paket schreibend,die gnädige Frau hat dieses hier vergeffen. Bringen Sie es zur Post!" meinen Abschiedsgruß," ergänzte er in Gedanken. III. Lucle. 11. Reiener machte fein« Reise, nicht um sich zu zerstreuen. sondern um sich zu sammeln, nicht um sich zu vergeffen, sondern um sich wiederzufinden. Wes, was er sah, Menschen. Orte, Dinge, betrachtete er mit einer stummen Erwartung: würde es ihm sagen, was er nicht wußte: wer er war?

Er suchte in den Augen der Menschen zu lesen, was sie über ihn dachten, und er las nur Gleichgültigkeit. Eindring­licher redeten schon die Dinge auf ihn ein. Es war, als ob sie zu ihm sagten: grüble nicht, lebe! Und gar von den Land- schaften empfing er immer wieder die erhabene Mahnung: Sei wie wir, sei ohne Schuld! Wir atmen, wachsen, blühen, tragen Früchte und welken und uns bedrückt keine Erinne- rung an die Vergangenheit und uns schreckt keine Furcht vor der Zukunft! Doch er wurde um so unruhiger, je ruhiger der Rahmen war, in den er sein neues Leben hineingesetzt hatte. Er sah es, daß er vor sich selber floh, wo er doch ausgezogen war, sich zu finden. Er war das Gegenteil von Petxr Schlemihl: der Schatten, dem er zu entkommen trachtete, blieb ewig bei ihm! Er fuhr nach München und wußte, dprt angekommen, nicht, was er dort wollte. Cr schlenderte planlos durch die Straßen und hatte das Gefühl, verkauft zu fein. Er besuchte Caf6s und Theater und langweilte sich tödlich. Er knüpfte auch, von einer grauen Verzweiflung gepackt, galante Be- kanntschaften an, löste sie aber schon wieder, kaum daß sie ein paar Minuten gedauert hatten. Mit keinem Menschen kam er in Fühling, immer gähnte zwischen ihm und den anderen ein toter Raum. Er kam nach Innsbruck . Es entging ihm nicht, daß Töne und Farben hier anders waren, und er blieb auch eine Weile neugierig, um bald doppelt enttäuscht zu werden, da er dem Neuen in dieser Stadt um keinen Schritt näher kam. Er merkte es, daß die Menschen in seiner Gegenwart stiller wurden oder gar verstummten, sicher aus dem instinktiven Verdacht heraus, j einen vor sich zu haben, der ihnen irgendwie feind war. Und er dachte mit Erbitterung an das Mal auf seiner Stirn, das, ohne sichtbar zu fein, doch immerhin fühlbar blieb. Er schickte Prokop mit dem Gepäck über den Brenner vor- j aus und wandte sich selbst in tagelangen Fußmärschen süd-' wärts. Die Einsamkeit tat ihm schließlich doch wohl. Wie Menschenhasser, um des in ihnen brach liegenden Ueberfchuffes! an Liebe ledig zu werden, sich oft mit einer für sie erstaunlichen Zärtlichkeit Tieren und der Natur zuwenden, so liebte es auch Reisner jetzt, stundenlang im Walde dem Rauschen der Bäume zu lauschen, seinen Blick voll nachdenklicher Melancholie an den Wolken hängen zu laffen und mit Hunden, Vögeln, Käfern stille Gespräche zu führen. Er kam allmählich bis Brixen und dann immer südlicher nach Bozen . Dort erwartete ihn Prokop. Et schickte ihn aber- mals voraus diesmal bis Meran , um ihm auch ein zweites Mal als Fußgänger zu folgen, jetzt ein sonniges, warmes,

blühendes Tal durchschreitend, das, von einem tiefblauen Himmel überwölbt, in der Ueppigkest seines saftigen Grüns einem paradiesischen Treibhaus glich. Ueber diesem neuen Himmel stahl sich ganz jäh eine ihm noch neue Heiterkeit in sein Herz. Er erwachte eines Morgens in einem Landgasthof, von der summenden Wärme draußen geweckt, die durch die offenen Fenster in breiten Wellen zu ihm hereinfloß. Er sprang aus dem Bett, wusch sich kalt und saß dann unten in der Veranda beim Frühstück, von einem jungen Mädchen bedient, dessen blendend weiße Schürze alle Strahlen der Sonne auf sich zu ziehen schien. Das Mädchen lachte ihn freundlich an und begann ein Gespräch mit ihm, in dessen Verlauf er erfuhr, daß dieses Kind kaum siebzehn Jahre alt war, Klara hieß und aus einem Dorf in der Nähe Klagenfurts hierher in Stellung gekommen war, die ihre erste war. Klara sprach ein reines Deutsch, in dem der weiche Dialekt der Kärntnerinnen kaum wahrzunehmen war. Sie hatte jene biegsame Schlankheit, die nicht ohne beginnende Fülle ist. Ihre Augen und ihre Haare waren braun und sie hatte kleine, fleischige Hände, die noch nicht schwer gearbeitet hatten. Reisner bat sie, sie möchte mit ihm eine Stunde spazieren gehen. Sie sagte auch zu. Und des Abends schritten sie wirklich nebeneinander auf einem Wiesenpfad, der durch Büsche und Gestrüpp zu einer uralten Ruine hinaufführte, in deren düsteren, zerfallenen Toren, Bogenfenstern und Mauern ein romantischer, kühler Moder hing. Es wurde dunkler, und sie saßen nebeneinander auf einer Bank, ohne mehr als dann und wann einen halben Satz zu reden. Es war auch nicht nötig, daß sie sich mit Worten ver- ständigten, denn etwas ganz anderes war zwischen ihnen, das sie einander nahe brachte und sie eng miteinander verbad. Es war dies die geheimnisvolle Kraft eines dunklen Verlangens, das aus ihnen beiden aufwuchs und das sich danach sehnte, von dem andern gefühlt und gestillt zu werden. So legte Reisner nur stumm den Arm um Klara und küßte sie auf den Mund. der ihm entgegenblühte, jung, durstig und stark... Als wäre damit alles zwischen ihnen ins reine gekommen. fanden sie nun auch Worte, um sich zu sagen, daß sie einander gern hätten. DasDu" fiel zwischen ihnen und riß die letzten Schranken fort. Sie spürten, daß sie jung waren und da; Recht batten, jung zu sein. Ihre Zuneigung zueinander hatte keine Hindernisse zu überwinden. Es war einfach so: sie nahmen einander und gaben einander wieder frei... (Forts, folgt.)