Nr. 272.
Erscheint täglich außer Montage, Preis pränumerando: Vierteljährlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 Mt., wöchentlich 28 Pfg. fret in's Haus. Einzelne Nummer 5 Pfg. Sonntags- Nummer mit illuftr. Sonntags- Beilage Neue Welt" 10 Pfg. Poft- Abonnement: 8,30 mt. pro Quartal. Unter Kreuz band : Deutschland u. Desterreich Ungarn 2 Mt., für das übrige Ausland 3 Mt.pr.Monat. Eingetr. in der Post Zeitungs- Preisliste für 1894 unter Nr. 6919.
Vorwärts
11. Jahrg.
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Bolksblatt.
Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands .
Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2. Mittwoch, den 21. November 1894. Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3. Arbeiter! Parteigenossen! Trinkt kein boykottirtes Bier!
Des Bußtages wegen erscheint die nächste Nummer unserer Zeitung Freitag früh.
Vergebens suchten wir die Reptilien des Herrn Rösicke| Arbeitgebern bestehen. Hat doch das jüngst für
zu
amals a belehret, baß der Boykott kein Sturmangriff die englische Kohlenindustrie eingeführte königliche fei, sondern eine regelmäßige Belagerung, und Schiedsgericht offiziell über die Arbeiter und Arbeitsbag Boykott- Ring fich von Tag zu Tag feſter und verhältnisse mitzuentscheiden, ohne daß es den eng
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enger um den Brauer- Ring schließen werde. Die Herren lischen Grubenbefizern einfiele, von Beeinträchtigung ihrer lachten uns aus. Wir sagten ihnen:" Qui vivra verra" Rechte zu reden. Die englischen Kapitalisten betrachten nur Geduld! Das Verständniß wird kommen die Schraube eben den Arbeiter als einen gleichberechtigten Menschen, wird von Tag zu Tag schärfer angezogen werden, sie wird sich und nicht, wie unsere politisch und sozial meist ganz unDer Berliner Bierboykott. schon bemerklich machen!" Sie lachten. Und wer hat Recht gebildeten deutschen Geldprozen, als ein Wesen unterVon dem Bierboykott wird jezt in den Kreisen unserer gehabt? Nach einem halben Jahre ist selbst Herrn Richter geordneter Art. Genossen wenig gesprochen. Daraus ziehen die Gegner den die grundsätzliche Bedeutung" des Boykotts aufgedämmert. Die deutschen Bourgeois im allgemeinen und die Ber Schluß: der Boykott ist versumpft, er wird allmälig ab- Es ist spät, allein besser spät, als gar nicht. Ja, er hat liner Biermagnaten im besonderen werden sich in diesem sterben. Und diese ihre Hoffnungen posaunen sie sogar in eine grundsätzliche Bedeutung", der Boykott. Und der eng- Punkt an englische Anschauungen und Sitten gewöhnen ihren Zeitungen aus namentlich den außerberlinischen, lische Journalist hat Recht, der sich vor kurzem dahin aussprach: müssen. Jedenfalls lassen die deutschen Arbeiter sich keine in denen sie ihrer Phantasie freieren Lauf lassen können." Der Berliner Bierboykott ist eins der wichtigsten Ereignisse Geldproß- Rüpeleien mehr gefallen. Nein, ihr Herren. Nicht versumpft" ist der Boykott, der Gegenwart". Jedenfalls mindestens so wichtig als der Und was nun? Soll der Boykott denn ewig daueru? sondern er st arrt, verhärtet zu einer festen russische Zaren- und der deutsche Kanzlerwechsel mit sammt uns ist es gleichgiltig, soweit das Partei Interesse in Einrichtung geworden. Wir haben uns an ihn ge- allem Hofklatsch und allen Hofverschwörungen. Der Berliner Frage kommt. Nicht gleichgiltig ist uns das Schicksal der wöhnt, und von Altem und Gewohntem redet man natür- Bierboykott hat den Arbeitern zum ersten Male i m Großen Opfer des Brauerrings. Aber die Schwierigkeiten und lich nicht so viel wie von Neuem und Ungewohntem. ihre wirthschaftliche Macht gezeigt und er bildet darum eine Nachtheile des Boykotts find für uns überwunden. Er arUnd absterben? Epoche im Emanzipationskampf des Proletariats. Als Antwort beitet jetzt gewissermaßen von selbst. Wir sind auf ihn Abwarten! auf die brutale und barbarische Maßregel der Doppeldezimirung eingerichtet; mit Ausnahme der Unterstützung der schuldloser Arbeiter war der Boyfott eine Strafe, die Opfer des Brauerrings legt er uns keine Lasten auf. Also über die Uebelthäter verhängt ward. Entziehung der Hälfte wir halten es aus. Herr Röside hält es auch aus ihrer Berliner Kundschaft! Das war der Urtheilsspruch. er ist in der glücklichen Lage, seine fapitalschwächeren Es handelte sich blos um die Kraft ihn auszuführen. Und Ringkollegen, die es nicht aushalten können, zu be= die Kraft war da, weil die Organisation da war. erben und dadurch den Ausfall seiner Kundschaft durch Heute ist der Boykott weit gründlicher und allgemeiner, den Boykott theilweise zu decken. Die Frage ist blos, mie als in den ersten Wochen, und er kann von uns nach Belange die irdenen Töpfe des Brauerrings neben den lieben ins Unendliche verlängert werden, mit wachsendem eisernen den Fluß hinabschwimmen wollen. Nachdruck und ohne jegliche Unzuträglichkeit für uns. Die Wir können ruhig zusehen und brauchen um die Zus Saalsperre war ein Schlag ins Waffer. Nicht uns hat sie funft nicht zu sorgen. Stets bereit, einen ehrlichen geschädigt, nur die unglücklichen Saalbesizer, die sich für Frieden zu schließen, setzen wir, des Enderfolges sicher, den Herrn Röside u. Co. geopfert haben und jetzt sehen müssen, Boykott fort, und drehen die Schraube immer fester. Die wie sie aus der Patsche herauskommen. Disziplin der Genossen schläft nicht.
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Freilich, auch unsere Gegner glauben nicht an die VerSumpfung. Sie lügen und pfeifen sich nur etwas vor, wie ängstliche Kinder, bie ins Dunkle geschickt werden. Sie wissen nur zu wohl, daß die Kraft des Boykotts nicht ab genommen hat. Das Gegentheil macht sich zu träftig fühlbar. Hat doch sogar Herr Eugen Richter neulich entdeckt, daß der Bierboykott eine grundsätzliche Bedeutung" hat und fein Spaß ist. Er hat zu dieser Entdeckung aller dings sehr lange Zeit gebraucht. Wir haben es ihm schon vor 7 Monaten, im schönen Monat Mai klar zu machen gesucht, allein er wollte nicht hören; und wer ihm damals gefagt hätte, daß die Freifinnige Zeitung" noch im Monat Oktober und November über den Bierboykott leit- und jammerartikeln würde, der wäre ihm reif für's Irrenhaus Die Reptilien des Herrn Rösicke schreien Beter über erschienen. Der Boykott, von dessen Natur Herr Richter, die Frechheit der Arbeiter, den Arbeitgebern Vorschriften in gleich den meisten seiner parlamentarischen wie journalistischen bezug auf Arbeiter- und Arbeitsverhältnisse machen zu Kollegen, so wenig einen Begriff hatte, wie die Kuh vom wollen. Wenn die Herren, statt blind auf die SozialSpanischen, war ihm ein sozialdemokratischer Sturmangriff demokraten zu schimpfen, ihre Nase in die englischen Blauauf den Brauerring. Und als Richter den Tag nach der bücher und Parlamentsberichte gesteckt hätten, dann würden Ob der Boykott siegen wird? Erklärung des Boykotts sah, daß der Brauerring noch stand, sie wissen, daß in England, wo die Arbeitgeber doch in Er hat gefiegt, denn er hat unseren Gegnern gezeigt: da krähte er triumphirend in die frische Mailuft hinaus: puncto puncti noch andere Kerle sind, als unsere Berliner wer den Arbeitern den Handschuh hinwirft. wir sind noch nicht todt, folglich hat der Boykott seinen Ringbrauer, solche Frechheit" Gebrauch ist, und empfängt die verdiente Strafe! Zweck verfehlt. daß förmliche Verträge zwischen Arbeitern und
Feuilleton.
Im Exil.
[ Nachdruck verboten.]
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Roman von Georges Renard. Autorisirte Uebersetzung
Dann folgten die Toaste einander ohne Ende, politische Reden wechselten mit humoristischen, dann folgten Bravos. Wer nicht ausreichend applaudirte, mußte Wein zum Besten geben. Dann folgten wieder Chöre, Soli, Hurrahs und Vivats. Ein Herr stand auf und sang nach der Melodie des Liedes:
Erinnerung webt mit leiser Hand
"
Die Gegner haben den Frieden, sobald sie ihr Unrecht wieder gut machen, das den Boykott uns aufzwang. So lange sie es nicht thun, haben sie den Krieg. Und der Krieg toftet ihnen Millionen, uns Nichts!
dicken Qualm der Zigarren sah René, obgleich er sich Kopf in der Wüste Opfer der Dragonaden geworden. Und in der That, und Verstand frei erhalten wollte, schließlich seine ganze diese standhaften, starken Seelen, die mit aller Kraft für Umgebung nur noch in einem phantastischen Nebel. die Beibehaltung ihres Glaubens eintraten, schienen in
Endlich entschlossen sich auch die eifrigsten Becher für ihrer herben, unbeugsamen Frömmigkeit fortzuleben. Die den Aufbruch, und alle verließen den Saal. Jetzt braucht Tradition oder vielmehr Jahrhunderte alte Vererbung man also nur noch Adieu zu sagen, dachte René. Weit führte sie instinktiv auf das, was streng und beschränkt gefehlt! Er mußte einer der gewichtigsten Persönlichkeiten war. Mit Freuden nahm sie alles an, was das Dogma der Stadt noch in den Weinkeller folgen, von drei oder an weltfremden Ideen hatte, hartnäckig hielt sie an der vier Fässern den Wein proben und ein paar schlüpfrige strengsten Tugend fest. Das Leben faßte fie als eine Anekdoten mit anhören. Der Tag war nicht mehr fern, Prüfungszeit auf, in der Trauer das beneidenswerthefte Loos, trotzdem es Ende Herbst war, wo die Sonne erst spät auf das Lachen dagegen fast ein Verbrechen ist. Das beständige geht, als man rührenden Abschied von einander nahm. Sichversenken in den Gedanken an den Tod hielt sie für Als René seine Erlebnisse bei dieſem nächtlichen Trink- die erste Pflicht einer christlichen Seele. Frohen Lebensgelage noch einmal an seinem Gedächtniß vorüberziehen genuß sah sie als Versucher, als Feind an. Selbst die ließ, fragte er sich, durch welches Wunder es möglich war, reinen Genüsse der Kunst verachtete sie. Musik und Den Traum vom trauten Heimathland." daß er sich hier im Lande Rabelais ' und Calvin's, im Literatur waren ihr nur Mittel zur Heiligung des Lebens. das Lied vom schönen Kanton Wallis . René wollte Lande des göttlichen Weines und des protestantischen Sie weigerte sich, einen Roman zu lesen, weil er sie von den Namen des Sängers wissen. Man nannte ihm den Vize- Rigorismus befand. dem Gedanken an ihr Seelenheil abziehen konnte. Hart präsidenten des Bundes, der schon als der Präsident für das Gewiß waren die Eingeborenen des schönen Kantons gegen sich selbst, wollte sie gegen andere gütig sein. Und nächste Jahr bezeichnet wurde. René mußte innerlich lachen, Wallis von Natur fröhlich und lebenslustig, und huldigten sie war es auch, wenn dazu genügt, daß man das Gute als er sich vorstellte, wie Herr Thiers nach einem großen leichten Sitten. Aber die Reformation hatte diese ur- fühl, ohne Zärtlichkeit, ohne Lächeln ausübt, aus PflichtDiner ein Liedchen vorträgt. Ein anderer Gast flötete mit sprüngliche Anlage mit einer Schicht düsterer Strenge über- gefühl, auf Antrieb des Gewissens, mit offener Hand, aber schmelzender Stimme eine sentimentale Romanze. Es war zogen. Troß der unendlichen Verschiedenheit der einzelnen verschlossenem Herzen. Von dem Gefühl ihres Nichts dem ein Pfarrer. Wieder ein anderer stimmte den Roger Bon- Charaktere schien es René, als ob die Menschen hier Ewigen gegenüber durchdrungen, hielt sie sich für sehr temps von Beranger mit dem Feuer einer zwingenden sich doch in zwei Haupttypen scheiden ließen, je demüthig. Aber sie war stolz auf ihre Demuth, und fie Ueberzeugung an; und das war ein Richter. Die Justiz nachdem der ursprüngliche Geist ihrer Rasse oder der hatte den unbewußten, ungeheuren geistlichen Hochmuth, der sich muß hier in der That sehr fröhlich sein, dachte René bei der Religion in ihnen die Oberherrschaft hatte. Im im Besitz der Wahrheit in dieser Welt und dem des Paradieses fich. Sein Staunen wuchs. allgemeinen fand man das erstere mehr bei den Männern, im Jenseits sicher weiß. Doch war das Banket nach all diesen guten Dingen das letztere mehr bei den Frauen ausgeprägt. Im übrigen Da sie wie die meisten strenggläubigen Protestanten die noch nicht zu Ende. Nach mehreren Stunden wurde der konnte es nicht ausbleiben, daß beide Richtungen oft an Gewohnheit hatte, von ihrem Glauben zu sprechen, Bibelerste und ernste Theil des Bankets für beendet erklärt. Der einander geriethen; und René glaubte, davon sogar etwas stellen auszulegen, über die Lehren der Kirche zu diskutiren, zweite begann sofort. Unter der aufmunternden Leitung im Hause seiner Wirthin zu verspüren. so trug ihr Glaube einen kampfesmuthigen, eifernden eines neuen Tischmajors folgte nun eine endlose Reihe Frau Roveray stand deutlich unter dem Einfluß einer Charakter. Von den ersten Tagen an hatte sie es unter von lockeren Liedchen, Kasernenerinnerungen, mundart- talvinistischen Vererbung. Sie stammte aus einer Hugenotten- nommen, René auf den Zahn zu fühlen. Unter die Bücher lichen Anekdoten und gepfefferten Geschichten. Der allge familie, die durch die Aufhebung des Edikts von Nantes aus des jungen Mannes hatte sie eine Bibel eingeschmuggelt, meine Lärm war ins Ungeheure ausgeartet. In diesem Ortan Frankreich vertrieben worden war. Sie hatte Märtyrerblut in in der Unterhaltung versuchte sie dann distrete Anvon Lachen und Brüllen, in dem klirren der Gläser, dem den Adern. Von ihren Vorfahren waren verschiedene als Prediger spielungen. Ihm zu Liebe sprach sie das Tischgebet jetzt