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Kt» 5«. Jahrgang

Heilage des Vorwärts

Mittwoch, 27. Mi192l

verlorenes Kinöerlanö.' Von Anna Blas. In seiner BroschüreDie Wirkungen der englischen Hunger­blockade auf die deutschen Kinder" hat Lic Dr. Fr. S. S ch u l tz e auf die traurigen Folgen des Hungers auf unsere deutschen Kinder hingewiesen. Mit Recht sagte er damals, 1919, schon, daß das Sterben nicht das größte Uebel bedeute. Tragischer und bedeutsamer wäre das Siechtum der kommenden Jahre und der ungeheure Geburten- rückgang wäre fast zu begrüßen. Nun wird gerade in diesen Tagen Sturm gelaufen gegen die Forderung einiger Reichstagsabgeordneten, dem§ 217 einen Gesetzesparagraphen beizufügen, der den Frauen Straffreiheit zusichert, welche die Unterbrechung der Schwangerschaft in den ersten drei Monaten, und zwar mit Hilfe eines approbierten Arztes vornehmen. Zunächst einige Fragen: Ist es Zufall, daß gerade die Familien die wenigsten Kinder haben im allgemeinen, diegroßeWohnun- gen innehaben, Räume, in denen Luft/ Licht, Raum und Sonne ge- nügend vorhanden sind, um Kindern eine möglichst günstige körperliche Entwicklung zu sichern? Wie kommt es, daß gerade die Familien im ollgemeinen die wenigsten Kinder haben, denen Milch in genügender Menge zur Verfügung steht, die keine Sorge darum haben brauchen, wie sie weißes Mehl, Nährmittel, Obst, Gemüse, Fleisch beschaffen sollen? Wäre die Natur gut und gerecht, so müßte ja gerade in solchen Familien Kinderreichtum herrschen, und in den armen Prole- tarierfamilien, wo sechs, sieben und mehr Kinder keine Seltenheit sind, müßte die Kinderzahl den kärglichen Verhältnissen angemessen sein. Offen und ehrlich sind diese Fragen noch nicht beantwortet worden. Zunächst die Wohnungsverhältnisse. Es war eine traurige Tatsache, daß schon vor dem Kriege die arme Bevölkerung mit den schlechtesten, ober gleichzeitig teuersten Wohnungen zufrieden sein mußte. Die Berichte der BerlinerOrtskrankenkassen gebSn ein geradezu erschütterndes Bild davon, wie die arme Bevölke- rung in Berlin vor dem Kriege Hausen mußte, denn Wohnung kann man diese Löcher, hoch unter dem Dach, tief unten im Keller, nicht nennen. Wer die Schilderungen armer kinderreicher Mütter liest, wenn sie Wohnung suchen müssen, der weiß es, und die in der Kriegs- fürsorge tätigen Personen haben auch hier manchen Einblick tun können, wie solche kinderreichen Mütter von Haus zu Haus irren. Der Hauswirt will sie nicht aufnehmen, weil er meint, daß selbst die elendste Spelunke durch viele Kinder Schaden leidet. Die übrigen Familien wollen sie nicht dulden, weil sie den Schmutz und den un- vermeidlichen Lärm auf den Treppen nicht ertragen mögen. Gegen viel gute Worte und eine Miete, die in keinem Verhältnis steht zu der Wohnungsspelunke, findet schließlich die kinderreiche Familie Aufnahme. Und die Notwohnungen? Erst vor kurzem beschrieb ein Frankfurter Arzt, in welcher Verzweiflung oft junge Frauen zu ihm kommen» die geheiratet haben, denen ein Zimmer, im besten Fall noch Küchenbenutzung zur Verfügung steht. Sie haben das Zimmer er- halten unter der Voraussetzung, daß keine Familie kommt. Nun stoben sie keinen Platz für ein Kinderbett, keine Möglichkeit, das Kind zu baden, Kinderwäsche zu waschen, und der Vermieter will kein Kindergeschrei hören!Ja, warum wird auch so jung und unbedacht 'geheiratet?" Wie oft hört man das. Wissen die Leute nicht, daß es einen Geschlechtstrieb gibt, und zwar bei beiden Geschlechtern? Bei dem Mann ist es ja staatlich anerkannt. Da baut man Bordelle. duldet die Prostitution. Man denke dabei, abgesehen von der Moral, an die Gefahr der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten. Die Prostituierte muß sich der Behandlung unterwerfen. Der Mann bleibt unbehelligt. Er trägt ruhig die Syphilis in die Familien. Der Prozentsatz der verheirateten syphilitisch erkrankten Männer beträgt etwa 25 Pröz. Die Unverheirateten dürfen, auch wenn sie krank sind, junge unverdorbene Mädchen heiraten, junge Kinder. Warum

*) Dasselbe Thema wird in der soeben erschienenen Schrift:Die Abtreibung der Leibesfrucht' von Grotjahn und Radbruch lVerlag Vorwärtsbuchhandlung) behandelt, auf die zurückzukommen wir uns vorbehalten. Red. d.V.".

kümmert sich hier der Staat nicht um die Verbreitung der entsetzlichen Volksseuche? Und die Ernährung? Die meisten deutschen Kinder über 6 Jahre erhalten heute keine Milch mehr. Aber selbst da, wo sie An- spruch aus Milch haben, kann sie häufig nicht angeschafft werden. Wieder will ich ein Münchener Beispiel anführen. Eine Familie mit 4 Kindern im Alter von 4 Monaten, 1%, 3 und 5 Jahren, von denen das kleinste noch gestillt wird, hat Anrecht auf 3% Liter Vollmilch. Diese kostet im Monat 1K1 M. Beim Einkommen von monatlich 1009 M. würde also die Milch für die Familie genau ein Sechstel des Einkommens verschlingen. An alle anderen Nahrungsmittel ist dabei noch gar nicht gedacht! Oberschwester W o e r n e r befaßte sich in ihrem Referat be- sonders mit der Not der kinderreiche» FamiMon. Es kehlt überall an Matratzen, an Betten, an Leinentüchern. Auch in besser situierten Familien kommt selten mehr als ein Leinentuch auf eine Person. Bon den Armen besitzen mindestens zwei Drittel kein ganzes Leinentuch mehr. Kein Leinentuch bei Entbindung und in Krank- heitsfällen! Interessant sst auch die Aufstellung der Anschaffungs- kosten für ein Neugeborenes. Erstlingswäsche kostete 1914 35 M., 1920 409 M. Ein Korb mit Inhalt 1914 58 M., 1920 517 M. Badewannen u. a. m. 1914 30 M., 1920 413 M., Kinderwagen 1914 35 M., 1920 800 M., Wickelkissen 1914 8 M., 1920 260 M. Der Ge- samtverbrauch betrug also 1914 187 M., 1920 2172 M., also ein Fünftel des Jahreseinkommens eines gelernten Arbeiters. Wer kann es einer Mutter verdenken, wenn sie die Schar ihrer hungernden, frierenden Kinder nicht vermehren will? Allerdings, sie kann die Säuglinge ja in Moos betten, in Zeitungs- papier wickeln, in Hutschachteln schlafen lassen, wie das häufiger vor- kommt, als man glaubt! Wer hat den Mut, ihr dazu zu raten? Und glaubt man, daß heute Staat und Gesellschaft solchem Elend steuern können? Und die Wäsche und Kleider der Größeren? UnddieErziehung? Gewiß, die Verfassung sichert kinder- reichen Familien Erziehungsbeihilfen. Aber hier sind es gerade die großen Söhne, die schnell mitverdienen sollen, die großen Töchter, die die Mutter unterstützen sollen. Also so schnell wie möglich ein u n- gelernter Beruf, der Geld einbringt. Wer weiß das nicht, der mit Schulentlassurgsgesuchen zu tun hat! Wohl heißt es in der Verfassung, daß jede Mutterschaft geschützt werden soll. Aber im Grunde steht diese Forderung auf dem Papier. Noch heute gibt es zweierlei Moral, ist die A b l e u g- n-ung der Vaterschaft möglich. Noch heute liegt alle Verant- Wartung, alle Schande auf der unverheirateten Mutter. Noch heute kann verfügt werden, daß eine unverheiratete Beamtin entlassen wird, wenn sie ein uneheliches Kind Hot. Warum nicht auch der Beamte? Und wenn die Beamtin schütz- und mittellos ist und dadurch zur Abtreibung gezwungen wird, was blüht ihr dann? Die Zuchthaus- strafe! Die ganze Grausamkeit der Frauen zeigt sich darin, daß die Beamtinnen selbst nicht mit einerGefallenen " im Amt bleiben wollen. Dergefallene" Beamte scheint sie weniger zu stören! Gewiß, es gibt Mittel, um die Empfängnis zu verhindern. Aber ist ihre Anwendung denn moralischer, wenn man überhaupt von Moral in solchem Fall sprechen will. Und sind diese Mittel nicht auch wieder nur denen zugänglich, die Geld haben? Uebrigens haben die Strafparagraphen auch wenig Zweck, denn nach Professor B l a s ch k o hat die Zahl der Abtreibungen in den letzten Iahren sich von 20 aus 50 Prozent gesteigert, und zwar nach Professor S i l b e r g l e i t nicht bei den ersten und zweiten, sondern meist bei den späteren Geburten. Man meint auch, der ungezügelte Geschlechtstrieb unserer Jugend würde durch unsere Forderung gefördert. Eine Abhilfe gegen die sittliche Gefährdung liegt in den überfüllten Wohnungen. Abgesehen von den Wohnungskrankheiten unserer Proletarierjugend, Tuberkulose, Syphilis. Skrophulose, Rachitis usw., welche sittliche Verwahrlosung muß eintreten? Mit viel Aufwand von Pathos betonen die Gegner unseres An- träges, daß siedeutsche Männer und Frauen sind". Nun, auch w i r Sozialdemokraten sind deutsche Männer und Frauen. Auch unsere Männer, Söhne, Brüder haben gekämpft und geblutet. Tausende armer Frauen haben den Ernährer verloren. Aber wir haben das Elend, den Jammer gesehen, die das Stahlbad des Krieges über unsere deutschen Frauen gebracht hat. Wir wollen vermeiden, daß tausende deutscher Kinder zu siechen oder gar schädlichen Ge-

schöpfen heranwachsen. Darum wollen wir unseren Müttern die Möglichkeit geben, zu zuverlässigen, sozial denkenden Aerzten zu gehen, statt daß sie sich, wie heute, trotz schwerer Strasparagraphen in die.Hönde gewissenloser Kurpfuscher begeben, die lle unter Umständen für immer unfruchtbar machen oder ihren Tod herbeiführen. Eine sachgemäß vorgenommene Unterbrechung der Schwanger- schaft ist ja auch nicht gefährlicher wie eine schwere Entbindung. Be- dingung ist natürlich, daß der Keim noch nicht lebensfähig ist. Wir glauben hier deutscher zu empfinden als jener alldeutsche Professor, der meinte, 10 15 Millionen Geborener müssen zugrunde gehen, aberdas tut nichts"! Was wir vor allem fordern, das ist das prophylaktische Verfahren. Man soll die Menschen so erziehen, daß sie nicht dem Strafgesetzbuch, das so sehr verbesserungs- bedürftig ist, zum Opfer fallen. Darum wollen wir eine ft a r k e Erziehung zum Verantwortungsgefühl in jedem Mädchen, jedem jungen Mann. Keiner ist Selbstzweck, sondern Wegmacher auf dem Ziel zu einer besseren Zukunft. Aber nicht nur das Verartmortungsgefühl des einzelnen soll gestärkt wer- den. Auch Staat und Gesellschaft müssen viel mehr zum Gefühl der Verantwortung gebracht werden. So lange sie nicht helfen, daß, jedes Kind, das geboren wird, zu einem körperlich und geistig tüch- tigen Menschen erzogen werden kann, so lange wird Mutterglück noch in unzähligen Fällen Mutter leid bedeuten, und jedes Recht zum Eingreifen und Strafen fällt fort. Aber wir Frauen sind ja jetzt zum Wiederaufbau mitberufen. Was wir aufbauen wollen, das ist Kinderland, glückliches, sonniges Kinderland, nicht durch Straf- Paragraphen, sondern durch Stärkung des sozialen Ge- wissens und des wahrhaft sittlichen Empfindens.

GroßSerlln Der Kuckuck. Die Chinesen haben den Mut gehabt, ihre Zöpfe abzuschneiden. die Justiz kann sich dazu noch immer nicht aufschwingen. Um nur einen dieser Zöpfe vorzuführen: Die Siegelmarke, im Volke derK u ck u ck" genannt, bildet eine Schädigung des Kredits, eine unnötige Härte und Verärgerung des anständigen Schuldners und eine Gefühlsverletzung. Und wozu das. olles. In keinem Lande Europas besteht eine solche Ein- richtung. Die Siegelmarke wird durch Unterschrift des Schuldners im Protokoll ersetzt, und dadurch wird der Zweck der Pfändung völlig erreicht. Der Gerichtsvollzieher, der heute den Kuckuck ankleben muß. leidet persönlich darunter, denn er, der nur seine Pflicht als Be- amter tut, ist an sich schon der bestgehaßte Mensch. Seine Aufgabe als Beamter ist so schwierig, weil er die Verbindung zwischen Richter und dem Publikum herzustellen hat. Das Ankleben der Siegelmarke ist ein Akt, der je nach Temperament, Stand, Erziehung des Schuldners Schamverletzung und Aerger hervorruft. Der Ge- richtsoollzieher,' wenn er auch stumm feine Pflicht tun muß, empfindet es hart, wenn er unter den heutigen Verhältnissen fein veranlagte Menschen kränken muß, ohne in der Lage zu sein, seiner Pflicht eine gemilderte Form zu geben. Die Zwecklosigkeit desKuckucks " ist praktisch dadurch dargetan, daß vielfach dasPfandsiegcl" abgerissen wird,.ohne daß man den Schuldner fassen kann, denn das Siegel kann abgefallen sein. Auch wird sich nur selten ein Gerichtsvollzieher finden, der Anzeige er- stattet, denn fein Takt verbietet es ihm, den bedrängten Schuldner noch weiterhin zu schädigen. Nach der Gesetzgebung gilt nach Anlegung des Siegels die Pfändung als getätigt, aber diese Täätigung kann durch das Proto- koll, also die Aufführung der Pfandstücke und die Unterschrift des Schuldners, leicht ersetzt werden. Es ist Sache der obersten Justizverwaltung, einem berechtigten Wunsche, der nicht nur aus den Reihen der Gerichtsvollzieher, der Handels-, Landwirtschafts- und Rechtsanwaltskammern, sondern aAh aus den breiten Schichten des Volkes heraus entsprungen ist, bei der Vorlage der zu erwartenden neuen Zivilprozeßordnung Rechnung zu tragen.

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Die Rächer.

Roman von Hermann Wagner. Die Zimmer rochen wie nach Moder, die Luft war s-Wecht. Er riß sofort die Fenster auf und badete sich in der Sonne, die nun, als habe sie Versäumtes nachzuholen, warm ,'nd wie flüssig hereindrang. Zwischen den Bäumen vor dem Hause haschten sich zwei Spatzen unter lautem Spektakel. Reisner wandte sich von diesem Bild ab, das zu idyllisch war, als daß es seine vibrierenden Nerven hätte beruhigen können. Er ging an das Telephon und ließ sich, mit den Fingern ungeduldig auf der Tischplatte trommelnd, verbinden. Hier Reisner. Sind Sie es selbst, Mannheimer?" Die Stimme aus dem Geschäftsviertel der Friedrichstadt bejahte._,_, Sie sprachen mir vor ein paar Wochen von der Sache Braß. Ist sie noch zu machen?" Wieder bejahte der Partner. Ja?... Gut, dann besuchen Sie mich morgen!... Ob ich Lust habe, zu kaufen? Vielleicht... Also auf morgen. Schluß!, Reisner wanderte pfeifend durch sämtliche Zimmer, alles daraufhin betrachtend und prüfend, ob es auch Lucie gefallen wurde. Hier fehlte das, dort jenes, und er machte sich Notizen darüber. Und doch war er mit seinen Gedanken gar nicht bei der Sache. Etwas anderes spukte ihm im Kopf herum. etwas Großes, das. wenn es gelang, ihn den Absichten für feine Zukunft um einen großen Schritt näher brachte. Der Kommissionär Mannheimer, mit dem er schon wieder- holr Geschäfte abgewickelt hatte, hotte ihm gegenüber gesorächs- weise einiges von der Automobilfabrik I. Braß und Sohn verlauten lassen, einem Unternehmen, das, mit zureichenden Mitteln gegründet, anfangs auch prosperiert hatte, um dann. ncchdem sein Gründer gestorben und es in die Hände ge- fchöftsuntüchtiger Erben gekommen war, in der Erzeugung und im Absatz allmählich imme' mehr zurückzugehen. Es war schon lange verkäuilich. doch hatte bisher, ob- gleich es billig und unter günstigen Dedingunoen zu haben war, noch niemand so recht die Lust und den Mut gefunden, es an sich zu bringen, auch Reisner nicht, der mtt den Be«

sitzern einer Witwe mit noch zwei unmündigen Kindern wohl schon so halb und halb verhandelt, schließlich von einem Kauf aber doch abgesehen hatte. Heute aber sah er die Sache mit einem Mal ganz anders. Seine Phantasie, durch die Erlebnisse der letzten Wochen beflügelt, malte sich die Wirkungen aus, die es haben mußte, wenn dem Unternehmen mit Hilfe einer großzügigen Re- klame, die einige hunderttausend Mark nicht ansah, wieder aufs neue Leben eingeblasen wurde. Man durfte keine Zeitung, keine Zeitschrift aufschlagen, an keiner Litfaßsäule vorübergehen können, ohne auf die schreienden WorteBraß-Automobile",Braß-Motore" zu stoßen. Daß eine solche Reklame, die die Fabrik dummerweise bisher vermieden hatte, enorme Wirkungen auf den Absatz haben mußte, war natürlich klar, und die Frage war nur. ob auch genug Geld vorhanden sein würde, um einige Jahre durchzuhalten. Reisner geriet allmählich in Feuer, seine Gedanken ent- zündeten sich und wurden doch sogleich wieder von einem Willen, der kühl und sachlich war, gebändigt. Er setzte sich an den Schreibtisch, griff zur Feder und begann, zu rechnen. Es verging der Mittag, der Nachmittag und wurde lang- sam Abend. aber er saß noch immer am Schreibtisch und rechnete und kombinierte und rechnete wieder. Sein Gesicht war von Spannung und Erregung gerötet, doch seine Lippen preßte eine eiserne Tatkraft zusammen. Er träumte und phantasierte nicht mehr, er rechnete. Als es dämmerte, stand er auf und ließ sich von Prokop Schinken, Eier und Tee bringen. Er alles mit einer Giex, die gar nicht darauf achtete, was sie verschlang. Dann aber lehnte er sich erschöpft in den Sessel zurück uind brannte sich eine seiner besten Importen an. Er war entschlossen. 16. Der vierundzwanzigste Juli war der Taa, an dem, vor- mittags um elf lihr,- auf dem Standesamt die Trauung Reisners mit Lucie vollzogen werden sollte. Der Tag sollte� ohne jede Feierlichkeit und ohne jede Feier verlaufen, das hatten sie beide beschlossen. Er brachte nur die

äußerliche Besiegelung dessen, worüber sie sich innerlich schon längst einig waren. Sie hatten zu niemandem von dem Tag ihrer Trauung gesprochen. Sie wollten niemanden sehen und allein sein. Kein dritter sollte in ihr Leben etwas hinein- zureden haben, weder im Guten. noch im Bösen. Reisner hatte sich von Prokop, der auch weiter im Dienit seines Herrn verblieb, während für Lucie ein Dienstmädch.-n und eine Köchin zur Verfügung standen, die sie sich selbst ge- wählt hatte, schon um sechs Uhr wecken lassen. Er war unruhig und von einem jener leisen Angstzu- siände befallen, die sich bei manchen Menschen einstellen wenn ihnen ein Glück, an das sie wohl geglaubt haben, das aber doch mehr nur ein Bestandteil ihrer Träume war, endlich zur Wirklichkeit wird. Und dieser sonderbare Zustand übertrug sich auf alle seine Glieder. Sein Gang war unsicher, vor seinen Augen flimmerte es, und seine Zunge lormte nur mühsam Worte und Sätze. Auch dos Frühstück schmeckte ihm nicht, obwohl er Hunger hatte. So setzte er-sich zu einem Glase Wein und versuchte es, zu rauchen. Dabei verfiel er in eine halbwache Träumerei, aus der er von Zeit zu Zeit aufschreckte, wenn etwa die Standuhr in dünnen, kurzen Lauten schlug �der wenn etwa draußen die Türen gingen. Denn mit der Ruhe, die dies Haus sonst ein- gehüllt hatte, war es heute vorbei. Hundenerlei war zu tun, und die neuen Dienstboten hatten nicht die leise Art, die Reis- ner zu lieben gelernt hatte. Wie lange er so gesessen hatte, hätte er nicht anzugeben vermocht. Es konnten immerhin Stunden gewesen sein, denn Prokop trat jetzt ein und übergab R?isner die Post. Reisner sah sie gar nickt an, sondern warf sie achtlos auf den Tisch. Dabei fiel ein Brief auf die Erde, den Protop aufhob und seinem Herrn neuerdings überreichte. Reisner warf einen flüchtigen Blick darauf, stutzte ober plötzlich und sagte zu seinem Diener, indem er diesen scheu ansah:Prokop, es ist gut.. Er war wieder allein, trat an dos Fenster und betrackstete die Schrift, die ibm unbekannt war. Aber w"? leine Augen immer wieder anzog, war ein blauer Geschäftsstempel, der dem Umschlag aufaedruckt war:Gefängnisverwaltung".., (Forts, folgt.)