Nr. ZH5>Z8. Jahrgang
% Heilage öes vorwärts
Freltag, S. August 1921
Das„einstweilige" Staötparlament. Zusammentritt der früheren Stadtbersrdneten.— Die rechte Seite sabotiert die Arbeit.
Die aufgelöste Stadtverordnetenversammlung trat auf! Grund der Notoerordnung gestern wieder zusammen, um bis zu den Neuwahlen als„einstweilige" Stadtverordnetenoer- sammlung zu fungieren. Den rechtsstehenden Fraktionen ge- nügte nicht der Erfolg, den sie vor dem Oberverwaltungsge- richt gehabt haben. Sie waren in Krakeelstimmung und zeig- ten das Bestreben, die„e i n st w e i l i g e" S t a d t v e r o r d- netenversammlung möglich st überhaupt nicht zur Arbeit kommen zu lassen. Ein paar kleine Vorstöße mißlangen, aber in den Verhandlungen über die vom Magistrat jetzt mit 7� Prozent beantragt« Lohn- erhöhung für die Gutsarbeiter setzten sie ihren Willen durch. Sie beantragten namentliche Abstimmung, verließen dann den Saal und erieich.en so, daß wegen festge- stellter B e j ch l u ß u n f a h i g* s! t die Sitzung abgebrochen werden mußte. Ein vielversprechender Ansang! Eitzoogobericht. Um 5.20 Uhr erklärt Bürgermeister Ritter, den Sitz des Dor- stehers einnehmend, die erste Sitzung der einstweiligen Stadtverord. netenversammlung für eröffnet und verliest den Wortlaut der am I. August veröffentlichten mit Gesetzeskraft ausgestatteten Rotverord- nung, die die bisherigen Mitglieder der aufgelösten Versammlung bis zum Zusammentritt der neugewählten zur Fortführung der regel- mäßigen und der keinen Aufschub duldenden Geschäfte verpflichtet. Zunächst hat die Sersammlung sich zu konstituieren. Auf Dor- schlag Frank(Soz.) wird der bisherige Vorstand wiedergewählt. Dr. W e y l übernimmt den Vorsitz und spricht im Namen des Vorstandes der Versammlung den aufrichtigen Dank für das durch diese Wiederwahl bekundete vertrauen aus. Weiterkeit.) Auch bittet er um die nachdrücklichst« Unterstützung aller Parteien bei der Geschäftsführung, damit die einstweilige Stadtverordnetenoersamm. lung während der etwa drei Monate währenden Galgenfrist be- stehen könne. Auf Vorschlag E o s p a r i lDVP.) wird auch die alt» Ge- schäftsordnung wieder in Kraft gesetzt. Eingereicht sind mehrer« Anfragen. Die Stadtvv. G S b e l u. Gen.(Komm.) verlangen Auskunft vom Magistrat über die Scbließuvg der Männerheimstätte Buch, sowie darüber, ob durch die Schließung die Bekämpfung der Tuberkulose etwa eine Einschränkung erfährt.— Stadtmedizinalrat Dr. R a- b e n o w erklärt, die Schließung sei notwendig geworden; die Patienten würden, soweit sie der cheimstättenbehandlung bedürfen. in anderen Heimstätten, sonst in Krankenhäusern untergebracht. 5> e i m o n n(Soz.) bemängelt, daß der Vorsteher, indem er die sofortige Beantwortung der Anfrage zuließ, von der eben erst sür maßgebend erklärten Geschäftsordnung schon im ersten Augenblicke abgewichen sei, deren Vorschriften durch sein Verfahren oerletzt seien.— Dr. Wey! glaubt, bei seinem Verfahren vollkom- men aus dem Loden des Rechts gestanden zu haben, beruft sich zu- dem auf die frühere Praxis.— D o v«(Dem.) hält diese Berufung für unzulässig. Eine zweite Anfrag«, die von der DVP. eingereicht ist, betrifft die Zeitungsmeldungen, wonach der Haupt stelle für Kriegs- beschädigte, insbesondere den Stadttäten Weise und Stolt, grobe Mißbrauche zum Vorwurf gemacht werden. Stadttat Stolt erklärt, er würde für die Beantwortung min« bestens 114 Stunden gebrauchen, und ersucht im Einverständnis mit dem Bürgermeister, dies« Sache um«ine Woche zu vertagen; dann werde die Neugier der Lnfrager beftiedigt werden.(Lebhafte Zwi- schenruf« rechts: Oberfaul! Es muß etwas vertuscht werden!) Eine dritte Anfrage, durch die die Demokraten Auskunft über die Entlastung des Dr. Rudolph fordern, wandert ebenfalls auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung. In Erledigung der 60 Gegenstände, die die Tagesordnung um« faßt, wird zunächst die Abänderung der Wertzuwachs- steuerordnung angenommen, die Vorlage betr. die Steuer auf Kraftdroschken usw. dem Ausschuß zurückgegeben und so- dann in die Beratung der Ausschußvorschläge betr. Genehmigung verschiedener Reklameunternehmunsen eingetreten. Der Auffastung von Hallensleben(DVP .), daß diese Borlag« nicht dringlich und somit der Kompetenz dieser Versammlung entzogen sei, widerspricht sehr entschieden der Kammerer Dr. K a r d i n g.— Nach
weiterer Erörterung gelangen die Ausschußantäge gegen die Bürger- lichen zur Annahme. Eine große Anzahl von vorlagen von minderer Bedeutung wird größtenteils ohne jede Erörterung verabschiedet. Bei der Be- ratung der Vorlagen betr. die Satzung und die Bildung der Depu- tation sür Arbeit und Gewerbe entwickell sich eine ausgedehnte De- batte über die Frage, ob die heutige Sitzung eine Feriensitzung der alten Versammlung oder eine ordentliche Sitzung der kommissarischen Versammlung sei. Neben Dr. Easpari verficht auch Dr. S t e i n i- ge r(Dnat.) die erftere Auffassung. Schließlich wird mit Mehrheit die Feststellung getroffen, daß es sich heute um kein« Feriensitzung handelt.— Die beiden erwähnten Vorlagen werden an den Aus- schuß zurückverwiesen. Hierauf wendet sich die Versammlung der Angelegenheit des Gutsarbeiterstreiks bzw. dem Antrage Weyl wegen Gewährung einer Lohnzulage an die städtischen Guts, und Landarbeiter und der Mogisttatsvorlage wegen Bewilligung von TH Proz. Zuschlag zu dem Barlohn mit Wirkung von i. April 1921 zu. Deutsche Volkspartei gegen die SPD. und den..Vorwärts". Dr. N e u m a n n(D. vp.) � spitzt seine Argumentation über den Ausgang der Bewegung auf eine scharfe Polemik gegen die SPD. und gegen den„Vorwärts" zu. Einen sachlichen Grund für die Lohnerhöhung habe auch der„vorwärts" nicht anführen können, er habe lediglich die Vermeidung des Generalstreiks betont. Letzterer aber habe gar kein< Aussicht und auch die Mehrheit der Arbeiterschaft nicht sür sich gehabt. Die SPD . sei vor der Wähler. schaft oder vor der Straße zurückgewichen, ihrem Umfoll sei das jetzige Ergebnis zu danken. Die Borchardtsche Erklärung, daß hin- fort nur Ausgaben bewilligt werden dürften, für die Deckung da sei, habe nunmehr allen We.t verloren. Auch diese Episode mach« es zur Notwendigkeit, die sozialistische Mehrheit bei den nächsten Wahlen zu brechen.(Lachen links.) Zimmermann(U. Soz.) hält der Deutschen Volkspartei ihr Sündenregister vor; mit ihr sei ein Treu- und Glaubensverhältnis kaum möglich. Redner beanttagt, den Gutsarbeitern statt 7� Proz. Zuschlag 10 Proz. und ein Mitbestimmungsrecht nach Maßgabe des Tarifvertrags der städtischen Arbeiter sowie bei Abschluß und Er- Neuerung von Pachwerträgen zuzubilligen, evtl. 7H Proz. Zuschlag zum Dahrlohn und zum Deputat.— Sehr abfällig äußert er sich über den Zustand der Wohnungen der Gutsarbeiter und über die Unterbringung der Schnitter. Dr. Steiniger(Dnat.): Elend wäre der Generalstreik zu- gründe gegangen. Jetzt muß der Magistrat eine solche Vorlage machen, die einen kläglichen Umfall bedeutet! Stadttat Koblenzer: Der Magistrat hat nachgegeben, well auch in Magistratskreisen ein Mitfühlen mit der Lage der Guksarbeiter vorhanden war und kein Magisttatsmitglied meint, daß es den Gutsarbeitern rosig geht. Der Magisttat muß auch die Stimmung in den Arbeiterkrcisen und in den Frakttonen beachten; die Mehr- heit der Versammlung hatte schon lange vor dem drohenden General- streik Entgegenkommen für die Güterarbeiter gefordert. Der Ma- gistrat zieht einen Vergleich vor; er braucht auch in der versamm- lung eine Stütze, sonst verliert er den Boden unter den Füßen. — Nachdem der Magistratsoertreter noch auf die Wohnungszuständ« eingegangen ist, bittet er dringend, die Vorlage nicht durch weiter- gehende Forderungen zu gefährden. Dörr(Komm.) geht nach einer Schilderung der mangelhaften Wohn- und Unterbringungsverhältnisse näher auf die Ursachen ein, die die Stimmung in der Arbeiterschaft dem Solidaritätsstreit günstig gestalteten. Merten(Dem.) tritt dem Vorredner scharf entgegen, läßt den „sehr klugen" Ausführungen des Stadttats Koblenzer alle Gerechtig- keit widerfahren, erklärt sich dann aber auch gegen die Magistrats- vorlag«, da dieser Entwickelung endlich Halt geboten werden müsse. Heitmann(Soz.): Wenn man Rücksichtnahme auf notleidende Arbeiter Umfall nennen will, so nehmen wir den Vorwurf gern auf uns. Den Mißständen im Wohnungswesen usw. nachzugehen, ist selbstverständliche Aufgabe des Magistrats. Die große Mehrheit der Versammlung hat doch s. Z. beschlossen, abermals einen Ausschuß einzusetzen, der auf einen Ausgleich hinarbeiten sollte. Nachdem er
da zu keinem positiven Ergebnis gekommen ist, hat sich der Magistrat schließlich zu seiner Vorlage verstanden, die wir annehmen und Ihrer Zustimmung empfehlen. Damit schließt die Beratung. In persönlicher Bemerkung weist Dr. B o r ch o r d t die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück. Insbesondere könne ihm kein Dor- wurf daraus erwachsen, daß er die endlos sich ausdehnende Aus- schnßsttzung vor der Abstimmung oerlasien und dadurch die Annahme von 10 Prozent Zuschlag verhindert hätte; ein Definitivum hätte ja der Ausschußbeschluß ohnehin nicht bedeutet. Von der Rechten wird über die Anträge Zimmermann namentliche Abstimmung beantragt, vor der Abstimmung verläßt ein großer Teil der Rechten den Saal. Die kommunistischen Anträge zum Mitbestimmungsrecht werden abgelehnt; die Abstimmung über die Anträge ergiebt B e- !schlußunfähigkeit. Es haben 89 Mitglieder mit Ja, 8 mit Nein gestimmt, Summa 97, während zur Beschlußfähigkeit 113 ge- hären. Schluß 9 Uhr S Min._ �muljlonsmilch statt Frischmilch. Eine Folge der Dürre. Das Milchamt der Stadt Berlin ttilt mit: Die Dürre und der sich daraus ergebende Futtermangel haben dte Milchzufuhr noch Berlin binnen vier Wochen bereits um 170 000 Liter täglich herabgemindert, so daß der Milchkleinhändler nur noch zwei Drittel der Milchmeng« geliefert werden können, die von ihnen ver- langt wird, und nicht mehr soviel Milch zur Verfügung steht, als zur Zeit der Rationierung für Kinder und Kranke beansprucht wurde. Der Magistrat Berlin hat dalier einstimmig einem A b- schluß über Milchpulver zugestimmt, der es für die nächsten Monat« ermöglicht, durch Emulsionsmilch der schlimmsten Not zu steuern. Daß es sich hierbei um ausländisches Pulver handeln muß, ist selbstverständlich: denn kein.: deutsche Milchtracknungsanlage kann bei den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen in Deuisch-- land Milch in solchem Umfange trocknen, daß die Versorgung Berlins damit gedeckt werden könnte. Aus den Kreisen der deutschen Trocken- milchinteresienten ist sogar selbst hervorgehoben worden, daß die Weitertrocknung im größten deutschen Werk wahrscheinlich demnächst gänzlich eingestellt werden muß, weil die zur Trocknung gelangende Milch von Hamburg oder Lübeck als Frischmilch in Anspruch genommen werden könnt«. Die Emulsionsmilch ist teurer als die Frischmilch. Der Milch« Handel hat die Ausgabe von Emulsionsmilch in besonderen Geschäften abgelehnt, er hat auch die Gefahren für den Konsumenten beim freien verkauf von Frischmilch und Emulsionsmilch zu verschiedenen Preisen in demselben Geschäft anerkannt und sich daher für den Ber- tauf zu einem Einheitspreis« ausgesprochen. Der Durchschnittspreis, zu dem also ab 8. August d. I. die freie Frischmilch und die Emul- sionsmilch abgegeben werden wird, beträgt bis aus weiteres 3,80 M. für das Liter. Die Kartenmilch für die Kinder bis zu vier Iahren und die schwangeren Frauen wird nach wie vor zum ver- billigten Preise von 3 M. sür das Liter abgegeben. ver Revolver in öer Liebesstunöe. Das Drama eines Neunzehnjährigen. Diese Tragödie verwüsteter Jugend, wie sie gestern in grauen» vollen Einzelheiten das Schöffengericht Verlin-Wcdding beschäftigte, zählt selbst in der Millionenstadt zu den Seltenheiten. Wegen fahr- lässiger Tötung war dort die IKjährige Kontoristin Maria F. angeklagt. Di« Haupttolle in diesem modernen Iugenddrama spielte der 19jährige Handlungsgehilfe Kurt W. Dieser junge Mensch, dos Produkt einer verfehllen Erziehungsmethode vermögender Eltern, war trotz seiner Jugend bereits„alle Schulen durch" und hatte sich durch seinen Lebenswandel eine Krankheit zugezogen. Obwohl ihm seine Eltern durch Kauf eines Zigarrengeschäfts eine Existenzmög- lichkeit gegeben hatten und ihn auch sonst reichlich unterstützten, hatte der blasierte Jüngling die Lust am Leben verloren und trug sich ständig mit Selbstmordgedanken. In dem abnormen Hirn des jungen Menschen reifte schließlich ein höchst sonderbarer Plan, den er auch am zweiten Osterfeiertage d. I. seinem 19. Geburtstage, zur Ausführung brachte. Am Pormittage dieses Tages war merkwürdigerweis« der Mutter des W. von einer Kartenlegerin „prophezeit" worden, daß ihr Sohn„über den kurzen Weg" durch ein Mädchen großes Unheil erleiden würde und ihr Sohn zur Der- hütung dieses Unglücks an diesem Tag« unbedingt zu Hause bleiben müsse. Inzwischen hatte das Unheil aber schon seinen Lauf ge- nommen. Kurt W. hatte die Angeklagte abgeholt und ihr gesagt, er
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Die Rächer.
Roman von Hermann Wagner. Sie lebte still und gleichförmig dahin, nur der Pflege ihres Töchterchens hingegeben, das nun zusehends wuchs und dessen Wangen sich rundeten. Sein Gesicht war ausdrucksvoller geworden, und es machte der jungen Mutter eine tiefe Freude, wenn sie sah, wie es all- mählich für mancherlei Interesse offenbarte. Es griff schon zögernd nach einem seidenen Band, das man ihm etwa hin- hielt, oder lachte«m richtiges lautes Lachen, wenn man über seinem Gesicht in die Hände klatschte. Es schien auch schon verschiedene Personen zu unter- scheiden und schrie, wenn es allein gelassen wurde.„Lucie ist verwöhnt," sagte das blonde Äindemädchen,„sie will nicht allein fem!" Reisner opferte dem Kind« nur wenige Minuten im Tage, was er damit entschuldigte, daß er allzusehr gehetzt sei. Aber er liebte es und küßte gern den süßen Mund, der sich weinend verziehen wollte, wenn er den Bart des Paters spürt«. Zuweilen trug er es auch oder setzte sich mit ihm in eine Ecke, um zu warten, bis es eingeschlafen war. Dann legte er es behutsam und zärtlich in das Bett. Das Verhältnis zu seiner Frau war wieder das alte ge- worden und hatte doch etwas Neues, das sich nickt mehr ver- lor. Es ist das Kind, dachte er und beruhigte sich damit. Er hatte auch keine inneren Hemmungen mehr zu über- winden, wenn er an Frau von Mansch dachte. Was bedeutete diese Frau für ihn? Ein duftiges Nichts, das verwehen würde, wie es gekommen war. Aber er gestand es sich nun doch ein. daß ihn ihre Küsse reizten, und er sehnte sich sehr nach zärtlichen Stunden, die er mit ihr verleben könnte. Es sollte ein halbwacher dünner Traum sein, nach langer, schwerer und erfolgreicher Arbeit. dacht« er. au» dem er ftssch und gesund wieder erwachen würde, um dann alles lachend zu vergessen. Er traf sie und sprach ihr davon, daß er einig« Wochen vereisen wolle, nickt weit, etwa in de» Harz oder in den Taunus oder ins Riesengebirge , und daß doch auck sie das Verlangen haben müsse, dem stickigen Dunst der Stadt für einige Zeit zu entweichen. Er sagte:„Ließe e« sich nicht
machen, daß wir einander irgendwo träfen, wie zufällig,— so, daß es niemanden auffiele?" Sie verstand ihn, und sie verhehlte es sich nicht, daß er nur ihrem eigenen Wunsch entgegenkam.„Ich bin dabei," sagte sie,„aber ich schlage den Böhmerwald vor. Das ist ein Winkel, den niemand aufsucht." Sie verabredeten sich und schieden dann beide mit einem Händedruck, der ein stummes Versprechen war. Zu Hause aber erklärte Reisner„Ich gehe in den Böhmer- wald, dort bin ich allein und habe die Ruhe, die ich brauche." Er verabschiedete sich zärtlich von Lucie und hob sein Kind zu sick empor, um es zu küssen. Prokop blieb diesmal daheim. P i e r te r Teil. 18. Auf dem Bahnsteig der kleinen Stadt Tiefurt ging ein Mann auf und ab, mit langsamen, schüchernen ausholenden Schritten, die sich anscheinend nicht genug darin tun konnten, zu zeigen, daß sie gehen konnten, als ob dieses simple Auf- und Abgehen eine Art Genuß wäre oder doch ein langent- behrtes Vergnügen,— ein Mann, der allen, die ihn sahen, sofort auffiel, nicht durch äußere Merkmale, die jedem in die Augen springen mußten, im Gegenteil eben dadurch, daß er seine Person so diskret in den Rahmen des Ganzen einfügte, gleichsam in diesen Rahmen schüchtern hineinschlüpfte, wie be- sorgt, jemand könnte dies sehen oder gar übel vermerken. Man konnte diesem Mann ein Alter von etwa sechzig Iahren geben, denn sein Rücken war leicht gekrümmt, seine Haare schimmerten in einem schmutzigen Silber, und insbe- sondere sein Antlitz, in dem zwei klare, heitere Augen tief nach innen lagen, war von einer Unzahl von Runzeln durchackert, schmal und blaß und durchsichtig, wie man es zuweilen bei alten Leuten findet, die soeben von einem langen Krankenlager aufgestanden sind. Der Alte hatte ostenbor die Absicht, den Personenzug nach Hamburg zu benutzen, denn er mischte sich in. das Häuflein Menschen, das soeben die Bahnsperre passiert hatte und nun dem Zug. der eben einfuhr, entgegendrängte. Als der Zug sich fünf Minuten später wieder in Dewe- gung setzte, hatte der Alte seinen B!"tz in einem Wagen dritter Klasse eingenommen, einem Kleinstädter gegenüber, der gleich- falls nach Hamburg fuhr, und zwar um Einkäufe zu machen.
„Das Gefängnis!" sagte erklärend dieser Mann, als der Zug an einem großen kasernenartigen Gebäude vorüberfuhr, und er sagte es, teils weil er in dem Alten einen Fremden vermutete, teils weil das immerhin ein Punkt war, an dem sich ein Gespräch anknüpfen ließ. Der Alte nickte nur und sagte freundlich:„Ja, das Ge» fängnis." Daraus ersah der Kleinstädter, daß der andere keineswegs einer von jenen Finsterlingen war, die ein Coup6gespräch grundsätzlich durch ein dumpfes Knurren ablehnen, und er zögerte deshalb nicht länger und stellte sich vor:„Mein Name ist Granich. Ich fahre geschäftehalber nach Haniburg." Wieder nickte der Alte.„Ich heiße Behrens," sagte er in einem Ton, der zeigte, daß es ihm eine Lust war, zu reden. „und ich reise auch nach Hamburg , aber nur zu meinem Ber- gnügen." Granich seufzte.„Ach ja, vergnügen! Die'Zeiten sind schwer..." „Sind sie das?" fragte wie erstaunt Behrens. Sogleich begann der Mann namens Granich von seinen Verhältnissen zu reden, und obgleich diese sicher nicht inter- essant, ja recht alltäglich und banal waren, hörte ihm Behrens mit sichtlicher Aufmerksamkeit zu, mit einer Aufmerksamkeit. an der sich der andere wärmte, in solchem Maße, daß es dahin kam, daß Behrens nach und nach über das Wohl und Wehe der gesamten Familie Granich nebst Anhang erschöpfend auf- geklärt war. Aber Granich war nicht unhöflich und auch kein Egoist. der nur an sich dachte, sondern er fragte:„Sie sind sicher em Fremder?" „Ja, ich war lange in der Fremde." bejaht? Behrens „Sie sind recht alt? Wohl an die sechzig?" „Drswndfünfzig," sagt' Behrens. Granich war zwar höflich, aber kein Diplomat. Er sagte: „Donnerwetter, da haben Sie sich nicht gut gehalten— ich hätte Sie mindestens zehn Jahre älter geschätzt!" Behrens lächelte:„Nein, ich habe mich nicht gut ge- halten..." Es war etwas Eigenes um dieses Lächeln, Granich jeden- falls hatte noch nie jemanden so lächeln sehen: Der tut nie- mand-'m etwas zu Leide, dachte er. � „Bitte, wollen Sie nicht noch etwas erzählen?" fragt« Behrens.(Fortsetzung folgt.)