Nr. 375 ♦ ZS.�ahrgakA
Beilage öes Vorwärts
Mittwoch, IS. Mgust?H21
heute abenö Mtglieöerversammlungen m öen�lbteilungen �ic ivichtigen Tagesordnungen erfordern die Anivcsenheit aller Genossen nnd Genossinnen.
Merzte unö Krankenkassen. Wir veröffentlichen nachstehend eine Zuschrift des Er- fchäftsführers des Verbandes der Krankenkassen Groß- Berlins , Carl Schulz Damit schließen wir die Diskusston über die Frage„Acrzte und Krankenkossen". Sie zeigte. wie viele grundsätzlich wichtige Fragen zwischen den Bc- teiligten in ihren Fachblättcrn und durch ihre Orgoni- sationen Erledigung verlangen. Der„Vorwärts" wird, soweit es die drängenden politischen Fragen und der Raum des Blattes zulassen, dabei immer bereit sein, mitzuhelfen. Wenn ein Kenner der Berliner Krankenkassenverhältnisse die Ausführungen des Herrn Dr. med. Sadelkow in Nr. 369 des„Vor- wärts" vom 7. d. M. unter dem Rubrum:„Honorarhunger der Kassenärzte" liest, gerät er unbedingt in Zweifel darüber, ob er sich mehr über die Unkenntnis oder über die Leichtfertigkeit des Dr. S. wundern soll. Die Vertreter der Versicherten wissen es der Redaktion des„Vorwärts" zu danken, daß sie Gelegenheit gibt, die tatsächlichen Verhältnisse scharf in der Oeffentlichkeit zu beleuchten. Zunächst hätte sich Dr. S. vor Abfassung seines Artikels über das behandelte Thema ein Privatissimum von der Wirtschaftlichen Ab- tcilung des Groß-Berliner Aerzte-Bundes halten lassen sollen. Ob er nachdem noch seinen Artikel geschrieben hätte, darf bezweifelt werden. Der Honorarhunger der Aerzte ist vorhanden, man soll sich aber ehr- licherweise davor hüten, dies den Krankenkassen zur Last zu legen. Ihn auszumerzen, ist Erziehungsarbeit, und die müssen dieAerztean ihren Standesgenossen selber vornehmen. Es wird von Dr S. weiter behauptet, in den Reihen der Ver- sicherten herrsche völlige Unklarheit über Art und Umfang der Ent- lohnung der Kassenärzte,— um im Anschluß an diese Behauptung die Honorarzohlungen der Krankenkassen als ein„Trinkgeld" hinzu- stellen. �ie Verträge über die Honorarzahlungen der Kassen werden zwischen den Kassenvertretern und den Aerzteorganisationen obge- schlössen. Die Honoraroerträge zwischen Aerzten und Kassen bestehen nun schon seit mehreren Jahrzehnten, sie wurden stets in freier Ver- einbarung geschaffen, sie haben die Pauschalnorm als das für beide Teile günstigere festgelegt, die Höhe des Pauschal? hat sich seit dem Jahre 1914 versiebenfacht. Es ist vom Verband der Kranken- kassen Groß-Berlins für das erste Vierteljahr des ab 1. März 1921 laufenden Vertrages eine Summe von über 10 Millionen Mark an reinem Arzthonorar bereits ausgezahlt worden. Den Versicherten diese Summe von über 10 Millionen Mark als ein„Trinkgeld" für die Aerzte hinzustellen und vorzuwerfen, ist doch unmöglich. Was „die Versicherten selbst als eine Ungerechtigkeit empfinden", darüber sollte Herr Sadelkow sich ebenfalls im Kreise derjenigen seiner Kollegen informieren, die stets und immer die Kassenmitglieder als Patienten zweiter Klasse behandeln, oder die neben den Kassenärzten versuchen, noch mehr oder minder hohe Privathonorare von den Kossenmitgliedern, die sich in ihre Behandlung begeben haben, zu er- zwingen. Sollten wir alle die Fälle aufzeichnen, in denen Angehörige von erkrankten Kassenpatienten abends und nachts von Arzt zu Arzt rennen, von Angst gehetzt um das Leben ihrer Angehörigen, um endlich erst nach stundenlangem Suchen einen Arzt zu finden, der entweder nur Privatarzt ist oder aber der noch nicht im Beruf ver- knöchert war und Menschenfreund geblieben ist?«ollten wir alle die uns bekannten Fälle von Dielgeschöftigkeit und der sich daran knüpfenden falschen Diagnosen und unsachgemäßen Behandlungen chronologisch verwerten? Ein Buch würde ssch bequem damit füllen lassen! Doch zur Sache zurück: Di« Krankenkassen hoben auf die Ver- teilung des von ihnen gezahlten Honorars an die Kassenärzte gar keinen Einfluß: diese Verteilung nach Leistungen erfolgt durch die Aerzteorganisation. Wenn Herr Sadelkow der Meinung ist, daß der Wert eines Monatsbons bei Verordnung eines Soolbades oder eines Hustenmittels zu hoch, bei einer Ausschabung oder sonstigen Ope- ration aber zu niedrig sei, so kann an ihm dabei zustimmen. Da aber die Krankenkassen die Verteilung des Honorars den Aerzten selber überlassen, kann ihnen nur Ungerechtigkeit einen Vorwurf daraus machen, daß scheinbar die Aerzte selber bisher nicht in der Lage waren,«inen ihnen gerecht erscheinenden Derteilunysmodus zu finden. Es mag anschließend hieran noch bemerkt werden, daß der Ausschuß des Verbandes der Krankenkassen in seiner letzten Sitzung
seine ausdrückliche Bereitwilligkeit erklärt hat, einer Vereinbarung über die Erhöhung des Verfichertenpaufchals näherzutreten. Vor- ausfetzung dafür muß aber sein, daß die Vertreter der Aerzte nicht nur mit solchen, die Versicherten und die Krankenkassen herabsetzenden Klagen, sondern mit einwandfreiem Zahlenmaterial aufwarten und den Nachweis führen, daß es ihnen ernst ist, mit den Kassenvertretern auch bezüglich der Familienversicherung zu einem beide Teile be- friedigenden Abschluß zu gelangen. Geradezu leichtfertig operiert Herr Sadelkow mit seiner Be- hauptung:„Nach Durchführung der Familienversicherung und der demnächst zu erwartenden abermaligen Erböhung der Vcrsicherungs- grenze auf 28 MX) M. n erden nahezu alle Menschen Kassenmitglieder sein..." und„nach Durchführung der Familienversichcrung wer- den auf etwa ISlX) Bersicherte zwei Aerzte kommen."... Bei solcher Beweisführung länger zu verweilen, lohnt wirklich nicht, denn es wird ewiges Geheimnis des Herrn Sadelkow bleiben, angesichts der Berliner Verhältnisse 2 250 000 Versicherte errechnen zu können. Mögen unsere Aerzte nicht solche„Künstler" werden, sondern Menschen und Wissenschaftler bleiben, dann wird es besser werden.
GroMerlln
Jerienlanö.
Die großen Ferien wurden stets mit Sehnsucht erwartet und ein kleiner Knirps erklärte einmal, daß er„der Ferien wegen" Lehrer werden wolle. Tausende von Proletarierkindern müssen in der Groß- stadt bleiben, und so war es zu begrüßen, daß die Gemeinden Ferienspiele veranstalteten, die außerordentlich segensreich gewirkt haben. Es ist dabei nur zu bedauern, daß der Magistrat Berlin keine Möglichkeiten fand, die die Weiterfühpung der Spiele gestattet hätten.. Der Bezirk Neukölln hatte sparsam gewirtschaftet, und so tummeln sich auch heute noch die Neuköllner Jungen und Mädel in der Abtei und in der Königsheide. In der Abtei. Gesang tönt über die Spree, lauter Kinderjubel, froh werden wir begrüßt. Zahlreiche Kinderhände strecken sich uns entgegen. Da ist nichts von Schüchternheit, aber auch nichts von Frechheit zu spüren. Die Kinder bewegen sich ohne Scheu, doch mit jenem wohl- tuendem Takt, von dem man wünscht, daß er allen Menschen eigen wäre. Einige von ihnen liegen auf Decken hingestreckt und lesen, wenige nur schlafen, die meisten vergnügen sich im Reigenspiel. Große und Kleine, Jungen und Mädels in fröhlichem Durchein- ander. Bälle fliegen und werden munter gefangen, und die Lei- terinnen spielen mit den Kindern in trautem Verein. In eine Ecke haben sich fleißig« Mädchen zusammengesetzt und flechten mit ihren geschickten Kinderhänden freundliche Kränze aus künstlichen Blumen, die beim Abschiedsfest getragen werden sollen. In einem Kessel brodelt das Mittagessen: Die Kinder erhalten jeden Tag eine Mahlzeit, außerdem noch Kaffee und zwei Schrippen. Die Eltern zahlen für ein Kind 6 M. pro Woche, also 1 M. pro Tag, für ein zweites die Hälfte, und jedes weitere Kind einer Familie ist frei. Mit der Straßenbahn werden die Kleinen befördert. Das erfordert eine Ausgabe von 600 M. wöchentlich. Streng wird darauf geachtet, daß die Kinder nach dem Essen ruhen. Sie können in dieser Zeit schlafen, lesen, auch leise plaudern, nur lautes Lärmen muß unterbleiben. Bei schlechtem Wetter steht eine ausgezeichnete Liegehalle zur Verfügung. In der Abtei sind die schwächlichen Kinder untergebracht, während die kräftigeren in der Königsheidc tollen. Beim Abschied sagt uns noch einer der kleinsten ein Kinder- gedicht mit sichtlichem Stolz auf, vor dem Tore treffen wir eine Gruppe von zehn Jungen, die die ehrenvolle Aufgabe haben, die für den Tag nötigen Schrippen zu holen. Abschicdsrufe, Winken und Lachen begleitet uns. In der Königshcide. ist der rechte Platz für Jndianerspiele: Die Kinder haben Zelte auf- geschlagen, in kleinen Gruppen liegen sie zerstreut umher, spielen. lesen oder erzählen sich. Eine Leiterin liest Märchen vor. Mit großer Aufmerksamkeit folgen ihre Zuhörer und ZuHörerinnen, und
wehe, wenn sie in einem bekannten Märchen etwas wegläßt, sie findet sofort harte Kritiker. Ueberall wird fleißig Ball gespielt, kein Wunder, daß der Verbrauch an Bällen recht groß ist. Auch hier halten die Kinder im allgemeinen selbst auf Ordnung. Papier ver- schandelt nicht die Heide, da es ständig beseitigt wird. Geräumige Abortanlagen sind vorhanden. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß eine kleine Freilichtbühne auf dem großen Spielplatz errichtet ist, die aber mindestens doppelt so groß sein müßte, wenn auf ihr etwas Rechtes zustande gebracht werden soll. Eine Sanitätsbaracke ist errichtet, in der Arbeitersamariter bei etwaigen Unglücksfällen zur Verfügung stehen. Doch sind schwere Verletzungen sehr selten, trotzdem ost mehr als 4000 Kinder an den Ferienspielen teilnehmen. An der nach Johannisthal führenden Straße find die Speise- hallen nebst den dazu nötigen Kücheneinrichtungen untergebracht. In zehn durch Gas geheizten Kesseln brodelt das Essen, und in Scharen rücken die kleinen Geister heran, in der einen Hand den Löffel, in der anderen ihren Eßnapf haltend, der alsbald gefüllt ist, und dann geht's hinein in die Halle, wo lustig geschmaust wird. Die Halle ist mit Dampfheizung versehen, auch Wasserleitung ist vorhanden, so daß unter fließendem Wasser das Eßgeschirr gereinigt werden kann. Unglaublich ist's, was dort in der Heide alles verloren wird: Schuhe, Jacken, Hüte, Decken, Rucksäcke, Löffel usw. Alle diese Dinge werden gesomelt und, soweit möglich, den kleinen Ver- licrern zurückgegeben. Im vergangenen Jahre wurde viel über Gesindel geklagt, daß die Königsheide unsicher machte, so daß Patrouillen und Gendarmerie dagegen aufgeboten werden mußten. In diesem Jahre ist diese häßliche Belästigung weggefallen, trotzdem ist auch nach dieser Rich- tung für genügende Aufsicht gesorgt. Man gewinnt den Eindruck, daß die Spiele ausgezeichnet or- ganisiert und gut geleitet find, und so ist es begreillich, wenn die Kleinen sich wohl fühlen und anstatt in enge Schulräume zurück- zukehren, mit Freuden ihren Schulunterricht hier draußen«mpfanae-, möchten, denn ihre Herzen sehnen sich nach Luft und Sonn--.
ver Leichenteilfunö im �ngelbecken. Die Ermordete ein IS— 24iähriges Mädchen. Der Lcichentcilfund im Luisenstädtischen Kanal, über den wir gestern berichteten, ist jetzt insoweit geklärt, als man weiß, daß die zerstückelte Leiche die einer weiblichen Person ist. Am gestrigen Dienstag hat man auch noch den Kopf und was sonst noch fehlt«, gefunden. Vom Kopfe fehlt nur der ganze Unterkiefer. Das dunkel- blonde Haar ist nicht kunstgerecht, sondern in sogenannten Treppen von unkundiger Hand ziemlich kurz abgeschnitten, vielleichi von dem unbekannten Mörder selbst. Auch die neugefundenen Leichenteile wurden im Schauhause von dem Arzt Dr. Straßmann jr. untersucht. Die kleinen Ohren weisen Ringlöcher auf. Auch das deutet auf eine Frau oder ein Mädchen hin. Die ebenfalls kleine Nase ist durch zwei von oben nach unten geführte Schnitte gespalten. Der Oberkiefer läßt er- kennen, daß die Ermordete ein ungemein schlechtes Gebiß gehabt haben muß. Er weist große Zahnlücken auf. Erhalten sind nur der linke Eckzahn und ein linker Backzahn. Alle anderen Zähne sind entweder abgestockt oder fehlen ganz. Entsprechend wird wahr- scheinlich der Unterkiefer ausgesehen haben. Die Ermordete ist,-sso« weit sich aus den Körperteilen schätzen läßt, etwa 18bis24Iahre alt gewesen. Ein besonderes Kennzeichen teilten wir gestern schon mit, eine neue Nngclbildung am Zeigefinger der linken Hand. Elnii ähnliche Veränderung weist nun auch noch der Daumen der gestern gefundenen rechten Hand auf. Eine Narbe an diesem Daumenglicd läßt darauf schließen, daß die Neubildung und Veränderung, ein« Verbreiterung und eine Verkrümmung, auf eine Verletzung des Daumens zurückzuführen ist. Für die Aufklärung des grau- sigen Fundes hat das Polizeipräsidium eine Belohnung von 6 0 00 M. ausgesetzt. Zweckdienliche Mitteilungen sind an Kriminal- kommissar Dr. Riemann, Zimmer 34, des Berliner Polizei- Präsidiums, Hausanruf 499, �Zu richten. Aus dem Publikum, für das die Belohnung bestimmt ist, haben sich gestern schon eine Reihe von Leuten gemeldet, die Mitteilungen über vermißte Mädchen machten. Die Zähl dieser Mädchen, deren Verschwinden bisher nicht gemeldet war, ist hiernach wieder lehr groß. Die unbekannte Ermordete könnte, nach der Beschaffenheit der Leichenteile zu urteilen, erst seit etwa 14 Tagen vermißt werden.
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Die Rächer. Roman von Hermann Wagner.
Lautenbach durchmaß erregt das Zimmer und empfand es als eine Wohltat, daß er der Erbitterung, die er jahrelang stumm hatte mit sich herumtragen müssen, Luft machen konnte. Er redete, ohne daß es der andere nötig hatte, zu fragen. Behrens hörte aufmerksam zu. Reisne'' war nicht nur grausam und hart, sondern auch raffiniert. In einer schwachen Stunde hatte er ihn, Lauten- bach, übertölpelt, indem er ihn, der sich zu seinem Gesellschafter hergegeben hatte, einen Vertrag unterschreiben ließ, der son- derbare Klauseln enthielt. Klauseln, die auf den ersten Blick unverfänglich schienen« die aber doch dafür berechnet waren, dem Unterzeichner des Vertrages im gegebenen Augenblick die Gurgel zuzuziehen. Und das hatte Reisner besorgt, vor vier Iahren, zu einer Zeit, da das Geschäft sich eben anschickte, einen unerwarteten Aufschwung zu nehmen. „Was habe ich gearbeitet," klagte Lautenbach,„Tag und Nacht, unermüdlich, bis ich mit meiner Gesundheit fast auf den Hund herunter war! Und ich habe es gern getan. Ich habe klein angefangen und wollte hochkommen. Das war mein einziger Wunsch, das war meine einzige Freude. Und es war auch schon so weit. Ich hatte alles verfügbare Geld in eine große Sache gesteckt, die totsicher war und die nur ein halbes Jahr Zeit brauchte, um auszureifen. Und da--" „Und da?" fragte Behrens. Lautenbach ballte die Fäuste.„-- und da kam er, der Lunte gerochen hatte, und kündigte sein Geld, das mir gerade jetzt unentbehrlich war und das ich mir von anderer Seite so schnell nicht beschaffen konnte,— kündigte es, alles, bis auf den letzten Pfennig, nur weil er wußte, daß er mich damit ruinieren mußte!" „So, und h a t er Sie ruiniert?" „Nein, dazu lleß er es nicht kommen, das lag nicht in feinem Plan. Er ist ein Fuchs. Er legte mir neue Daum- schrauben an. Er wollte mir das Geld noch ein Jahr belassen, wenn ich einen neuen Vertrag unterschriebe, einen, der ihm fünfundsiebzig Prozent des Gewinnes an jener einen großen Sache sicherte,— und ich unterschrieb auch, nur um von diesem
Menschen loszukommen, dem ich nie etwas zu Leide getan hatte und der sich doch ein Vergnügen daraus machte, mich zu schinden!" „Und so sind Sie jetzt von ihm frei?" „Ja, Gott sei Dank... Und deshalb bleibt mir jetzt auch nichts anderes übrig, als aufs neue zu arbeiten, und ich kann an nichts anderes mehr denken, als wie ich das Geld wieder zusammenbringe, das mir der Räuber abgenommen hat... Unberufen, es geht gut!" „Und dabei werden Sie langsam alt," sagte Behrens sehr weich,„immer älter und älter..." „Ich bin noch nicht fünfzig..." „Und doch haben Sie schon weiße Haare. Haben Sie das noch nicht bemerkt?" Lautenbach fuhr sich über den Kopf hin und murmelte: „So ist das Leben..." „Falsck," rief Behrens aus,„ich finde nicht, daß das Leben s o sein muß!" „Wie sonst anders?" fragte Lautenbach spöttisch, da er sich nun endlich erinnerte, daß er einen halb närrischen, halb komischen Sonderling vor sich hatte, einen entlassenen Sträf- ling, vor dem er sich dummerweise zu unvorsichtigen Bekennt- nissen hattte hinreißen lassen. „Wie anders? So, daß Sie, anstatt alle Ihre Kraft dar- auf zu verwenden, vorwärts zu kommen, endlich einmal daran denken, dort zu bleiben, wo Sie zufrieden und glücklich fein können... Oder glauben Sie, daß Sie ewig hier leben werden?" „Ich habe Kinder..." „Ja, denen Sie es beibringen, es ebenso zu machen, wie Sie es gemacht haben, und die ihre Kinder wieder dasselbe lehren werden..." „Wer sind Sie überhaupt?" fragte Lautenbach gereizt, da er sich besann, daß er einem Menschen zuhörte, der aus dem Gefängnis kam. Behrens stand auf und streckte Lautenbach die Hand hin. „Ein Mensch, dem Sie leid tun, well Sie sich unnützerweise soviel plagen... Wollen Sie nicht meine Hand?" Lautenbach sah zur Seite, um den Augen dieses zudring» lichen Menschen zu entgehen. Da zog Behrens seine Hand wieder bescheiden zurück und sagte, schon an der Tür:„Behüt Sie Gotti"
Er fuhr mit der Hochbahn bis zur Lübecker Straße. Niemand hätte es ihm angesehen, daß er in Harvestehude eine eigene komfortable Villa besaß, während er sich jetzt in Hohen- selbe die drei Treppen zu den zwei möblierten Zimmern hin» aufbemühte, die er bei einer Witwe namens Brigitte Glöckner gemietet hatte. Obwohl der neue Mieter erst kaum acht Tage bei ihr wohnte, hattte diese Frau ihn doch schon sehr schätzen gelernt. Seine Verhältnisse schienen ziemlich dürftig, aber es gab doch keinen, der heiterer war. Und die Art. wie er mit ihrem kleinen Mädchen, der vierjährigen Gertrud, verkehrte, ließ darauf schließen, daß er auch Kindern sehr zugetan war, was man von„möblierten Herren" im allgemeinen nicht behaupten konnte. Heute kam er ungewöhnlich spät. Frau Glöckner setzte ihm das Mittagessen vor, das hatte nachgewärmt werden müssen. Er verzehrte es, zog dann die Brieftasche und sagte: „Liebe Frau, ich muß für einige Wochen verreisen." Frau Glöckner erschrak. Wollte sich auch dieser wieder davonmachen, kaum daß er ein wenig warm geworden war? Und sie dachte daran, wie schwer es war, einen ordentlichen und pünktlich zahlenden Mieter zu bekommen. Behrens legte ihr zweihundert Mark auf den Tisch.„Als Vorschuß auf die Miete für die nächsten zwei Monate," sagte er,„und damit Sie eine Sicherheit haben, daß ich auch wieder» komme." „Aber--" wandte Frau Glöckner mit vor heißem Schreck glühendem Gesicht ein. „Bitte, behalten Sie nur," versetzte er rasch,„und helfen Sie mir packen." Es war freilich nicht viel was einzupacken war, es hatte alles in der braunen Segeltuchtasche von mittlerer Größe Platz, die ihr Besitzer bei einiger Anstrengung ganz gut selber tragen tonnte. Mit dieser Tasche begab sich Behrens wieder zur Hoch- bahn zurück, die ihn nach dem Hauptbahnhos brachte. Dort löste er ein Billett dritter Klasse zu dem Personenzug nach Berlin . Jeder, der es sah, wie er bescheiden in einer Ecke des Wagens saß, konnte ihn für einen Großvater halten, der zu seinen Enkeln auf Besuch fuhr. (Forts, folot.)