Nr. ZT. Jahrgang
C3BLXl&:i3BL-Z
-'-.yAr�r�rrr'Sggopff
Heüage öes vorwärts
SonnabenS, 17. September 1921
Hroß-Oerliner Jinanzen. Einige Wahrheiten an die Adresse der Heuchler.
1
Eines der beliebtesten Argumente, deren sich unsere Gegner bc> dienen, ist die fortgesetzte Behauptung, die sozialistische„Mißwirt- schaft" Hab« die Finanzen der Stadtgcmcinde in völlige Unordnung gebracht, so daß Berlin nicht mehr allzuweit von dem völligen Zu» sammenbruch entfernt sei. Daß das ein» grobe Unwahr- heit ist, wissen die Nechtsbolschcwisten selbst, aber sie scheuen vor keiner noch so törichten und noch so gemeinen Verleumdung zurück, wenn es gilt, die ihnen oerhaßte und unbequeme Sozialdemokratie zu bekämpfen. Daß sie dadurch gleichzeitig den Kredit Ber. lins untergraben und mit der Rcichshauptstadt das gesamte Vaterland aufs schwerste schädigen, das läßt diese Gesellschaft völlig kalt. Was gilt ihnen das Ansehen der Republik ? Die Verwirrung zu vergrößern, das deutsche Volk aufzuhetzen gegen diejenigen, die in emsiger Arbeit bemüht sind, das Niedergerissene wieder aufzu- bauen, ist ihr einziges Ziel, und diesem Ziele steuern sie skrupel- los zu. Gewiß, die Finanzlage Berlins ist keine rosige, aber sie ist nicht schlechter als die der meisten anderen deutschen Gemeinden, und vor allem ist das heutige Elend nicht auf die Sozialdemokratie, sondern auf den Krieg und seine Folgeerscheinungen zurückzuführen. Daß Berlin trotz alledem durchaus kreditfähig ist, be» weist die Tatsache, daß emer Gesamtschuldenlast von 4,1 Milliarden Mark am 1. April dieses Jahres, die sich nebenbei bemerkt seit dem 1. Oktober 1320, dem Tage, wo die neue Stadtgemeinde ins Leben getreten ist, noch um 216 Millionen Mark verringert hat, Vermögenswerte von fast S Milliarden Mark gegenüberstehen. Mit anderen Worten: Der V e r- m ö g e n s ü b e r s ch u ß der Stadt beträgt annähernd eine Milliarde Mark. In Wirklichkeit ist der Ueberschuß aber weit höher, denn die Schulden sind in Papiermark zu zahlen, wäh. rend die Vermögenswerte zum größeren Teil noch mit den Kriegs» werten, also nach Goldmark, eingesetzt sind. Der Laie kann sich nuGschwer«ine Vorstellung von dem u n- heilvollen Einfluß des Krieges auf die städti» fchen Finanzen machen. Wer aber mitten im kommunal» politischen Leben steht, der weiß, welche gewaltigen Ausgaben der Krieg von Anfang an de» Gemeinden auferlegt hat. Ein Bild davon gewinnt man, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Kriegsausgaben allein des engeren Berlin einschließlich der Lebens- mittclverwaltungen bis Ende 1919 rund 3479 Millionen Mark be. trugen, denen nur etwa 2894 Millionen Mark an Einnahmen gegen- überstanden. Zieht man von der nicht gedeckten Summe von 666 Millionen Mark die Beihilfen des Reichs und des Staats für Aus- gaben für die Kriegswohlfahrtspflege ab, so bleibt immer noch ein Defizit von 456 Millionen Mark, für das cinie Deckung durch erhöhte Einnahmen nicht vorhanden ist. Wofür sind nun diese Summen verausgabt? In erster Linie für Familienunter st ützungen für Angehörige der Kriegs» teilnehmcr, weiter für Mietunter st ützungen, für Ber- zinsung der Kriegsschulden, für Kriegszulogen für die Beamten und Angestellten der Stadt, für Erwerbs- losenfürsorge, für Bolksspeisung, für Kriegs- Wohlfahrtspflege, Lebensmittelversorgung und ähnliche Zwecke, die samt und sonders durch den Krieg bedingt waren. Bedarf es angesichts dieser Zahlen wirklich noch eines be- sonderen Beweises für die Richtigkeit unserer Behauptung, daß einzig und allein der Krieg die Finanzen Berlins ebenso wie die der übrigen Gemeinden in Unordnung gebracht hat? Und ist es nicht mehr als Heuchelei, wenn dieselben Kreise, die die Schuld an dem Verbrechen des Krieges tragen, die Sozialdemokratie für die von ihnen selbst begangenen Sünden verantwortlich zu machen suchen? Wenn gegen die städtische Verwaltung ein Vorwurf zu erheben ist, so ist es der, daß sie sich während des Krieges daraus beschränkt
hat, lediglich die Zinsen der Kriegsschuld durch Kriegssteuern oder durch ander« besondere Einnahmen zu decken, anstatt durch ein großzügiges Finanzprogramm der drohenden Belastung der Zu- kunft vorzubeugen. Aber dieser Vorwurf richtet sich nicht gegen den sozialistischen, sondern gegen den früheren bürger- lichen Magistrat und die frühere bürgerlich« Mehrheit der Stadtverordnetenversammlung. Wäre man den Anregungen der Sozialdemokraten gefolgt, so würde es um die Finanzen Berlins weit besser bestellt sein. Aber leider zeigte die bürgerliche Ber- wältung für weitausschauende Finanzpläne nicht das nötige Ber- ständnis, sie befolgte die gleiche Praxis wie die Reichsregierung,! und überließ das weitere getrost der Zukunft. So kam es denn, wie es kommen mußte. Die Schulden wuchsen während des Krieges von Jahr zu Jahr an. Berlin hatte am' 31. März 1918, also zu einer Zeit, wo noch das Dreiklasienwahlrecht der Bourgeoisie die große Mehrheit gesichert hatte, eine schwebende Schuld von 249 446 999 M., in Charlottcnburg betrug die schwebende Schuld 83 997 999 M., in Spandau 67 982 999 M., in Schöne- berg 154 756 999 M., in Neukölln 196 961 999 M. Die 21 größten der jetzt zusammengeschlossenen Gemeinden verfügten am 31. März 1918 über Aktiva in Höhe von zusammen 2 938 979 999 M., denen Passiva von 2 143 749 999 M. gegenüberstanden, so daß sich ein Ueberschuß der Aktiva über die Passiva von 794 338 999 M. ergab. Neue, gewaltige Anforderungen stellte die Nachkriegszeit an die Verwaltung. Die ungeheure Steigerung der Lebensmittel und aller Gebrauchsgegenstände bedingte fortgesetzte Erhöhungen der Gehälter der Beamten und der Löhne der Arbeiter, an sich ent- behrliche Kräfte konnten aus sozialpolitischen Erwägungen nicht entlassen werden, die zunehmende Erwerbslosigkeit zwang zur In- angriffnahme von Notstandsarbeiten, die Kosten für die Verpflegung in Krankenhäusern und anderen Anstalten überwogen die Ein- nahmen um das Vielfache, die Werte warfen hauptfächlich infolge der gestiegenen Preise für Rohmaterialien nicht nur keine Ueber- schüsse mehr ab, sondern sie erforderten teilweise beträchtliche Zu- schüsse. Kurz und gut, wohin wir blicken eine Steigerung der Aus- gaben, die durch gesteigerte Einnahmen auch nicht entfernt ausgc- glichen werden konnten. In dieser Situation trat die neue, in ihrer Mehrheit sozialistische Verwaltung ihr Amt an. Es war keine angenehme Erbschaft, die sie übernahm, und wenn sich die Sozialdemokratie das Leben hätte bequem machen wollen, so hätte sie die Erbschaft einfach aus- schlagen und es ihren Gegnern überlassen können, Ordnung in die Finanzen zu bringen. Daß sie das nicht getan, sondern in treuer Erfüllung des ihr von der Groß-Berliner Bürgerschaft gewordenen Auftrages selbst Hand ans Werk gelegt und unter. Zurückstellung mancher ihr lieb gewordenen und früher von ihr propagierten For- derungen die Ausgaben mit den Einnahmen ins Gleichgewicht zu bringen gesucht hat, das sollten auch diejenigen ihrer Gegner an- erkennen, die mit den sozialistischen Maßnahmen im einzelnen nicht einverstanden sind. Auch einer bürgerlichen Mehrheit wäre es nicht gelungen, mit einem Schlage das Defizit zu beseitigen, es sei denn, daß sie alle Ausgaben für kulturelle Zwecke gestrichen und alle noch so berechtigten Forderungen der Angestellten, Beamten un� Arbeiter abgelehnt hätte. Den Beweis, daß Berlin unter sozlalisti- scher Herrschaft die Gelder der Steuerzahler verschwendet hat, wird niemand erbringen können. Es sind diejenigen Ausgaben geleistet worden, die un- bedingt geleistet werden mußten, und es herrschte das redliche, leider nur allzu oft von bürgerlicher Seite durchkreuzte Bestreben vor, neue Einnahmequellen zu erschließen, um unter Schonung der minderbemittelten Kreise Deckung für die notwendigen Ausgaben zu finden. P a u l H i r s ch.
Eisenbahnbeschweröen. Eisenbahnwochbeamke schießen auf Fahrgäste? Ueber einen Borfall, der gründlichster Untersuchung bedarf, wird uns aus Leserkreisen folgendes mitgeteilt: Als der Vorortzug nach Strausberg am Mittwoch, den 14. d. M., abends 6 Uhr 15 Min., einig? hundert Meter vor seinem Endziel' auf freier Strecke hielt, benutzten einige Insassen des Zuges die Gelegenheit,.auszusteigen und über das Nebengleis hinweg die Straße nach Eggersdorf zu erreichen. Dabei wurden sie aber von einer bereitstehenden Wache überrascht und nach Abnahme ihrer Fahrkarte zum Bahnhof Stiausberg geführt. Einige der Herren hatten sich durch Weglaufen der Festnahme zu entziehen oersucht, was einen der Wachthabenden zur Abgabe zweier dicht aufeinander folgenden Schüsse veranlaßte. — Unter den Insassen des Zugos löste dieser Vorgang eine starke Erregung aus und es muß auf das allerschärfste verurteilt werden, wenn Uebertreter der bahnpolizeilichen Vorschriften wie schwere Ber- brecher verfolgt werden, zumal die Hauptschuld an dem ganzen Vor- gang die Bahnbehörde selbst mit ihren unzureichenden Anlagen trägt. Der Bahnhof Strausberg hat nur einen Bahnsteig, von den Aus- steigenden muß immer ein Gleis übersckiritten werden, auf welchem der gesamte Berkehr nach Berlin mit Schnell-, Personen-, Güter- und Vorortzügen bewerkstelligt wird. So müssen die Züge vor dem Bahnhof erst längere Zeit warten: das benutzen trotz der bestehen- den großen Gefahr oftmals die Fahrgäste, auszusteigen, um schneller nach Haus zu kommen. Es handelt sich meist um Kolonisten, welche in Berlin erwerbstätig sind und denen jede gewonnene Minute, welche sie sich noch auf ihrem Grundstück betätigen können, nur zu erwünscht ist. Außerdem ist gerade der Zug. bei welchem die„Razzia" abgehalten wurde, täglich so überfüllt, daß die Fahrgäste froh sind, wenn sie demselben entrinnen können." Der Sckreiber erwähnt dann noch, daß außer den„Fangbeamten" auf der Strecke auch auf dem Bahnhof selbst noch eine Anzahl Kontrollbeamte der Direktion ficht- bar waren, während am Ausgang für das Publikum nur«in Knipser stand, so daß dort die übliche Drängelei und Anstauung eintrat. Die sonderbare Schießerei bedarf dringend der Aufklärung. Es besteht wohl kein Zweifel darüber, daß der Beamte, der die Schüsse abgegeben hat, zu einem solchen scharfen Vorgehen keine Berechti- gung hat, denn das Publikum, selbst wenn es sich eine Uebcrtretung zuschulden kommen läßt, ist kein jagdbares Wild. Die Sirccke Verlin— Erkner ohne Spätzug. Aus den Kreisen der Gastwirtsangestellten, Kellner, Köche und der Musiker wird in Zuschriften an uns darüber lebhaft Klage ge- führt, daß die Strecke Berlin — Erkner keinen ausreichenden Spätzug habe. Der letzte Zug gebt ab Friedrichstraße 12.23. Da um 1 Uhr die Lokale geschlossen werden, können die Angestellten natürlich nicht mehr zu ihren Wohnstätten zurückkehren und müssen bis zum ersten Zug ab Sch lesischen Bahnhof 4.15 Uhr früh während der Nacht in Berlin bleiben. Daß es nicht zu den Annehmlichkeiten gehört, müde und abgespannt von der Arbeit 4 Stunden Nacht sür Nacht im Wartesaal zu verbringen, ist wohl verständlich. Die Eisenbahndirektion sollte diesen sehr berechtigten Wünschest schleunigst Rechnung tragen, um so eher, als sie nicht gezögert hat, dahingehende Wünsche der im Westen wohnenden Bevölkerung sehr schnell zu befriedigen. Zum Beispiel geht der letzte Zug über die Wannseebahn nach Wannsee nachts 1 Uhr 19 Min. vom Wannsee- bahnhof ab. Die kcachenöen Vsttkonzerne. Mit jedem Tage häuft sich jetzt die Zahl der zusammengebrochenen Wettkonzerne und mit ihnen die Masse der in fast unerklärlicher Vertrauensseligkeit um ihre Ersvornisse betrogenen Einzahler. So hat gestern die„S p o r t b a n k' Willy Lampe u. Co., die am 29. September mit der erstmaligen Auszahlung der versprochenen Dividende von 199 Prozent beginnen sollte, ihre Zahlungen einge- stellt. Der größte Beil der Einzahlungen, die inner- halb weniger Wochen annähernd 2 Millionen betragen haben, ist verloren. In der Zentrale Knesebeckstraße 29, die polizeilich versiegelt worden ist. spielen sich erregteste Szenen der bitter ent- täuschten Einzahler ab. In dem bereits anhängigen Strafverfahren macht der Verteidiger Dr. Kurt Fontheim geltend, daß ein strafbarer Betrug deshalb nicht in Frage komme, weil von dem Angeklagten nicht falsche Tatsachen, die nur in der Vergangenheit oder Ge- genwart hätten liegen können, vorgespiegelt worden seien, sondern nur auf Grund seiner mangelnden Urteilsfähigkeit
Fräulein.
vi von Paul Enderling. eop?r!ztit, 15M, by J. G. Cottasebe Buchhandlung Nachf. Stuttgart u. Berlin Drinnen in der guten Stube stand Doktor Henning ein- sam an dern grünen Plüschsessel. Einmal hatte er den Versuch gemacht, sich zu setzen. Dann war er aber, wie auf etwas Verbotenem ertappt, empor- gefahren. Auf dem Nusibaum-Vertikow stand ein Fächer mit Pho- tvgraphien. Vorne war Theas Bild. Henning nahm das Bild vorsichtig heraus. Ein klein bißchen Staub wirbelte aus den Falten des Fächers. Thea faß in einem Sessel, die Veine übereinandcrgeschla- gen, ein Buch im Schoß, die Augen lachend auf den Beschauer gerichtet. Hennings rosiges, gutes Iugengeficht errötete tief. Wie fein war die Linie der Nase und wie voll war ihr Haar und wie... schön... war... der Mund... „Zch will dich immer lieb haben," sagte er leise.„Immer." Schnell stellte er das Bild zurück, als sich Schritte näherten. Julius Görke trat ein. Etwas zerstreut bot er ihm die Hand. Die Linke hielt einen Notizblock. Julius Görke war in Gedanken noch bei den Familientafeln des Stammbaums. „Wie heißt Ihr Vater?" „Rudolf Alexander Henning." Görke notierte. Hennings Gesicht trug den Stempel auf- richtigster Verwunderung. „Was ist er?" „Tot." „Also: was war er?" Henning wurde sichtlich verlegen.„Katastcrassistent," sagte er leise und setzte dann schnell, da er Befremden zu be- merken glaubte, hinzu:„Er stand dicht vor der Beförderung zum Katastersekretär, als er starb." Es klang wie eine Ehrenrettung des Verstorbenen. „Und Ihre Mutter war was für eine Geborene?" Henning schwitzte Angst. In aller Verwirrung kam er Vicht darauf. Frau Görke trat herein und erlöste ihn. Als Fräulein an der Beutlergasse anlangte, strömten die Kirchgänger aus de« Oberpfarrkirche zu Sankt Marien.
Fräulein grüßte nach allen Seiten. Görkes hatten so viele Bekannte. In starkem, ununterbrochenem Strom quoll es aus dem schmalen gotischen Seitenportal der Kirche auf die Straße. Die letzten Klänge der Orgel fluteten Heraus, die drinnen die mächtigen Hallen mit ihrem Schall füllte. Ein Stückchen Heiligkeit und Frömmigkeit zitterte so noch über die Straße, in der sich mit eiliger Geschäftigkeit die Läden geöffnet hatten. Thea kam mit Gerda Arm in Arm. „Wollen wir auf den Langen Markt zur Militärmusik? Oder zu Tante Jahr?" „Beides," entschied Gerda. „Du bist ein geniales Hundchen. Komm!" Und beide schwenkten in großem Bogen über die Straße zu dem alten, hohen, schmalen Haus, in dem sich zu ebener Erde die Konditorei befand. Um sie herum schwirrten die abge- rissenen Worte der Unterhaltungen:„Hast du den kleinen Re- ferendar gesehen? Er ist wieder im Assessor durchgefallen... Ach du liebe Güte, bei dem Tag in einer Boa... Schön hat er wieder gesprochen, der Pastor... Zieht es an Ihrem Platz auch so? Ich miete mir nächstens einen anderen... Und die Orgel, ich bitte Sie, die Orgel, ist sie nicht eigentlich das Schönste am Gottesdienst?... Nun muß ich aber fort. Meiner Anna kann ich fast gar nichts anvertrauen... Und ich meine doch, daß der Konfistorialrat besser spricht..." Fräulein hatte Thca-entdeckt, gerade beim Eingang in die Konditorei. Sie erzählte von dem Besuch, der sie zu Hause erwartete. „Au fein," sagte Gerda,„da gibt es bald eine Verlobung! Aber können Sie nicht sagen, Sie hätten uns nicht getroffen? Er kann doch warten!" „Nein," entschied Thea nach kurzem Nachdenken.„Da hilft alles nichts. Mama weint sonst. Und Papa ist ja auch zu Hanse . Addio." „Adieu, Kleines. Und ich komme nachmittags und frage nach. Ich bin riesig gespannt." Als sie durch das Grüne Tor auf die Langebrücke ein- bogen, sagte Thea:„Wissen Sie, wie die Schüler den Henning immer nennen? Das Marzipanschwein. Da werde ich also—" Fräulein blieb stehen. „Ja, aber Fräulein Thea, wenn Sie so von ihm denken, nehmen Sie ihn doch nicht!" „Das wird nicht allein von mir abhängen, fürchte ich,"
„Von wem denn sonst?" „Sie kennen Papa und die Familie noch immer nicht." Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Plötzlich, kurz vor dem Hause Görke, sagte Thea:„Wollen Sie ihn nicht lieber nehmen, Fräulein?" Und sie lachte über Fräuleins verdutztes Gesicht so hell, daß sich die Spaziergänger umdrehten. Die glückliche Braut. Fräulein ging zu den Verwandten ringsum in der Stadt. Julius Görke hielt darauf, daß die Familie sprach, bevor die Heirat zustande kam. „Die Familie" war das Ding an sich im Görkeschen Hause. Der Oberlehrer, der diesen Gefühlen wenig verständnisvoll gegenüberstand, sprach in Anlehnung an das Friderizionifche � Wort vom„Racker Familie". Hätte man Görke gefragt, wer denn eigentlich„die Fa« milie" sei, hätte er seinen Stammbaum mit den vielen Tafeln gezeigt oder die in der Stadt wohnenden Verwandten aufge» zählt. Wäre er ehrlich— auch gegen sich selber— gewesen, hätte er nur auf sich deuten dürfen. In ihm kristallisierte sich die FamiNe. Der Görkesche Familienbegriff war ein abso- lutistischer Begriff. Bisweilen fühlte er dunkel, wie töricht und abwegig dies alles war, dies Suchen nach verstorbenen oder irgendwie noch auffindbaren Görkes und deren Seitenlinien. Denn die Görkes waren allezeit robuste Prosamenschen gewesen; sie hätten ge- lacht, wenn man ihnen vorgeschlagen hätte. Handschriftliches für die einstige Familiengeschichte aufzuzeichnen. Vielleicht war es auch noch gar nicht so lange her, daß sie— schreiben konnten. Jedenfalls war es keinem geglückt, durch absonderliche Heldentat, verzwickt-geschicktes Diplomatisieren oder sonstwie berühmt zu werden: ihre Namen waren in dem großen, dunklen Strom versunken, in dem die Müllers oder Kunzes versinken. Nur einen hatte der Scheinwerfer der Zeitgesckichte für einen Augenblick grell beleuchtet: einen Joachim Görke, der eines Münzfälschungsversuchs bezichtigt und eine Weile einge» sperrt gewesen war, ehe man ihn laufen ließ,— und gerade den unterschlug Görke in der Familientafel... Fräulein ging leichten Schritts und wohlgemut. Der Wind war lau und voll Blütenduft. Gassenjungen saßen an den Rinnsteinen und warfen Blechstückchen an. die Häuser: sie „panschten" und schrien wie losgelassene junge Hunde. (Forts, folgt.)