Nr. 449 ♦ 38. Jahrgang
2. Heilage des Vorwärts
Freitag, SZ. September 192t
Di« Wohuungsnot ist auch im verflossenen Jahr in der neuen Gemeinde Berlin nicht geringer geworden. Hat doch die Zahl der Wohnungsuchenden für Verlin 80 000— 100 000 ermchtl Verursacht ist dies« hohe Zahl durch das Ruhen fast jeder Neubautätigkeit, sowie durch den starten Zuzug von Beamten und Flüchtlingen aus den besetzten oder abgetretenen Gebieten. In den Außenbezirken versuchte man durch Ausbau von Dachgc- schoflen zu Wohnungen mehr Wohngelegenheit zu schaffen. Aber auch diese Tätigkeit mußte bald eingestellt werden, weil die notwendigen Mittel nicht vorhanden waren. Die geringen Mittel, die der Siedlungsdeputation zur Verfügung standen, reichten auch im entferntesten nicht aus, den Wünschen der Siedlungsgenoflenschaften und der Einzelsiedler gerecht zu werden. Insgesamt lagen der Siedlungsdeputation von Genoflenfchaften rund 10 000 Anträge auf Bezufchuflung neuer Wohnungen vor, und dazu kamen 1000 Anträge von Einzelsiedlern. Wenn man bedenkt, daß die Wohnung eines Siedlers in einer Größe von durchschnittlich 70<zm bewohnter Fläche mit einem bescheidenen Gärtchen von 150— 400 qrn dem Baulustigen eine Zinsenlast auferlegt, die das Dreifache der üblichen Miete ausmacht, so ist hieran am besten zu ermessen, wie groß die Wohnungsnot unter der erwerbstätigen Be- völkerung ist. Aufgabe der Stadtverordnetenversammlung muß es sein, mit aller Kraft die Siedlertätigkeit zu fördern und nicht nur durch Barunter st ützung, sondern vor allem durch eine ausgebaute Gemeinwirtschaft in der Er- zeugung und Verteilung der Bau st off e. Dem Wucher mit Laustoffen muß mit aller Kraft entgegengetreten werden. Hierzu ist es unbedingt notwendig, daß sich die Stadt in den Besitz von Ziegeleien, Holzschneidemühlen, Kalkbrennereien, sowie aller Be- triebe setzt, die zur Baustoffversorgung erforderlich sind. Nur so wird es möglich fem, die Siedlertätigkeit zu fördern und unerschwingliche Lasten, die den Siedler im Laufe der Jahre erdrücken und ihm die Lust nehmen, von ihm fernzuhalten. Einen Anfang hierzu haben die sozialistischen Par» teien in Gemeinschaft mit der Berliner Gewerkschafts- k o m m i f f i o n bereits gemacht, indem sie der S t a d t v e r o r d- netenversammlung ein ausführliches Programm über die Förderung der Bautätigkeit und über die planmäßige Eigenwirtschaft im Baugewerbe vor- legten. Die Stadverordnetenversammlung hat dieses Programm gegen die Stimmen der bürgerlichen Parteien zum Beschluß erhoben. Die Stadtverordnetenversammlung wird nun dafür zu sorgen haben, daß dieses Programm auch recht bald in die Tat um- gesetzt wird. Weiter hat die Mehrheit der Stadverordnetenversammlung be- schlössen, dem gesamten Wohn- und Siedlungswesen einen Leiter zu geben. Von der Tätigkeit dieses Leiters, der natürlich sich freimachen muß von der bisherigen Wirtschaft im Bauwesen und ein nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit dem Herzen begeisterter Vertreter der Eigenwirtschaft sein muß, wird vieles zu hoffen sein, wenn ihm eine vorwärtsdrängende sozialistische Mehrheit zur Seite steht. Leider sind die führenden Städtebauer Deutschlands so vom kapitalistischen Wesen durchdrungen, daß es schwer hält, den geeigneten Mann zu finden. Wir hoffen aber, daß uns auch das gelingen wird Die notwendigen Mittel müssen aufgebracht werden. Das kann geschehen durch Besteuerung des Wohnungsluxus, der auch heute noch, speziell im Westen Berlins und in den wcst- lichen Vororten, von einem großen Teil der Einwohner getrieben wird, oder durch die Besteuerung der alten Wohnungen oder durch erhebliche Züsch üsse, die Reich und Staat in weit größerem Maße als bisher der Gemeinde zur Verfügung stellen müssen. Mit den geringen Mitteln, die im laufenden Jahre(bewilligt wurden vom Staat 30 Millionen, von der Gemeinde 34 Millionen, zusammen 04 Millionen) zur Verfügung standen, konnten insgesamt 2200 neue
Wohnungen bezuschußt werden. Das ist bei der großen Zahl fehlender Wohnungen fast noch weniger als der bekannte Tropfen auf den heißen Stein. Die bürgerlichen Parteien vertreten in der Stadtverordnetenver- sammlung die Interessen der Hausbesitzer, mithin ist für Besserung des Wohnungselends von ihnen nichts zu erwarten. Deshalb wird es Aufgabe der erwerbstätigen Bevölkerung Berlins sein, am Wahltage restlos ihre Stimme den Kan- didaten der Sozialdemokratischen Partei zu geben. Nur diese sind fest entschlossen, mit allen Mitteln die Mahnahmen gegen die Wohnungsnot im Interesse der Minderbemittellen zu fördern und die bestehenden Schwierigkeiten zu beheben. Deshalb, arbeitendes Volk von Berlin , Männer und Frauen, am Wahltage die Augen auf!_ Czeminski. Gesinöebesuch im Junkerjchloß. Wie ein preußischer Junker sein„Gesinde"' und dessen Ange- hörige behandeln zu dürfen meint, zeigt ein Erlebnis, das eins Ein- wohnerin von Charlottenburg auf einem in der Gegend von Küstrin belegenen Gut C h a r l o t t e n h o f bei der Familie von Klitzing hatte. Die Frau wollte ihre dort als Küchenmädchen beschäftigte Tochter besuchen, fragte brieflich bei Frau von Klitzing an, erhielt von ihr brieflich eine zustimmende Antwort und meldete dann in einem zweiten Brief ihren Besuch an. Nachdem sie die Eisenbahnfahrt bis zu der für Eharlottenhof in Betracht kommenden Station Vietz (Ostbahn) gemacht hatte, meldete sie von dort aus nochmals ihren Besuch durch Telephon an und fragte, ob sie vielleicht mit einem Wagen abgeholt werden könnte. Da das verneint wurde, so mußte die Frau, die seit 18 Iahren an einer Lähmung leidet und sich nur mühsam fortbewegen kann, den andertbalb Stunden langen Weg zu Fuß machen, wozu sie ziemlich vier Stunden brauchte. In Char- lottenhof endlich angelangt, hatte die Ermüdete kaum ein« kurze Unterredung mit ihrer Tochter gehabt, als ein Diener mit der Rteldung kam, er fei von Herrn von Klitzing beaustragt, ihr zu sagen, daß sie sofort das Schloß verlassen solle.„Berliner Weiber, die nur zum Stehlen herkommen, duldet der Herr in seinem Hause nicht!" fügte der Diener hinzu. Den Hinweis der bestürzten Frau auf die schriftliche Erlaubnis der Frau von Klitzing beachtete der Diener nicht, und Frau von Klitzing selber, die jetzt erschien, wollte zunächst überhaupt bestreiten, eine solche Erlaubnis gegeben zu haben. Auch sie sagte der Mutter des Küchenmädchens, der Herr dulde sie hier nicht, sie müsse daher sofort das Schloß ver- lassen. Nebenbei bemerkt: der Herr von Klitzing ist ein sehr frommer Mann, der täglich mit seinem„Gesinde" eine Morgenandacht abhält und dabei selber predigt. Erst als die Mutter auf ihre Erschöpfung hinwies, bewilligte ihr die Dame einen Aufenthalt bis zum anderen Morgen und versprach auch einen Wagen zur Fahrt nach dem Bahn- Hof. Jetzt aber erklärte die Tochter, sie wolle nach dem ihrer Mutter bereiteten Empfang nicht länger in dieser Stellung bleiben. Sie erhielt dann auch sofort die gewünschte Entlassung, doch wieder mit der Zusicherung, daß Muttek und Tochter noch bis zum anderen Morgen bleiben dürften. Nachher kam aber der Diener des Herrn von Klitzing nochmals und forderte unter Drohungen die Mutter erneut auf, sofort das Schloß zu verlassen. Mutter und Tochter kehrten darauf der ungastlichen Stätte den Rücken— und mit geschwollenen Füßen machte die Mutter, unter- stützt von der Tochter, zum zweiten Male an diesem Tage den weiten Weg nach dem Bahnhof. Als die beiden dort«intrafen, war der letzte Zug nach Berlin soeben abgefahren, so daß sie die Nacht unter freiem Himmel vor dem Bahnhofsgebäude zubringen mußten und erst morgens um%3 Uhr abfahren konnten. Totmüde und krank traf die Mutter mit der Tochter in Charlottenburg ein. Diese Schilderung stützt sich auf eine von dem Ehemann uns übersandte schriftliche Darstellung, sowie auf ergänzende mündlich« Mitteilungen, die wir von der Mutter und ihrer Tochter in persön» sicher Unteredung erhalten haben. Wir verstehen die Entrüstung der Familie über die Behandlung, die der Mutter bei ihrem Besuch in dem Iunkerschloß widerfahren ist. Aber mst dem. was die Frau dort zu erdulden hatte, war ihr Leidenskelch noch nicht geleert.
24 Stunden nach ihrer Ankunft in Charlottcnburg, als sie sich von den ausgestandenen Strapazen noch nicht erholt hatte, erhielt sie in ihrer Wohnung den Besuch eines— Kriminalbeamten. Zu ihrer Ueberraschung und Bestürzung wurde ihr gesagt, daß im Klitzingschen Schloß silberne Löffel gestohlen worden seien, nach denen nun bei ihr gesucht werden solle. Der Beamte führte die Durch- suchung mit aller Gründlichkeit aus und mußte schließlich erliären: „Ich sehe, Sie haben nichts." Die von den Klitzings in dieser Weise verdächtigte Familie ist mit Recht empört und verlangt Genugtuung. Wir glauben aber, daß der Herr von Klitzing sich kaum über die Affäre groß aufregen wird. Ein Junker ist nicht gewöhnt, mit seinem„Gesinde" oder dessen Angehörigen in solchen Dingen viele Umstände zu machen._ Die verhängnisvolle Sanlebrnft. Billeneinbrüche in Hohen-Neuendorf fielen dem Kinooorführcr Ernst Böhm zur Last, der sich wegen schweren Diebstahls vor der 5. Strafkammer des Landgerichts III zu verantworten hatte. Der Handelsschullehrer R., der eine Billa in Hohen-Neuendorf besitzt, wachte eines Nachts durch ein Geräusch auf, das aus dem Speise- zimmer zu ihm drang. Als er dieses betrat, sah er sich bei dem Aufleuchten einer Blendlaterne einem schwarzmaskierten Kerl gegen- über, der ihm einen Revolver vorhielt und ihn so zwang, ruhig zu- zusehen, wie der Einbrecher, der sich augenscheinlich schon an den Borräten der Speisekammer gütlich getan hatte, die schon zusammen- gepackten Silbersachen an sich nahm und damit verschwand. Ein zweiter Einbruch wurde hei dem Hotelbesitzer Mufiol aus- geführt, dem Kleidungsstücke, Wäsche und verschiedene andere Gegen- stände gestohlen wurden. In einer der nächsten Nächte bot Böhm in dem Herrn Mufiol gehörigen Cafe Luxemburg einem Kellner zum Pfände Sachen an, die dieser sofort als das Eigentum Mufiols erkannte. Böhm wurde infolgedessen in Haft genommen und sollte mit einem D-Zug abtransportiert werden. Unterwegs suchte er in dem Zuge den Abort auf, es gelang ihm, sich durch das Fenster zu zwängen, er erreichte das Trittbrett des Wagens, legte sich zu- nächst auf dieses und ließ sich dann von dem in voller Fahrt be- kindlichen Zuge hinab- und die Böschung hinunterrollen. Er wurde aber wieder ergriffen und aufs neue in Haft genommen. Bor Gericht bestritt er, der maskierte Mensch gewesen zu sein. der den ersten Einbruch ausgeführt hatte. Sein Pech war aber, daß er in jener Nacht an Ort und Stelle einen großen Teil einer besonders fetten Gänsebrust, die ihm als Beute anheimgefallen war. verzehrt hatte und dann mit feinen fettigen Fingern die Be- hältniffe durchkramt und deutliche Spuren feiner unliebsamen An- Wesenheit zurückgelassen hatte. Diese Fingerabdrücke wurden ihm zum Verhängnis, denn mit Hilfe der Daktyloskopie konnte völlig einwandfrei nachgewiesen werden, daß er der Täter war.— Das Gericht verurteilte den gefährlichen und tollkühnen Menschen zu 4 Iahren Gefängnis._ Grostmann, der„Zickenkarl". Der Lustmörder Großmann wurde gestern von der Kriminal» Polizei dem Untersuchungsrichter Dr. Böhmer übergeben, der nun- mehr die Untersuchung weiterführt. Großmann ist dreier Morde überführt und geständig: an den Mädchen Nitsche, Sosnoai-t: und der polnischen„Martha". Di« Perfönlichteit dieses dritten Opfers ist noch immer nicht festgestellt. In vier weiteren Fällen der gleichen Art ist Großmann des Mordes dringend verdächtig. Wahrscheinlich fallen ihm aber noch eine ganze Reihe weiterer Beseitigungen von Mädchen zur Last, die vermißt werden, von denen aber bisher noch keine Spuren gefunden sind. Nachdem er fein gutes Leben hat aufgeben müssen, ist er körperlich nach und nach zusammengebrochen geistig dagegen immer noch sehr rege. Sein Verteidiger Nechtschi- walt Dr. Frey hat beantragt, ihn auf seinen Geisteszustand unter- suchen zu lassen. Großmann hat von seinen S8 Lebensjahren nicht weniger als 24 im Gefängnis und Zuchthaus zugebracht, immer wegen Sittlichkeitsverbrechen und widernatürlicher Unzucht, die ihm in seinen Kreisen den Spitznamen„Zickenkorl" einbrachten.
Die neuen Briketts- und KokSpreise. Das Kohlenamt teilt mit: Infolge der Erhöhung der Erzeuger- preise für Briketts und Koks aller Art, die teilweise vom 1. Tep- temher d. I. zurückdotiert, sieht sich der Magistrat Berlin genötigt, im Ausmaß dieser Erhöhung die Preise für Briketts und Koks für das Gebiet der Stadtgemeinde Berlin wie folgt festzusetzen: Preise für Küchen- und Ofenbrand: 1. Briketts ab Lager 18,05 Mark, frei Keller 19,05 M., 2. Koks, Gaskots gebrochen ab Lager 28,05 M., frei Keller 29,65 M. Preise für Brikett- und Kokslieferungen an das Kleingewerbe sowie für Zentralheizungs- und Warmwasserbereitungsanlagen in
Aräulem.
10] Bon Paul E n d e r l i n g. Copyright, W20, by J. 0. Couasche Buchhandlung Nachf. Stuttgart u. Berlin Ms alles vorüber war— das Gratulieren, der Sekt, der gerührte Abschied—, saßen Fräulein, Thea und der Oberlehrer noch ein Weilchen in Theas Zimmer beisammen. „Wer teilt es dem Glücklichen nur morgen mit?" Er meinte Henning.„Darf ich es fein?" „Wenn du willst, Onkel." „Morgen von acht bis neun habe ich in der Sekunda Deutsch. Da lasse ick einen Klassenaufsatz schreiben. Nun, worüber wohl?" Er sah die beiden jungen Mädchen lächelnd an. Fräulein wollte sagen:„Drum prüfe, wer sich ewig bindet," aber sie brachte es nicht heraus. Sie wußte selbst nicht, warum. Thea lachte. Der Sekt, dem sie eifriger als die anderen zugesprochen hatte, machte sich doch bemerkbar.„Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei---—. Laß deine Bengels darüber schreiben!" „Gut. Auf deine Verantwortung. Und um neun Uhr treffe ich im Lehrerzimmer Herrn Doktor Henning und werde ihm ins Ohr raunen, daß wir demnächst Brüderschaft machen müssen. Und ich wette, er wird alle unregelmäßigen Verba auf mi vergessen vor freudigem Schreck." Er trat auf seine Nichte zu und hielt ihren Kopf mit beiden Händen.„Thea, weißt du, Barbarenkind, was Thea auf deutsch heißt?" „Du hast mir's mal gesagt: die Göttin." „Ja. und weißt du, was die Haupteigenschast der Götter ist?" „Sag, Onkel Otto." „Sie schenken, mein Kind! Sie spenden aus ewig offenen Händen. Das ist das Göttliche an ihnen, und darum sind sie auch so froh und so voll Glücksgefühl zu jedem Swndsnschlag. Merk dir"», Thea, du junge Göttin!" In Theas Stirn zog sich eine kleine Falte.„Ach, Onkel Otto, ich fühle mich weder jung noch göttlich." Sein Blick wurde ängstlich: aber er bezwang sich.„Wie glücklich du bist, Kind."
„Ich? Fräulein, glauben Sie, daß ich sehr glücklich bin?" Fräulein seufzte. Es war schwer, darauf zu antworten. „Wie glücklich du bist." sagte der Oberlehrer noch einmal. „Du hast einen Menschen, dem du geben und geben kannst. Du weißt einen Menschen, den du mit jedem Händedruck, mit jedem warmen Wort glücklich machen kannst. Werde nur nicht übermütig, mein Kind!" „Onkel Otto, du verstehst dein Handwerk." „Mein Handwerk?" „Ach, du weißt schon, was ich sagen will. Onkel, ich glaube, du bist einmal ein schlimmer Verführer gewesen." Sie drohte mit dem Finger und lachte eine Tonleiter hinauf und eine hinunter. Fräulein war rot geworden.„Aber Fräulein Thea!" „Er soll gestehen, er soll gestehen." „Das ist keine Unterhaltung nachts um die zwölfte Stunde für junge Mädel—" „Der Oberlehrer! Der Verführer!" „Habe ich dich nun auch verführt, Kind? Gott sei gedankt. Und gute Nacht!" Er küßte Thea und gab Fräulein die Hand. „Ist er nicht herrlich?" fragte Fräulein, als sie allein waren.„Ist es nicht seltsam, daß er unverheiratet ge- blieben ist?" „Vielleicht ist er gerade deshalb so fein." sagte Thea.„Ich glaube entschieden, daß die Ehe den Charakter verdirbt." Sie stand am Fenster. Das Zimmer lag an der Straßen- front des Hauses. Man sah im aufsteigenden Mondlicht, das schwer gegen den Dunst ankämpfte, Giebel und Türme. „Wo ist von hier aus eigentlich die Hundegasse, Fräulein? Da wohnt Henning." Fräulein wies hinüber. „Ob er noch wach ist?" „Sicher." Thea sah eine Welle in die Richtung hinüber.„Der arme Kerl," sagte sie endlich leise. „Thea!" Sie umarmten sich. Thea hatte tief den Kopf gesenkt. Fräulein sah traurig auf sie hin. Bon ferne klang das klagende Geheul eines Nebelhorns. Das warnte Verirrte und wies ihnen den Weg. War hier nicht auch ein verirrtes Menschenkind, das den Weg nicht wußte? Der Oberlehrer
hatte es wohl gefühlt und versucht, ihr einen Weg zu weisen. Würde sie ihn gehen wollen und können? Fräulein fühlte etwas wie eine schwere Verantwortung, für Thea, fast etwas Mütterliches, obwohl sie jünger als sie war, und fast hätte sie es ihr gesagt. Da löste sich Thea aus der Umarmung.„Ja, nun bin ich also eine glückliche Braut," sagte sie lachend.„Gute Nacht!" Sibylle. Wenn Fräulein dem jungen Werner bei den Schularbeiten geholfen hatte, war im Eörkeschen Hause noch allerlei zu tun. Dies Allerlei beanspruchte Fräuleins ganze übrige Zeit. Bor allem war da ein Berg eingerissener Wäschestücke und Strümpfe, die gestopft und ausgebessert werden sollten. Das vorige Fräulein war nie dazu gekommen. Die jungen Mädchen kamen zu Thea zu Besuch. Sie saßen dann alle in der großen Wohnstube. Die Studenten der Hochschule würden sich diesmal im Juli am Zoppoter Badefest beteiligen. Es würde einen Wasserkorso geben, und ein Sommerball war im Deutschen Haus. Und zum Winter ach. im fernen Winter— würde man ein Eisfest arrangieren. Und die Frühlingskleider— sollten sie pfauenblou oder hellviolett sein? Und die Hüte— klein und fröhlich bunt? In der Langgasse waren Auslagen, rein zum Verlieben! Und der junge Schmitz war im Examen. Ob er dann wohl— hihi— um Martha anhalten würde? Oder um dich, Gerda? Was hältst du von seiner Glatze? Hihi. Nein es war zu komisch. Und sie stießen sich in die Seiten und lachten, daß ihnen die Tränen aus den Augen kamen. Fräulein nähte und stopfte. Sie hörte das alles an wie aus weiter Ferne, oder wie sie auf der Bühne helle, fröhliche Begebenheiten gesehen hätte: Das ist lustig, aber es geht mich nichts an. es ist nicht mein Geschick. Die jungen Mädchen wallten spazierengehen. Durch die große Allee und zurück in Jahrs Konditorei. „Thea, dein Bräutigam wird's schon erlauben, wie?" Sie gingen, Arm in Arm.„Wollen Sie nicht mit, Fräulein?" Frau Görke kam hinzu.„Ja gehen Sie doch, Fräulein, Sie sind so blaß. Das Gehen wird Ihnen gut tun." „Aber das Diktat muß noch durchgesehen werden." (Forts, folgt.)