Hr. 465 ♦ 3$. Jahrgang
2. Seilage des vorwärts
Ssnntaa, 2» Oktober 1H21
Wie öas Herlins? Gas entsteht.
Die erste Gasanstalt. Jede zweite Taslaterne soll nun wieder in Berlin leuchten. Der »rote Magistrat' will der Dunkelheit, durch die Berlin » Strahen fich infolge der Kriegsnöte auszeichneten, steuern.. Die Sicherheit wird im nächtlichen Berlin wisÄer wachsen, choffen wir, dasj es den Ruf der Lichtstadt, den e» früher mit Recht genoß, in abseh» barer Zeit zurückerobert. Die erste Gasanstalt wurde w Berlin in der Gitschiner Straße durch die englische»Imperial Continental Gas Association ' errichtet, und als die Gasflammen am IS. September 1826 zum ersten Male»Unter den Linden ' brannten, entlockte dies einer Berliner Zeitung folgende begeisterte Schilde» rung:»Gestern oi-end fahen wir zum erstenmal die schönste Straße der Hauptstadt, die zugleich unser angenehmster Spaziergang ist, im hellsten Schimmer der Gasbeleuchtung. Eine große Meng» Reu- gieriger war durch dieses Schauspiel herbeigelockt worden, und alle schienen überrascht; denn heller hoben wir selbst bei glänzender Illumination die Linden nicht gesehen. Nicht in dürftigen Flamm- chen, sondern in handbreiten Strömen schießt da« blendende Licht hervor, das so rein ist, daß man in einer Entfernung von 20 bis 25 Schritten von den größerin Laternen einen Brief recht gut lesen konnte. Einige Privathäuscr haben schon Gebrauch von der Gas- beleuchtung gemacht; vor dem 5)otel de Rome stehen zwei helle Fackelträger und vor BeUumanns Eafi Royal hängt ein Feuer- zeichen wie auf einem Leuchtturm, so daß man den Hafen nicht verfehlen kann. Bald werden auch die anderen Hauptstraßen auf die gleiche Welse erleuchtet werden, und Berlin , da» wegen seine» erfreulichen Eindruckes, den es am Tage macht, berühmt ist, wird auch bei Nachtzeit den Fremden angenehm überraschen.'— Die englische Gasgesellschaft hatte sich dl» Beleuchtung der öffentlichen Straßen und Plätze»innerhalb der Ringmauern' auf 21 Jahre gesichert und mußte dazu bereits 1883 ein zweites Gas- werk errichten. Im Jahre 1817, und zwar pünktlich am 1. Januar nahm Berlin zwei eigene Gaswerk» in Betrieb, um die übrigen Stadttelle mit Gas zu versehen. Bereits zu Anfang des IS. Jahrhunderts war die Gasbeleuchtung in einer Reihe von Fabriken durchgeführt, und es ist bemerkenswert, aus damaligen Berichten festzustellen, daß die erste Folg« dieser Neuerung— dir Derlänge- rung der Arbeitszeit war. Wenn man nun bedenkt, daß das in diese» Fabriken zur Verwendung gelangende Ga» mit ollen schäd- lichen Verunreinigungen, über die später noch«tnize, gesagt wird. behaftet war. so kann man sich vorstellen, welch widerlicher Aufent- Haltsort diese Fabrikräume waren, in denen freibrennend« Flammen einm ekekhoften Geruch verbreiteten, der auch auf die Atmungs- organe höchst unschädlich einwirkte. Für die verachteten Fabrikarbeiter war eben alles gut genug, und machtlos, wie sie waren, mußten sie diese Mißstände ertragen. Durch spätere Erfindungen sind diese Uebelstände nach und nach beseitigt worden und auch die über- menschstlh lange Arbeitezeit ist nach harten Kämpfen dem Acht- stundentog gewichen. 3m Gaswerk. .Gasometer ' nennt der Berliner die für jede Gasanstalt so über- aus bezeichnenden Gasbehälter, die mit dem Messen des Gases gar nichts zu Km haben und lediglich zum Aufbewahren der erzeugten Mengen dienen. So falsch wie dies« Bezeichnung ist auch die Vorstellung, die die meisten von dem Wesen der Gaserzeugung haben, die nun auf ein« Geschichte von mebr al» hundert Jahren zurückblicken kann. Der Rohstoff für die Gaserzeugung sind die als Gas kohlen bezeichneten Steinkohlen, deren reichliche Beschaffung heute mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist. Auch die Lagerung der in Berlin benötigten Riesenmengen ist nicht ganz einfach, denn die Kohle hat die unangenehme Eigenschaft, sich an der Lust zu zersetzen, so daß der Gasgehalt erheblich zurückgeht, gltichzeltig aber tritt eine Selbsterwärmung auf, die zur Selbst- entzündung führen kann. Im Tegeler Gaswerk ist zur Lagerung der Kohle ein Riesenschuppen erbaut, der so eingerichtet ist, daß er im Falle eines Brandes sehr schnell entleert werden kann. Der Kohlentraneport wird im Gaswerk durch mechanische Cin>
I richtungen bewerkstelligt. Drehkrane mit Selbstgreifern ! entladen die Kähne und Sine Hängebahn führt die Kohl« in das , Lager. Im Osenhau» wird nun das Ga» erzeugt. Ein Gasofen ist im Prinzip nichts weiter als ein mit Steinkohle gefüllter Tiegel, der aus mehr als 1000 Grad erhitzt wird und aus dem man das Gas durch ein Rohr abziehen läßt, um es dann der weiteren Verarbeitung zuzuführen. Jedoch ist die Konstruktion dieser Oefcn, deren Füllung und Entleerung früher eine recht anstrengende und unangenehme Arbeit war, ständig verbessert worden. Im Jahre 1818 wurde in einem Ofenhaus von 1820 Quadratmeter Grundfläche, unter Verwendung von 13 Tonnen Koks al» Heizmaterial, au» 100 Tonnen Kohle 21 000 Kubikmeter Gas erzeugt. Zur Bedienung waren 130 Mann nötig. Mit einem modernen Generatorofen, der nur 375 Quadratmeter BodenflLche, 13 Tonnen Heizkohle und 4 Mann zur Bedienung erfordert, werden aus 100 Tonnen Kohle 35 000 Kubikmeter Gas erzeug', und schon sind unsere Techniker dabei, weitere Vorteile herauszusuchen. Das Im Ofenhaus erzeugte Rohgas muß nun gereinigt werden, sonst würden die Rohrleitungen, Brenner usw. völlig verschmutzen und gänzlich unbrauchbar werden. Di» im Rohgas enthaltenen Dämpfe werden durch Abkühlung niedergeschlagen. Gaswasser und Teer werden dadurch gewonnen, die sich zum Teil schon in der an den Oesen entlang laufenden„Vorlag t", einem breiten wagc- rechten Rohr, sammeln. In besonderen Kühlanlagen wird da» Gas durch Lust und Wasser bis auf 20 Grad Celsius abgekühlt. Durch Waschen mit Wasser oder Eisenvitriollösung wird dem Gase Zyan wasser st off und Ammoniak entzogen. Diese» Waschen besorgen die»W ä s ck e r', große, gußeiserne Zylinder, die in mehrere mit Eisenvitriol gefüllte Kammern geteilt sind und durch die das Gas hindurchstrcicht, während die Flüssigkeit in ständiger Bewegung gehalten wird. Die dem Gase noch anhaftenden schäd- lichen Schwefelverbindungen werden in große? Trocken- r e i n i g e r n entfernt. Das sind eiserne Kästen, die mit Eisenoxyd- Hydrat gefüllt sind, das sich mit den Echwefelbcimengungen des Gases bindet. Jetzt ist das Ga» fertig und kann den Abnehmern oder den großen„Gasometern', den Gasbehältern, zugeführt werden. Nebenproöukte. Außer dem Gas sind sehr wertvolle Nebenprodukte gc° wonnen worden. Zunächst der Kok s, die vom Gas befreite Stein- kohle. Vom Ofenhaus wird er zur K o k s o u f b e r e i t u n g ge- schafft, zerkleinert und gesiebt und kann dann Im Gaswerk selbst wieder Im Qfenhmi» unter den Dampfkesseln usw. Verwendung finden oder verkauft werden. Der Teer wird In Zentrifugen von allen«ässrigen Beimengungen befreit und wandert In die chemischen Fabriken, die au« ihm zahlreiche weitere Stoff« ge- Winnen(z. B. Benzol, Toluol, Naphthalin, Anthrazen usw.), au » denen sich wiederum viel« Stoffe gewinnen lassen, die mit den Wäldern, au» denen sich die Steinkohlenlager gebildet haben, In den Schoß der Erde gesunken sind. Das Gaswasser wird nach einer Destillation in sogenannten Kolonnenapparaten ebenfalls an chemische Fabriken abgegeben, die daraus den bekannten Salmiak- geist sowie Ammoniak und Amwoniaksalze herstellen, die wiederum bei der Sprcngstosscrzeugung, bei der Herstellung von Soda, beim Betrieb der Kältemaschinen Verwendung finden. Niel- fach stellen die Gaswerke auch Slmmvniumsulfht her, da, an die Landwirtschaft al» Stickstoffdünger abgegeben wird. Die R e i- nigungemass, der Irockenrelniger wird zu Schwefel- säur« verarbeitet und R e t o r t e n g r a p h i t, der sich In den Retorten de» Ofenhauses bildet, eignet sich zur Herstellung von Bogenlampenkohlcn. Insgesamt werden in einem modernen Gas- werk aus 1000 Kilogramm Steinkohlen folgende Produkte erzeugt: 800 Kubikmeter Leuchtgas, 700 Kilogramm Koks, 60 Kilogramm Teer. 8 Kilogramm Gaswasser, 8 Kilogramm Zyanschlamm, 8 Kilo- : gramm Schwefel und 2 Kilogramm Graphit. Ein« solche V-rcrbcltung der Kohle ist viel volkswirtschaftlicher . als das einfache verbrennen In Oese» und unter Dampfkesseln, das ! bei der heutigen Wirtschaftslage ganz besonders geradezu eine Vcr- lchwendung darstellt. So werden sich die Gaswerk.' nach lange neben den Elektrizitätswerken behaupten können. Die rastlose Technik wird Ihren Btrieb immer einwandsrctcr gestalten und die Organisationen der Arbeiterschaft werden ihre Macht so zu nutzen verstehen, daß diese Neuerungen nicht, wie e« bei der Einführung der Gasbelsuch- tung geschah, die Lage der Arbeiterschaft verschlechtern, sondern ihr selbst und der Allgemeinheit zugute kommen.
Die Niesmacher von Groß-SerUn. Am Donnerstag hatte eine bürgerliche Partei zehn Gemeinde� wählerversnmmlungcn abgehaltn. Einer der Redner bezeichnete«» alz ein Unglück, baß beispielsweise die Slrmenvcrwaltung, die Fürr sorgepflcge und die Schulverwaltung ein Tummelplatz für Utopisten geworden sei. Die Zustände in der Arbeitslosenverwaltung seien geradezu ungeheuerlich. Die Berliner Schulen, die srühcr Mustern anstalten waren unh von den Fachleuten der ganzen Welt bcwunr dert wurden, kenne heute niemand wieder. Unordnung herrsche auf der ganzen Linie. Der kommunalpoUtische Zusammenbruch der Rcichshauptstadt sei bereits da. Besonders in.Erscheinung getreten sei das Versagen der Parteipolitiker bei der Verwaltung der ftädtfa schon Werke und der Straßenbahn. Man habe Fachleute von Welt<« ruf einfach gehen lassen und durch Politiker ersetzt, die gar nicht in der Lage seien, aus den städtischen Betrieben wieder rentable Unter- nehmungen zu machen. Die reine Gemeindeverwaltung für städtische Betriebe sei ein überlebter Begriff. Der ahnungsvolle Leser wird nun meinen, diese Miesmachereien können in so üppiger Fülle nur dem Munde eines Nechtspartsiler« entströmen. Weit gefehlt. Der Demokrat und ehemalige Ber� liner Stadtrat Loehning war es, der mit breitem Behagen Berlin als sozialistisches Sodom zeichnete, und die übrigen Versammlungen waren gleichfall» von der Deutschen Demokratischen Partei einbe- rufen worden. Herr Loehning war zwar so gnädig zuzugestehen, daß in der gegenwärtigen Verwaltung eine Reihe ehrlicher Männer sähe, die das Bestreben haben, gute Arbeit zu leisten, aber, so meinte er dann, et fehlt ihnen doch die fachliche Bildung. Zum Schluß aber kam eine Ueberraschung, da vertrat Herr Loehning plötzlich den Gedanken eines Blocks der Mitte von der Deutschen Volkspartei bis zu den Mchrheitssozlalisten auch in der Stadtoerordnetenversamm- lung. Die Bürgerschaft müsse am 16. Oktober alles aufbieten, um die Partei der Mitte zu stärken und dadurch die Mehrheitssozialisten aus der Umklammerung von Moskau zu befreien. Die SPD . In der Umklammerung, von Moskau ! Das Bild ist wirtlich einzigartig. Dabeihatsichdie SPD. niemals von Moekau und den Moskito» umklammern lassen. Wohl aber hat die unausgesetzte Aufklärung der SPD . darüber, daß die mostitischen Methoden nicht nach Deutschland ixassen, unzweifelhaft auch zur Beruhigung und Befestigung der kommunalen Ber- Hältnisse in Deutschland wie in Groß-Derlin beigetragen. Unfern Parteigenossen und Slnhängern kann aber nicht eindringlich genug' vor Augen gehalten werden, daß die D rutsch-D em okra ten in Groß-Berlin heute an der Spitze jener stehen, die mit aller Macht bestrebt sind, der Kommune Groß. Berlin ihre kommunalen Betriebe aufzu- lösen und sie In die private Hand zurückzuführen. Alle diese Wünsche und Bestrebungen bedeuten dasselbe, wie wenn man im Reich die Sluflösung der Staatsbahn und ihre Ucberführung In den Privatbesitz fordern würde, was ja In der Tot auch schon ge- schehen ist. Hier gibt e» gar kein Paktieren. Was Gemeinde- besitz und Gemeindebetrieb Ist, bleibt der Ge- m ei n d e. In der Deutsch -Demokratischcn Partei aber sollten sich alle jene Leute, die entschiedene Eoziqlrcformer, Wohnungsreforme� Bodenresormer, Siedler, Genossenschafter sind, setzt ernstlich einmal überlegen, ob sie es vor sich selber und Ihren Familien verantworten., können, wenn sie am 16. Oktober einer Partei ihre Stimme geben wollen, di« in verantwortlichen und einflußreichen Stellen auch heute noch von einem blinden Haß gegen alle gemeinnützigen Wirtschafts. formen, dafür aber von einer inbrünstigen Liebe für den heiligen Privatkopitalismu» b-seelt ist. der Gtrei? im GaftWkrtsAL?>erbe brinot für dos Berliner Publikum leider große Unzuträglichkcsten mit sich, insbesondere für F'emde und Ledige. Die kleineren Lokole werden allerdings weniger �vch den Streik berührt. Jedenfalls dürfen die Unbequemlichkeiten nicht dazu führen, gegen die Streiken- den Partei zu ergreifen. Das Publikum muß zuletzt auf jeden Fall um 10 Proz. höhere Preise zahlen. Es dreht sich darum, daß die Unternehmer Ihr« Angestellten auf diese 10 Proz. verweisen wollen, anstatt ihnen feste Löhne zu zahlen. Die Kellner fordern mit Recht festen Lohn anstatt eine« unbestimmten, tagtäglich schwankenden „Bedlenungzgeldcs'. Eine ganze Anzahl von Betrieben hat den
Aröulein.
m l Bon Paul E n d e r l i n g. capyrtzM, 1820, by J. C, Cottasche ßuchhanllung Nacht, Stuttgart u. Berlin Nie hatte Fräulein so ihre Abhängigkeit gefühlt. Nie hatte sie so deutlich geipußt, daß sie Dienende war, wie in oieser Stunde. Langsam wuchs ein Groll gegen dies» Men- schen in ihr empor. Wer waren sie denn alle, was leisteten sie denn, daß sie sich anmaßen konnten, sie wie ein Kind zu behandeln das keinen Willen mehr hatte? Sie waren in den Reichtum hineingeboren— das war alles. Dafür kauften sie ihre Sprachkenntniss«, ihre Armtraft— das war nicht viel—, ihre Geschicklichkeit im Nähen, im Kochen. Nein, sie tauften mehr: sie kauften ihre Stimmung, ihren Leib und ihre Seele. Sie konnte sich nicht ausruhen. wenn sie wollte. Sie konnte nicht bei einer begonnenen Ar- beit bleiben. Ein Ruf genügte, sie irgendwo anders hinzu- schicken. Gewiß, man brauchte keine Gewalt, aber man hatte stärkere Waffen. Man wußte: sie war ein junges Mädchen aus guter Familie, von guter Erziehung.—»s genügte ja ein in sanftem Ton gegebener Befehl, der aber doch immer ein Befehl war und keine Widerred» erlaubte. Und da sie ein junges Mädchen von guter Erziehung war. war sie auch viel* wehrloser als alle dje kräftigen, robusten Dienstmädchen, die � im Görkefchen Haus« aus und ein gingen. Di« hatten ihr«, freien Stunden und wurden grob, wenn ihnen etwa» gegen den Strich ging, und kündigten oder gingen einfach fort. Sie kamen überall unter. Und das»Verändern' hatte keine Schrecken für sie. Ost hatte Fräulein sich über sie geärgert; heute begann sie sie zu beneiden. Wie armselig und jämmerlich steht doch so ein junges Mädchen da, empfand sie; und sie begann zum erstenmal darüber nachzudenken, ob da» so sein müsse und ob ihre Eltern nicht besser getan hätten, wenn sie... Ach, das war olles müß>g. Sie batte nichts Bestimmtes gelernt, keinen Beruf, kein Handwerk, kein Studium. Sie hatte von allem ein bizchen gelernt, ein bißchen Sprachen, ein bißchen Handarbelt, ein bißchen Kochen, ein bißchen Musik, von allem ein bißchen.— Sie selber war nur»ein bißchen'. Sie war Fräulein,,, Und während sie die klein« Eva das
Bauen mit einem Holzbaukasten lehrte und gleich darauf dem Mädchen beim Spargelputzen half und darauf Frau Franziüs einen Knopf an einen Handschuh nähte, ließ sie der Gedanke nicht los, daß sie nur»Fräulein" war, daß sie ja keinen Namen hatte und daß sie eigentlich schlimmer als Papagei und Hund daran war. Lothar Franzius würde fortfahren und nicht einmal wissen, wie sie hieß. Wie erbärmlich war das alles! Wie dumm war das Leben... *** Lothar Franzius ging in der stillen Fleischergasse auf und ab. Die Männer, saßen jetzt in den Bureaus, Kontors oder sonstwo, die Frauen bei der Kzausarbeit, und zum Ber- gnügen ging keiner, der Zeit hatte in dieser verlassenen Straße spazieren. Auf einem Fensterblech lag eine fette Katze und ließ sich ihren schwarzen Rücken von der Sonne wärmen. Lothar Franzius, der Katzen liebte, trat zu ihr, streichelte über das weiche, warme Fell und kraute sie am Kopf über den schmalen, seltsam zusammengekniffenen Augen, die wie grüngelbe Glas- stücke im Fell saßen. Sie schnurrt« wohlig und dehnte und streckte sich, soweit es ihre Trägheit erlaubte. Der Himmel wer wundervoll blau. Nur«in paar yer- lorene weiße Wölkchen daran wie Wattebäusche. Am Ende der Straße stand»in alter vergessener Wartturm, der Trupf- türm, viereckig, schmucklos, mit grauaelbem Anstrich. Davor ein dunkelgrüner Kastanienbaum mit prachtvoller weitaus- ladender Krone. Bon irgendwoher klang das»Täterätä, Täterätä' aus Trompeten. Die Soldaten übten wohl in der Kaserne auf dem Wiebenplatz oder aus den grünen Wällen, deren Eni- fernung man plante. Es klang grell, disharmonisch in die Stille de» Sommertages. Er ging wieder zurück, dem Museum zu. Da» Museum war nach alten Plänen stilgerecht wieder aufgebaut. Es war einer der seltensten Fälle hier in. der alten Stadt, die nie Geld genug gehabt hatte, um sich durch Restaurierungen zu ver- häßlichen. Gotische Zinnen und Fenster und Bogen— ja, ja, es war alles richtig: innen die Kreuzgänge, der Remter mit seiner Palmendecke, die stellen Fenster mit dem schönen Maßwerk, der Kreuzgang, der Klosterhof— ja, ja, alles war da. Aber da» Beste hatte der Geheime Berurat, der«» nach-
baute, nicht schassen können: die Erinnerung an die Jahr- hunderte, den leichten Modergeruch in alten Hallen und Gängen, der etwas vom Duft sterbender Veilchen hat. Es war kein Zweifel: sie kam nicht. Es war Unsinn von ihm gewesen, sie hierher zu bestellen. Was kannte sie denn von ihm, daß er sie zu einem Stelldichein einlud? Und war sie nicht abhängig von allen möglichen, unmöglichen Leuten? Hermann würde sagen, sie liege in Ketten. Al» e»«ls schlug, öffnet« sich die schwere Eisentüre, von der ein paar Steinstufen zum Borgarten führten. Er trat ein. Früher war unten«in wüstes Tohuwabohu gewesen. Bei seinem ersten Besuch hier batte er erschreckende Dinge gesehen: in wildem Durcheinander Statuen Schopenhauers und Chodo- wieckis. der beiden großen Söhne der Stadt, Büsten der Königin Luise , des alten Ftitz und des Astronomen Hevelius, lebensgroße Gipsabgüsse von Hochmeisterstatuen mit Namen und Jahreszahl ihrer Regentschaft, Michel Angelos Pieta und Moses . Und dazwischen Büsten unbekannter Größen, die ausführliche Lorbeerkränze um ihre schmalen Stirnen trugen. Jetzt waren ordnende Hände am Werk, sichteten, merzten aus und stellten Vergessenes ans Licht. Schnell ging er in den oberen Stock. Da oben hatte er noch das Gefühl, sie könnte inzwischen gekommen sein und jeden Augenblick hier oben auftauchen. Unten wEx das Warten zu unerträglich. Aber bald schämte sich Lothar Fran- zius seines Selbstbetruges. Er ließ dl« alten Niederländer, die ibn sonst entzückten, und ging wieder hinunter, durch den Borgarten auf die Fleischergasse. Ain besten war es, zu Görkes zu gehen. Es blieb wohl kein anderer Ausweg'. Als er die Langgasse überquerte, sah er Hermann Görke . Er stand unbekümmert um die Menschen, die an ihm vorbei- trömten, ihn anstießen und anlachten, und studierte eifrig die 5assade eines gegenüberliegenden alten Patrizierhauses, das n schönem Ebenmaß aufstieg und bis zum Giebel mit Stein- kulpturen bedeckt war.»1563' stand am Giebel. Hermann tand verträumt da, ahnungslos über die Störung des Straßenverkehrs, die er bildete, versiebt bis über beide Ohren in die reichen, üppigen, schönen Formen dieser Steingirlanden. dieser nackten Gestalten, dieser edlen Renaissanceornamente, die dort prunkten. (Forts, folgt)